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2.2.3 Die genetische Beratung

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Ziel genetischer Aufklärung ist es, Bürger darin anzuleiten, Forschungsergebnisse aus dem Genlabor zur Grundlage ihres Denkens und Handelns zu machen. Sie sollen einsehen, dass DNA-Aufbau, Mendelsche Regeln und Risikokalkulationen nicht nur Fachwissen für Experten oder Stoff für Biologieklausuren sind, sondern auch im Alltag große Bedeutung haben. Sie sind dazu aufgefordert, als Staatsbürger sowie als Konsumenten informierte Entscheidungen zu treffen – also Entscheidungen, die auf sogenanntem genetischen Wissen gründen34. Nicht mehr nach eigenem Dafürhalten sollen Bürger nachdenken und handeln, sondern lernen, ihre Überlegungen und Entscheidungen auf „Fakten und rationale[n] Begründungen“ aufzubauen, wie es das BMBF anstrebt (Bundesministerium für Bildung und Forschung o. J.).

Wer sich auf Kongressen oder bei einem Besuch im Gläsernen Labor genetisch aufklären lässt, hat die Freiheit, anschließend wieder nach Hause und in den Alltag zurückzukehren. Niemand wird unmittelbar zum Handeln aufgefordert, und wer nichts mit Genen, Risiken und ethischen Dilemmata anfangen kann, darf sie getrost wieder vergessen. Es gibt jedoch eine Form der genetischen Aufklärung, die unmittelbar persönliche Bedeutung beansprucht und Bürger zum Handeln auffordert: die genetische Beratung. Genetische Beratung ist eine professionelle Dienstleistung, die Menschen für eine konkrete Entscheidung präpariert – in der Regel eine informierte Entscheidung darüber, ob sie einen Gentest machen lassen oder nicht. Ausdrückliches Ziel der Sitzung ist die „medizinisch kompetente, individuelle Entscheidungshilfe“, wie es der Fachverband formuliert (Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und ethische Fragen der Gesellschaft für Humangenetik e. V. 1996, 129). In Deutschland ist dieser genetische Entscheidungsunterricht spezialisierten Medizinern vorbehalten, nämlich Fachärzten für Humangenetik sowie Gynäkologen und Kinderärzten, die nach einer mehrjährigen Weiterbildung die Zusatzbezeichnung „Medizinische Genetik“ führen dürfen.35 Während einer genetischen Beratungssitzung, die in der Regel ein bis zwei Stunden dauert, erläutern sie DNA-Aufbau, Chromosomenstruktur, Vererbungsregeln, Krankheitsstatistiken und genetische Testmöglichkeiten. Sitzt dem Genetiker eine Schwangere gegenüber, die eine Entscheidung über eine mögliche Fruchtwasseruntersuchung* treffen soll, dann legt er das Schwergewicht auf zellbiologische Vorgänge rund um die Befruchtung, auf Fehlbildungsstatistiken, Schwangerschaftsrisiken, verschiedene vorgeburtliche Testmöglichkeiten und risikobezogene Entscheidungsfindung. Hat er hingegen Frauen oder Männer vor sich, in deren Familien mehrfach Brust- oder Darmkrebs vorkam, dann nehmen die Themen Genmutationen, Krebsstatistik und Früherkennung den meisten Platz ein. Ganz gleich jedoch, wie die Beratungssitzung im Einzelnen verläuft: Genetische Berater legen größten Wert darauf, dass ihre Klienten eine informierte Entscheidung treffen. Mehrfach stellen sie im Verlauf der Sitzung klar, dass es Aufgabe der Betroffenen ist, aus den Lektionen über Gene, Risiken und Testangebote eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Obwohl es Beratung heiße, erklärt ein Genetiker seiner schwangeren Klientin gleich zu Beginn der Sitzung, werde er keinen Ratschlag geben. Sie müsse selbst herausfinden, was sie tun wolle. Er könne ihr nur sagen, sie müsse „den Rat bei sich selbst suchen“ (Samerski 2002, 230).

In Deutschland finden jährlich knapp 50 000 genetische Beratungssitzungen statt.36 Diese Zahl wird in den kommenden Jahren höchstwahrscheinlich steigen, weil das Gendiagnostikgesetz, das im Februar 2010 in Kraft getreten ist, sowohl vor als auch nach einem pränatalen oder prädiktiven Gentest die Sitzung mit einem genetischen Berater zur Pflicht macht. Bisher finden deutlich mehr vorgeburtliche Chromosomenuntersuchungen37 statt als genetische Beratungen, nämlich weit über 60 000. Die Anzahl der molekulargenetischen Tests ist noch viel höher, sie lag im Jahre 2004 bei über 200 00038 – Tendenz steigend. Weil also weitaus mehr Menschen getestet als beraten werden, haben die Humangenetiker bereits vor Jahren einen Beratungsnotstand ausgerufen: Das genetische Beratungswesen müsse dringend ausgebaut werden, forderte der Vorsitzende des Berufsverbandes im Jahre 2005, damit Bürger nicht an „Unterversorgung“ leiden.39

Die genetische Beratung ist ein Musterbeispiel einer genetischen Aufklärungsveranstaltung. Es handelt sich hier in konzentrierter Form um denjenigen genetischen Entscheidungsunterricht, den Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Industrie für die Gesellschaft fordern: Bürger sollen durch Belehrungen über Gene, Risiken und Testmöglichkeiten dazu befähigt werden, informierte Entscheidungen zu treffen. Erst dann gelten sie als mündig und selbstbestimmt. Genetische Beratung, so wird in einem Sammelband mit dem Titel „Ethische Fragen genetischer Beratung“ behauptet, diene der „Stärkung der Selbstbestimmung und Entscheidungsfähigkeit“ (Hirschberg und Frewer 2009, 9). Auch Genetiker nennen als wichtigstes Ziel ihrer Dienstleistung die Selbstbestimmung: In einem Diskursprojekt machten österreichische und deutsche genetische Berater deutlich, „dass Selbstbestimmung der Ratsuchenden für Beratende das Leitkonzept der genetischen Beratung darstellt“ (Grießler, Littig und Pichelstorfer 2009, 287). „Selbstbestimmung“ bedeutet jedoch nicht, wie die Genetiker weiterhin klarmachten, dass Klienten so denken und handeln sollen, wie sie es für richtig halten. Zur Selbstbestimmung, so stellten die Genetiker fest, wären Bürger von sich aus meist gar nicht in der Lage. Genetische Berater müssten sie erst „aktiv befördern“ (Grießler, Littig, und Pichelstorfer 2009, 291).

Die Entscheidungsfalle

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