Читать книгу Die Entscheidungsfalle - Silja Samerski - Страница 12

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2.3 Zur Vorgeschichte: Genetik als Grundlage von Sozialpolitik

2.3.1 Die wissenschaftliche Verwaltung von Erbanlagen

Das Bestreben, eine Gesellschaftsordnung zu errichten, die auf „Faktenwissen“ aus dem Genlabor aufbaut, ist nicht neu. Von Anfang an verstanden sich die meisten Genetiker nicht nur als Fachleute für Erbsenzucht und Fliegenkreuzung, sondern auch als Experten für die soziale Frage. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts träumten die ersten Lebenswissenschaftler, Forscher wie Jacques Loeb (1859 – 1924), Francis Galton und Ernst Haeckel (1834 – 1819) von einer künstlichen sozialen Ordnung, die auf den Erkenntnissen aus dem biologischen Forschungslabor gründet. Mendels Abhandlung schlummerte noch unbeachtet in den Regalen, da prägte der Statistiker Galton den Begriff der Eugenik* (Galton 1883) und setzte sich für die Verbesserung des Menschen durch „Zucht“ ein. Mit der Wiederentdeckung Mendels zur Jahrhundertwende, dem Startschuss für die experimentelle Vererbungswissenschaft, schienen die Träume von der expertengesteuerten Verbesserung von Mensch und Gesellschaft in greifbare Nähe zu rücken. In vielen Ländern, von Brasilien über die USA bis nach Europa, wuchs eine einflussreiche Eugenikbewegung heran. Ihr Anliegen war es, die neuen Grundregeln der Biologie, Darwins „survival of the fittest“ und Mendels Vererbungsgesetze, auf die Gesellschaft zu übertragen. Allen, die den Normalitätsanforderungen der industrialisierten Gesellschaft nicht entsprachen, ob Trinker, Huren, Arbeitslose, Kriminelle, Begriffsstutzige, Krummgewachsene oder aufrührerische Gewerkschafter, unterstellten die neuen Fortpflanzungsexperten krankhafte Erbanlagen40 und versuchten sie auszusondern.

Die Förderung von Selbstbestimmung und informierten Entscheidungen hatten Genetiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz offensichtlich nicht im Sinn. Ihre Mitmenschen verstanden sie nicht als Entscheidungsträger, die wissenschaftliche Erziehung brauchen, sondern als bloße Genträger, die von Experten verwaltet werden müssen. Menschen waren nichts anderes als Durchlaufstationen einer kultisch überhöhten Erbmasse – eine Erbmasse, die sich ihrer Ansicht nach viel zu ungeordnet kreuzte und zur Rettung des menschlichen Genpools nach wissenschaftlichem Plan verwaltet werden sollte. Auch Beratung gehörte zu den Maßnahmen, mit denen eine biologisch begründete Gesellschaftsordnung errichtet werden sollte. Die ersten vererbungswissenschaftlichen Beratungsstellen, die vor allem in den 1920er Jahren eröffnet wurden, hatten daher vornehmlich eugenische Ziele: Sie sollten der genetischen Verbesserung der Bevölkerung dienen. Die Vereinigung für öffentliche Eheberatungsstellen zählte im Jahre 1927 bereits 100 derartige Einrichtungen in Deutschland. Heiratswillige Paare wurden ermahnt, ihre Familiengründung von der Qualität ihrer Erbanlagen abhängig zu machen. Erbärzte nahmen einen Stammbaum auf, spekulierten anhand des verkrüppelten Vaters oder der debilen Tante über „schädliche Erbanlagen“, wendeten die Mendelschen Regeln an und rieten dem Paar gegebenenfalls von Eheschließung und Zeugung ab. Die Nachfrage nach solchen Erbprognosen blieb jedoch gering. Selbst im Nationalsozialismus, wo Eheberatung und Ehetauglichkeitszeugnisse gesetzliche Pflicht werden sollten, suchte kaum jemand freiwillig eine „Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege“ auf (Czarnowski 1991, Soden 1988).

Die Entscheidungsfalle

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