Читать книгу Lux und Umbra 2 - Silke M. Meyer - Страница 10
Оглавление*6*
Wahrheit kennt keinen Kompromiss.
Swami Vivekananda
Mathis erwachte noch vor dem ersten Sonnenstrahl. Sofort ergriff ihn eine innere Unruhe und das Stillliegen fiel ihm schwer. Um Benedicta nicht zu wecken, stand er leise auf und schlich sich aus dem Zimmer. Er fand den großen Saal und stieß die Flügeltüren auf. Geblendet von dem hellen Strahl, der aus einem großen Becken steil nach oben schoss und aus einer Öffnung im Dach bis in die Morgendämmerung hineinleuchtete, sah er Sephora nicht sofort. Beim Klang ihrer Stimme zuckte er zusammen.
„Mathis! Du bist schon wach?“ Sephora trat vor ihn und verdeckte die gleißende Helligkeit mit ihrer Gestalt.
Mathis blinzelte und nickte. „Ich kann nicht länger schlafen. Irgendetwas trieb mich aus dem Bett. Meinst du, meiner Mutter geht es gut?“
„Sie lebt, falls du das wissen möchtest. Aber sie ist verletzt. Ich weiß nicht genau, wie schwer. Aber ich bin sicher, dass du sie wiedersehen wirst.“
Mathis gab sich damit vorerst zufrieden. Neugierig beugte er sich zur Seite. „Was ist das?“, fragte er und schaute auf den Lichtstrahl, der unbeirrt nach oben schoss.
„Ich zeige der Welt, dass ich zurück bin.“
„Meinst du, dass das sinnvoll ist? Du leuchtest dem Namenlosen den direkten Weg zu uns.“ Mathis runzelte seine Stirn, schaute dann zu der gütig lächelnden Frau auf.
„Er wird nicht hierherkommen. Das wagt er nicht. Er ist nicht dumm, Mathis. Nalar weiß, dass meine Grenzen gut geschützt sind. Meine Magie würde ihm immense Schmerzen bereiten, seine Schergen würden es nicht überleben, hier einzudringen. So viel Licht ertragen sie einfach nicht. Aber unsere Verbündeten müssen wissen, dass ich zurück bin. Sie müssen die Chance bekommen, sich vorzubereiten. Den Zweiflern gibt es die Möglichkeit, sich zu entscheiden. Es gibt so viel zu tun und trotzdem müssen wir jetzt erst einmal nur auf deine Mutter warten.“ Seufzend zog sie den Jungen von dem Lichtstrahl fort.
Doch Mathis machte sich frei und ging staunend um das Becken herum. Winzige lichtdurchflutete Kugeln wirbelten in die Höhe. Sie tanzten umeinander und Mathis war, als könne er sie juchzen hören. Verwirrt schüttelte er seinen Kopf. Eine der Kugeln löste sich und kam direkt auf ihn zugeflogen. Mathis streckte seine Hand aus. Schwungvoll landete das funkelnde Objekt auf ihr. Im selben Moment hörte er in seinem Kopf eine angenehme Stimme. „Hallo Mathis! Ich freue mich, dich kennenzulernen. Deine Mutter hat mir bereits von dir erzählt.“ Die sich eng anschmiegende Kugel wärmte ihn, füllte ihn mit Hoffnung aus. Mathis atmete erleichtert auf.
Mit einem Krach flog die Tür auf und Benedicta kam hereingestürmt. Als sie Mathis erblickte, hielt sie inne. „Mann, ich dachte, du machst Dummheiten und bist weg!“
„Warum sollte ich das tun?“ Noch immer hielt Mathis die Lichtkugel fest in seiner Hand. Er wollte dieses wunderbare Gefühl noch einen Moment spüren.
Benedicta wand sich und wollte nicht so recht antworten. Hilfesuchend sah sie zu Sephora hinüber. Die nahm gerade an einem gedeckten Tisch Platz und lud mit einer Handbewegung die Kinder ein, sich zu ihr zu setzen. Sie folgten ihrer Aufforderung und setzten sich ihr gegenüber. Erst jetzt gab Mathis die Kugel frei, die fröhlich zu ihren Gefährten schwebte und in den Strudel eintauchte, um in den Morgenhimmel aufzusteigen.
Während Sephora und Benedicta anfingen zu frühstücken, höhlte Mathis ein Brötchen aus, aß jedoch nichts. Zu viele Fragen drängten danach, gestellt zu werden. Fieberhaft überlegte er, wo er anfangen sollte, und platzte schließlich heraus: „Was ist denn nun mit Mason? Können wir ihn herholen? Es gab sicher einen Grund, warum er diese Pflöcke warf.“
Zum zweiten Mal an diesem Morgen tauschten Benedicta und Sephora einen Blick aus. Die Ältere übernahm das Reden. „Du hast nicht alles mitbekommen, oder? Du weißt nicht genau, wer Mason ist?“
Mathis war nicht klar, worauf sie hinauswollte. Natürlich wusste er das. „Er ist der Prinz des Lichtes, ein Freund meiner Mutter und mein eigener Freund. Ich verstehe euch nicht. Benedicta“, wandte er sich an seine junge Freundin. „Du weißt das doch. Auch, wenn wir ihm, was Sage betrifft, nicht mehr vertraut haben, dann wissen wir doch, dass er das nur getan hat, um meine Mutter zu schützen.“
Mathis hielt inne, als Benedicta ihren Kopf traurig schüttelte. „Lass es dir erklären! Du warst so auf deine Mutter fixiert, dass du es gar nicht mitbekommen hast.“
„Was? Was habe ich nicht mitbekommen?“ Mathis rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her.
Beruhigend legte Sephora ihm eine Hand auf den Arm. „Du musst jetzt sehr stark sein, Mathis. Ich werde dir die volle Wahrheit erzählen, und du musst versprechen, dass du mir bis zum Ende zuhörst.“
Mathis nickte beklommen. Sephora begann: „Dadurch, dass du nur deine Mutter im Blick hattest, hast du nicht gesehen, was ich ihr und einigen anderen gezeigt habe. Da du ein von Lux und Umbra bist, hättest du es sonst sehen können. Nalar war schon immer böse, aber es gab einen Moment in seinem Leben, der hätte zum Wendepunkt werden können. Eine meiner Urururnichten verliebte sich in ihn. Und er sich in sie. Ich war gegen diese Verbindung und trieb sie damit direkt in seine Arme. Sie wohnte bei ihm und es dauerte nicht lange, da bekamen sie ein Kind. Nach der Geburt des Jungen fiel Nalar nach und nach zurück in seine alten Verhaltensweisen. Meine Nichte erkannte ihren Fehler, und wollte ihn verlassen. Er ließ sie gehen, behielt jedoch seinen Sohn bei sich. Sie konnte nichts dagegen tun.“
„Wo ist dieser Sohn heute?“, fragte Mathis dazwischen.
„Er ist bei ihm. Sein Name ist Mason.“ Sephora hielt inne. Sie wollte Mathis den Raum geben, zu begreifen.
Mathis schüttelte ungläubig den Kopf. „Mason ist der Sohn des Namenlosen? Aber wie kann das sein?“ Sein Gesicht wurde blass, seine Stimme war rau, als er weitersprach: „Aber dann ist Mason der Prinz der Finsternis? Mason? Nicht Sage?“
„Nein, nicht er. Sage ist näher am Licht, als du glaubst. Er ist der wahre Prinz des Lichtes und deine Mutter hat das in letzter Minute erkannt. Ich kann dir nicht sagen, ob sie dabei auf ihr Herz gehört hat, Erinnerungen aus ihrer frühesten Kindheit hochkamen oder ob sie aus meiner Vision die richtigen Schlüsse zog, aber das ist auch nicht wichtig. Einzig, dass sie das Richtige tat, ist entscheidend.“ Sephora legte eine Pause ein, denn Mathis stiegen Tränen in die Augen. Er kämpfte das Schluchzen hinunter, welches seine Kehle würgte. Tapfer schaute er auf. „Und wie ging es weiter? Mit Nalar und seinem Sohn? Mit deiner Nichte?“
„Sie kam zu uns zurück und trauerte einige Jahre ihrem verlorenen Sohn hinterher. Während eines unserer Feste lernte sie einen Mann kennen, der ihr gefiel. Sie verliebten sich ineinander und erneut verließ meine Nichte uns, sagte uns nichts, vergaß ihre Aufgaben. Sie übertrat unsere Grenze und lebte in der neuen Welt. Bei ihm. Sie heirateten, und später schwatzte sie ihren Schwestern die Perlen ab, die notwendig waren, damit der junge Italiener in unsere Welt wechseln konnte. Kurze Zeit darauf gebar sie ein weiteres Kind. Einen Sohn. Sein Name ist Sage da Guerrieri della Luce.“
„Was?“ Mathis sprang auf. „Sage und Mason sind Brüder?“
„Halbbrüder“, korrigierte Benedicta.
Mathis lief sichtlich aufgewühlt im Raum auf und ab. Vor Sephora blieb er stehen und musterte sie eindringlich. „Das ist noch nicht alles, oder?“
„Nein. Aber ich denke, das reicht für heute. Den Rest erzähle ich dir morgen.“ Sephora wollte aufstehen, doch Mathis hielt sie am Ärmel fest. „Nein. Du erzählst mir jetzt alles!“
Benedicta wurde immer kleiner auf ihrem Stuhl. Mit aufgerissenen Augen sah sie Mathis Grenzen überschreiten und Sephoras Autorität infrage stellen.
Sephora kam seufzend wieder zum Sitzen, fasste Mathis an den Oberarmen und redete weiter: „Nachdem die Möglichkeiten der Perlen offenbar wurden, plante Nalar einen neuen, geschickten Feldzug. Er versteckte seinen damals 10-jährigen Sohn und sorgte dafür, dass ihn niemand mehr zu Gesicht bekam. Meine Nichte lebte in der Folgezeit mit ihrem Mann in der neuen Welt und sie erzogen Sage. Sehr lange glücklich und in Frieden. Als Sage jedoch älter wurde, häuften sich eigenartige Begegnungen. Seine Eltern warnten ihn, doch in seinem jugendlichen Leichtsinn hörte er nicht auf sie. Als er das Alter von knapp 30 Jahren erreichte, setzte Nalar seinen Plan um und machte Sage zu einem der letzten geschaffenen Vampire. Nicht mit einem Biss, sondern mit dunkler Magie. Das schuf eine Bindung zwischen dem Vampir und seinem Erschaffer. Sage hatte keine Wahl. Er musste den Befehlen seines Vaters, wie er ihn künftig ebenfalls als Konsequenz der Erschaffung nennen sollte, folgen und gehorchen. Soweit ich weiß, ist er inzwischen der letzte existierende Vampir. Sage lehnte es ab, Menschen zu verwandeln. Und dadurch, dass er mittels Magie geschaffen wurde, konnte man ihm so leicht auch nichts anhaben. Nalar schickte falsche Prinzen des Lichts auf unsere Seite, spürte alle meine Nachkommen auf, in denen meine Magie lebendig war, und Sage wurde gezwungen, sie in alte Welt zu holen. Eine nach der anderen ließ Nalar den gefälschten Prinzen schützen, versuchte so, die Prophezeiung zu umgehen, aber alle versagten und wurden dadurch an unsere Welt gebunden. Benedicta war eine der Ersten von ihnen.“
Mathis schaute zu seiner Freundin, die leise zu weinen begonnen hatte. Doch er war nicht fähig, sie zu trösten. Er spürte, dass Sephora noch immer ein Geheimnis vor ihm hatte. „Red weiter!“, forderte er sie ein weiteres Mal auf.
„Mason hatte unsere Welt nie verlassen, die neue Welt nie gesehen. Er alterte hier langsamer. Während sein Halbbruder vor Jahrhunderten als knapp Dreißigjähriger erstarrte, war Mason im scheinbaren Alter von sechszehn oder siebzehn Jahren, als Nalar endlich ihn als Lichtprinz auf unsere Seite schmuggelte. Der Namenlose musste Charlotte längst entdeckt haben und beobachtete sie. Mason tauchte regelmäßig im See der Träume. Er hielt sich zurück, bis er den offenen Geist deiner Mutter traf. Sie war damals erst fünfzehn Jahre. Er erzählte seinem Vater davon und beschrieb sie in allen Einzelheiten. Nalar gab ihm die Erlaubnis in die neue Welt zu wechseln. Mason umgarnte deine Mutter und das Ergebnis bist ...“ Sephora stockte. Doch Mathis hatte längst begriffen.
„Mason ist mein Vater?!“, stellte er flüsternd eher fest, als das er fragte.
„Ja.“
„Aber“, er konnte seine Tränen nun nicht mehr zurückhalten. „Aber meine Mutter und meine Oma sagten mir immer, sie wüssten nicht, wer mein Vater sei.“
„Ich vermute, das taten sie wirklich nicht.“
„Meine Mutter hätte doch den Mann wiedererkannt, den sie geliebt hat!“ Entrüstung zeigte sich auf seinem Gesicht.
„Ich vermute ...“, Sephora wollte erneut nach ihm greifen, bevor sie weitersprach, doch Mathis hatte sich schon umgedreht und rannte zornig zur Tür. „Mathis!“, riefen die beiden Frauen im Chor, um ihn zum Anhalten zu bewegen. Umsonst, er wollte nichts mehr hören. Tränen der hilflosen Wut rannen über sein Gesicht. Er riss die schwere Tür mit Schwung auf, schrie „Du lügst!“ in den Raum und schwang sie mit Kraft hinter sich zu. Die kleine leuchtende Kugel, die auf dem Weg zu ihm war, prallte gegen das Türblatt und taumelte benommen nach unten.