Читать книгу Lux und Umbra 2 - Silke M. Meyer - Страница 12

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Nach deinem Tode wirst du sein

was du vor deiner Geburt warst.

Arthur Schopenhauer

Sie spürte den immer wiederkehrenden Druck auf ihre Brust, doch es war ihr egal. Das dunkle Loch, das vor ihr lag, zog sie an wie ein Magnet. Es schien zum Greifen nahe und doch schwebte sie fast auf der Stelle in der Luft und kam dem lockenden Eingang nur Millimeter um Millimeter näher. Sie streckte ihre Hände nach vorn, versuchte, die Ränder der Öffnung zu fassen, doch als sie das glitschige Material endlich mit den Fingerspitzen berührte, wurde sie von zwei heftigen Stößen zurückgezogen. Dann kehrte der rhythmische Druck auf ihrer Brust zurück, doch dieses Mal nutze sie ihn, bewegte sich schneller auf den Eingang zu, umklammerte die Ränder, als sie wieder nach hinten gezerrt wurde. Zweimal. Aber ihre Finger hatten sich eingegraben in die Masse, deren Ursprung sie nicht feststellen konnte, für deren Konsistenz sie keine Worte fand. War es fest? Oder doch eher durchscheinend wie Gas? Um ihre Finger herum, die mitten in der Masse steckten, fühlte es sich an, als wäre es flüssig. Doch bevor sie das, was sie fühlte, genauer identifizieren konnte, wurde ihre Aufmerksamkeit auf Gestalten gelenkt, die aus dem Inneren des Schlunds auftauchten. In schwarze Kutten gehüllt, und doch waren Gliedmaßen zu erkennen. Sie kamen näher, hatten sie fast erreicht, als zwei Stöße an ihr zerrten, sie losreißen wollten, verzweifelt flehend. Sie wusste, dass sie nachgeben sollte, doch zur Rückkehr fehlte ihr etwas. Etwas, dass sie dringend brauchte, jedoch nicht benennen konnte. In ihrem Kopf existierte nichts. Ihre Gedanken waren weich, träge, nicht fähig zu kombinieren. Zu spät sah sie die Waffen in den Händen der vermummten Gestalten, die sie nun umringt hatten, die Spitzen ihrer Sensen auf sie gerichtet. Ohne eine Lücke zu lassen, umschlossen sie sie. Kein Fluchtweg, doch sie hätte ohnehin nicht gewusst, wo entlang sie gemusst hätte. Dann, wie auf Kommando, streckten sie alle ihre Arme nach vorn und die Spitzen, aus denen ein schwarzes Sekret sickerte, durchbohrten ihren Körper.

Sie schrie, ohne einen Ton von sich zu geben. Ihre Hände ließen den Eingang los, an dem sie sich festgeklammert hatte und legten sich schützend, doch vollkommen sinnlos um ihren Leib. Die Spitzen der unzähligen Waffen drehten sich tiefer in ihren Körper. Bis sie mit einem Ruck herausgezogen wurden und sie nach unten fiel.

Sie fiel und fiel und fiel - zusammengekauert in Embryonalhaltung durch die Finsternis, spürte jeden einzelnen Stich, der ihr zugefügt worden war. Als es heller wurde und ihr Fall sich noch zu beschleunigen schien, schloss sie die Augen. In ihrem Kopf entstand ein Gedanke, formte sich ein Gesicht, neben dem ein zweites auftauchte. Zwei Gesichter, die sie kennen sollte, aber nicht erkannte. Ihr Kopf sagte ihr nicht, wen er ihr zeigte, aber ihr Herz erkannte. Das durfte nicht das Ende sein. Nicht heute, nicht jetzt. Sie brauchten sie – beide! Sie riss die Augen auf und fand sich in einem silbrig hellen Licht wieder, spürte, wie weiche Schwingen sie auffingen, ihren Körper umschmeichelten. Wie sie von einem zum anderem gereicht wurde, wie jede Berührung, die so sanft war wie ein Federstreif, Wärme ausstrahlte, jede einzelne Wunde, die die dunklen Wesen ihr zugefügt hatten, sich verschloss.

Der Druck auf ihrer Brust kehrte in ihr Bewusstsein zurück. Der helle Lichtkreis, der sie umgab, wurde enger, zog sich zusammen und als sie dachte, dass nun der Moment kam, an dem die zwei Stöße wiederkehren mussten, war sie bereit. Sie hatte alles bekommen, was ihr gefehlt hatte. Die Schwingen, die sie hielten, halfen, indem sie sie in derselben Sekunde des einsetzenden ersten Rucks mit Druck nach oben warfen. Der zweite Ruck schleuderte sie nun durch den schwarzen Gang, vorbei an den dunklen Gestalten, die geblendet ihre Kutten um sich wickelten und sich duckten.

Dann spürte sie den Schmerz auf ihrem Körper wieder, die Anstrengung, als ihre Lungen die Luft einsogen und mit lautem Rasseln ihre Rückkehr kundtaten.

*

Sage machte unbeirrt weiter. Auch Antonio erschien nun in der offenstehenden Tür, betrachtete mitfühlend den verzweifelten Versuch seines Gastes, Carly ins Leben zurückzuholen. Als Sage Carly wieder beatmete, wie von Sinnen ihren Brustkorb erneut bearbeiten wollte, erklang das ersehnte Lebenszeichen als lautes Rasseln aus Carlys Kehle. Sie atmete. Selbstständig und von sich aus. Erleichterung durchströmte Sage. Solange Carly atmete, war sie kein Vampir. Sage sank auf dem Bett nieder, Marietta bekreuzigte sich und Antonio blieb der Mund offenstehen.

Marietta durchbrach die Stille. „Kann ich Euch etwas bringen, mein Herr?“ Sichtlich verwirrt und doch erleichtert blickte sie ihren Gast dabei an. Der schüttelte den Kopf. Er hatte alles, was er brauchte. Carly musste nur gesund werden.

„Danke.“ Sage drückte Mariettas Hand. Die Hausherrin und ihr Mann gingen zusammen hinaus und schlossen behutsam die Tür.

Sage blieb auf dem Bett sitzen, bis die Sonne erste schwache Strahlen in das Zimmer schickte. Die restlichen Stunden der vergangenen Nacht hatte Carlys Herz immer wieder für Sekunden ausgesetzt, neue Reserven geholt und schlug dann weiter. Nun hatte es seine Regelmäßigkeit wiederaufgenommen. Es schlug schwach, aber es schlug noch immer.

Die Tür öffnete sich leise und Marietta betrat den Raum. In ihrem Arm trug sie neues Verbandmaterial und eine Schüssel mit warmem Wasser. „Ich habe ein kleines Frühstück hergerichtet, wenn Ihr mögt, mein Herr. Wie geht es Eurer Gemahlin heute Morgen?“

„Danke. Ich weiß es nicht genau. Aber sie lebt.“ Diese Information war eigentlich überflüssig, denn Carlys Atem klang noch immer, als würde sie Wasser ausstoßen, unterbrochen von leisem Wimmern. Sage wusste jedoch nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Dankbar nahm er der Hausherrin die mitgebrachten Utensilien ab. „Ich schaue mir erst die Wunden an, dann komme ich kurz nach unten.“

Marietta nickte verständnisvoll und ließ Sage allein. Er wickelte vorsichtig die Verbände ab und besah sich die Wunden sehr genau. Die Kleineren, die nicht so tief waren, heilten, doch die Großen, die Carly lebensgefährlich verletzt hatten, sahen unverändert aus. „Verdammtes Gift!“, murmelte er, wischte sanft das alte Blut ab und verband sie neu. Um den Schein eines Menschen aufrechtzuerhalten, ging Sage nach unten, um einen Teil des Frühstücks zu essen. Er redete nicht mit Marietta, die ihn ebenfalls in Ruhe ließ. Unaufhörlich lauschte er Carlys Herzschlag, als ein kräftiges Klopfen an der Haustür Sage und Marietta aus ihren Gedanken riss. Augenblicklich sprang Sage auf und lief zum Treppenabsatz. Marietta nickte ihm zu, gab ihm zu verstehen, dass es in Ordnung war, wenn er nach oben schlich, und begab sich selbst zur Tür. Ängstlich öffnete sie. Sage blieb oben stehen, bereit, mit Carly den nächsten Zeitsprung zu wagen, sollte es nötig werden.

Erleichtert atmete er auf, als er die aufgeregte Stimme eines Dorfbewohners vernahm, der die von einem Tier gerissene Leiche seines Bruders gefunden hatte. Er überließ der Hausherrin das Geschehen und ging zurück in das Zimmer, in dem Carly noch immer um ihr Leben kämpfte.

Ihr Atem ging endlich ruhiger und ihr Herz klopfte gleichmäßiger und kräftiger. Sage schöpfte Hoffnung.

Zwei Stunden später begab sich Sage die Treppe herunter. Zuversichtlich lächelnd trat er Antonio gegenüber. Der deutete seine Mimik richtig: „Geht es Ihrer Frau Gemahlin besser?“

„Ja, ein wenig. Danke. Doch ich denke, ich werde einige Kräuter brauchen. Die Waffen waren mit Gift benetzt. Neben dem hohen Blutverlust macht ihr das wohl die meisten Probleme.“

„Kaum zu glauben, mein Herr. Mit Gift? Welcher Mensch tut so etwas? Wir haben im Dorf keinen Arzt, aber im Wald wohnt sehr zurückgezogen eine Frau, die der Heilkunst mächtig ist. Sie könnte über die Kräuter verfügen, die Ihr benötigt. Wenn Ihr es einrichten könnt, dann bringe ich Euch dorthin.“

Sage glaubte ihm sofort, trotzdem verschwanden die Sorgenfalten nicht vom Gesicht des Hausherrn.

„Ich denke, es reicht, wenn Ihr mir den Weg beschreibt. Ich werde es allein finden. Ich möchte meine Gattin ungern ohne einen Schutz hierlassen.“ Mit dieser Notlüge konnte er mit hoher Geschwindigkeit sehr viel schneller hin- und wieder zurückgelangen. Antonio nickte verständnisvoll. Noch immer jedoch hatte er einen besorgten Gesichtsausdruck. Sage sah sich veranlasst, nachzufragen, obwohl er die Antwort bereits kannte. „Was bedrückt Euch? Gab es schlechte Nachrichten?“

Antonio nickte seufzend. „Einer unserer Bauern und zwei seiner Tiere wurden heute Nacht wohl gerissen. Was auch immer um unser Dorf schleicht, es ist gefährlich. Ihr müsst im Wald vorsichtig sein! Ich werde Euch eine Waffe mitgeben. Könnt ihr mit dem Schwert kämpfen?“

Sage runzelte die Stirn. „Ja, das kann ich. Ich bevorzuge es jedoch, gar nicht zu kämpfen, mein Herr. Ich werde keine Waffe brauchen. Sollte mich ein wildes Tier überraschen, klettere ich auf den nächsten Baum und warte ab, bis es verschwunden ist.“

Der Hausherr schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich bestehe darauf, dass Ihr ein Schwert mitnehmt. Wenigstens ein Kurzes. Oder einen Dolch? Ihr werdet nicht ohne eine Möglichkeit, Euch zu verteidigen, aus dem Haus gehen. Erst recht nicht in den Wald.“

Damit war die Diskussion für ihn beendet und Sage gab sich geschlagen. Ein Anliegen hatte er allerdings noch. „Sagt mir, mein Herr, kann ich irgendwo hier im Dorf eine große Menge Honig bekommen? Und ich bräuchte Leber für meine Frau Gemahlin. Sie hat sehr viel Blut verloren. Leber wird ihr bei der Bildung von neuem Blut helfen.“

Antonio sah ihn verwirrt an. „Leber? Ist es egal, von welchem Tier es stammt?“

Sage nickte und biss sich auf die Lippen. Er hatte, genau wie heute Nacht bei der Herz-Druck-Massage, nicht bedacht, dass die Menschen in dieser Zeit noch nicht das medizinische Wissen erworben hatten, wie er es aus der aktuellen Zeit kannte, in der Carly eigentlich lebte.

„Ich werde Euch die Leber der beiden gerissenen Tiere besorgen, mein Herr. Meint Ihr, dass dies ausreicht? Und um den Honig kann ich mich kümmern. Das sollte kein Problem sein“, antwortete Antonio und griff zu seinem Mantel. Sage murmelte einen Dank und begab sich in die obere Etage zurück.

Marietta hatte die Wache an Carlys Bett übernommen, als er nach unten gegangen war. Eigentlich brauchte Sage das nicht, denn er konnte Carly hören und obendrein über ihr Band spüren. Er wusste, wie es um sie stand. Sie befand sich noch immer in einem Zwischenstadium. Nicht tot, aber auch nicht lebendig. Ihr Körper kämpfte, schützte sich mit der Bewusstlosigkeit selbst. Der Blutverlust war eine Tatsache, die er aber in den Griff bekommen würde. Die Wunden an ihren Gliedmaßen würden heilen. Sorgen machten ihm die Verletzungen an ihrem Körper. Mehrere Pflöcke hatten Carly in den Unterleib getroffen. Glücklicherweise jedes Mal im seitlichen Bereich. Noch mehr Glück war es gewesen, dass sie den Darm verfehlt hatten. Ihre Wunden im Brustbereich waren die, die am schwerwiegendsten waren. Nur sehr knapp das Herz verfehlt und erfreulicherweise ebenso die Lunge, hatten sie jedoch tiefe Stiche in Schulter- und Brustbereich hinterlassen, die sich trotz des häufigen Reinigens entzündeten. Ihre Muskulatur dort war zerfetzt, und bedingt durch das Gift wirkte auch sein Blut nur sehr langsam. Sage konnte die Konsequenzen durch ihr Band spüren. Er fühlte den stechenden Schmerz, die Schwierigkeiten, die ihr das Atmen bereitete und die Anstrengungen, die ihr Herz bewältigen musste.

Während Sage hochkonzentriert auf Carlys Körper zur Treppe schritt, riss Marietta oben die Tür auf. „Kommt rasch, ich glaube, Eure Gemahlin hat Fieber!“

Mit langen Schritten eilte Sage die Stufen empor. Grob schob er sich an Marietta vorbei in den Raum hinein. Zärtlich legte er seine Hände auf Carlys glühendrotes Gesicht. Die Hitze schoss ihm durch seine Haut und ließ ihn kurz zurückzucken. Carly brannte beinah unter seinen Fingern.

„Bleibt bitte bei ihr!“, bat er inständig. „Ich werde mich sofort auf den Weg machen und entsprechende Medizin besorgen. Euer Gemahl sagte mir, dass es im Wald eine Frau gäbe, bei der ich alle Kräuter bekommen kann, die ich benötige. Kennt Ihr den Weg?“ Sage rannte unruhig auf und ab und nahm, wenn auch nur zum Schein, seine Jacke, die er achtlos über den Stuhl geworfen hatte. Marietta erklärte ihm besorgt die Richtung.

Kaum hatte sie das letzte Wort gesprochen, war Sage aus dem Raum verschwunden, die Treppe beinah heruntergeflogen und die Haustür krachte hinter ihm in Schloss. Der Dolch lag unberührt auf dem Küchentisch.

Weder sah, noch hörte er Antonio, der von der anderen Seite des Dorfes angerannt kam und nach ihm rief.

Als die Bäume ihn verdeckten, wechselte Sage zu der ihm vertrauten Vampirgeschwindigkeit. Er achtete nicht auf Äste, die ihm ins Gesicht schlugen oder Dornenranken, die an ihm zerrten, sondern raste unbeirrt den beschriebenen Weg entlang.

Lux und Umbra 2

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