Читать книгу Lux und Umbra 2 - Silke M. Meyer - Страница 11
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Erzähle mir die Vergangenheit
und ich werde die Zukunft erkennen.
Konfuzius
Sage starrte auf den Fetzen nächtlichen Himmel, den er durch das kleine Fenster des Gästezimmers sah. Er lauschte Carlys rasselndem Atem. Ihr Herz schlug schwach, aber gleichmäßig.
Im Haus war es still. Seine Gastgeber schliefen. Sage brauchte dringend Nahrung. Er stand auf und schlich sich leise aus der Haustür heraus. Mit hoher Geschwindigkeit raste er den Berg hinab und traf auf einen Bauern, der sein Vieh auf der Weide versorgen wollte. Der Mann hatte keine Chance, sich zu wehren oder einen Hilfeschrei auszustoßen. Sage bemächtigte sich seines Bluts sehr schnell und wenige Sekunden später hing der Körper regungslos in seinen Armen. Sage konnte kein Risiko eingehen und nahm dem Bauern deshalb das Leben. Diese Mahlzeit würde ihm für eine lange Zeit reichen. Um seine Tat zu verschleiern, riss er dem Burschen die Kehle auf und zerfetzte seinen Körper derart, dass es aussah, als hätte ein wildes Tier ihn gerissen. Um all das glaubhafter zu gestalten, richtete er außerdem zwei der Schafe auf dieselbe Art und Weise zu. Trotzdem er sich vorsah, spritze einiges an Blut auf seine Kleidung. Aber das würde niemanden auffallen, sie war ohnehin von Carlys Blut durchtränkt. Danach sauste er den Berg wieder hinauf und stahl sich ebenso leise, wie er gegangen war, in das Haus hinein. Noch immer war es still und niemand schien bemerkt zu haben, dass er weg war.
Schon am Treppenabsatz konnte er hören, dass Carlys Herz unruhiger schlug. Es hatte Aussetzer, wurde stetig schwächer. „Nein, nein, nein!“, flüsterte Sage gehetzt und rannte mit großen Sätzen die Treppe hinauf, riss die Tür zu ihrem Zimmer auf und sah sie - bleich und mit einem sich kaum noch hebenden Brustkorb. Sage griff nach Carlys Hand. Verzweiflung machte seine Stimme brüchig: „Du darfst jetzt nicht sterben. Kämpfe! Bitte geh nicht fort von mir!“
Carlys Herzschlag beschleunigte sich ein letztes Mal, bäumte sich auf und dann verstummte er. Ihr Kopf fiel zur Seite und der Körper erschlaffte.
„Nein!“ Ein Schluchzen klang von der Tür zu ihm durch. Marietta stand im Rahmen und hatte die Hände vor den Mund geschlagen. Sie musste Sage gehört haben, doch nun stiegen Tränen in ihre Augen.
Sage war nicht bereit aufzugeben. Vorsichtig, um ihr nicht noch mehr Verletzungen zuzufügen, begann er auf Carlys Brustkorb herumzudrücken. „… siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig“, zählte er leise und beugte sich dann über Carlys Mund. Zweimal blies er ihr Luft in die Lungen, vorsichtig, damit er sie nicht zum Platzen brachte. Dann begann er von vorn, seinen Handballen in Carlys Oberkörper zu drücken. „Eins, zwei, drei…“ Die Zeit erschien ihm endlos, Marietta weinte still vor sich hin und Carly lag noch immer reglos auf dem Bett. Sage blies ihr erneut Luft in den Körper und begann von vorn. Nochmal. Und nochmal.
Marietta trat zu ihm, legte ihm die Hand auf den Rücken. „Sie ist tot, mein Herr. Was tut Ihr da? Ihr könnt sie nicht zurückholen!“
*
Enndlin verließ ihre Baumhütte und bewegte sich geschickt zwischen den Ästen hin und her, bis sie an der alten, verästelten Korkeiche ankam, auf der Kwne wohnte. Knarrend öffnete sich die Tür. Kwne saß auf einem kleinen Hocker und flocht einen Korb. Als Enndlin den Raum betrat, legte sie ihre Handarbeit zur Seite und wollte aufspringen.
„Lass nur, Kwne. Bleib sitzen. Ich muss mit dir reden.“
Kwne nickte ergeben und sah erwartungsvoll zu ihrer Anführerin auf, die sich einen Stuhl heranzog. „Sie ist krank. Sehr krank, und im Moment ist nicht sicher, ob sie es überleben wird. Können wir ihr denn gar nicht helfen?“
Enndlin war die Oberste ihres Volkes, doch Kwne die wohl älteste lebende Frau unter ihnen. Wenn jemand Rat wusste, dann sie. Niemand kannte Kwnes genaues Alter, doch jedem war geläufig, dass sie es war, die im Mittelalter die Gruppe jener Schwestern führte, die sich entschlossen hatte, von der alten in die neue Welt umzuziehen. Nachdem sie ein sicheres Zuhause in Italien gefunden hatten, verließ Kwne die Gruppe und lebte fortan allein und abgeschieden mitten im Wald oberhalb des Gardasees. Von den Bewohnern des nahegelegenen Dorfes nur sehr selten besucht, beobachtete sie, lernte und half, wenn sie gebraucht wurde. Nur knapp entkam sie zur damaligen Zeit der Hexenverfolgung und flüchtete durch das Land, bis sie letzten Endes auf Sizilien strandete, wo sie auch ihre Schwestern wiedertraf. Kwne war wertvoll für ihr Volk und wurde mit entsprechender Ehrfurcht behandelt. Enndlin suchte mehr als einmal ihren Rat. So auch am heutigen Abend.
„Was fehlt ihr? Kannst du es sehen, Enndlin?“ Kwne verharrte aufmerksam abwartend in ihrer Stellung.
Enndlin konzentrierte sich und wenig später wurden ihre Augen glasig, ihr Blick ging durch Kwne hindurch und verlor sich weit hinter ihr. Mit einer Stimme, kaum lauter als ein Windhauch, sprach Enndlin schließlich: „Wunden übersäen ihren Körper, doch ich kann nicht erkennen, wodurch sie entstanden. Sie zittert und ihr Gesicht ist bleich. Sie weilt noch nicht im Totenreich, aber sie ist auf dem Weg dorthin, ihr Herz versagt in diesem Moment. Irgendetwas zieht sie zurück ins Leben, sie verharrt auf der Schwelle zwischen Leben und Tod.“
Enndlin verstummte und mit einem Zucken kam sie zurück in den Raum. Ihr Blick heftete sich auf Kwne, die plötzlich unruhig hin und her rutschte.
„Konntest du sehen, wo sie sich aufhält?“, fragte Kwne bei Enndlin nach.
„Italien auf jeden Fall. In einer Zeit weit vor uns. Es befanden sich Berge und sehr viel Wald um sie herum.“
Kwne wurde immer unsteter auf ihrem Schemel. „Meinst du, es könnte die Gegend um den Gardasee herum sein? Und du sagst, sie befindet sich weit vor uns?“
„Ja!“ Überrascht blickte Enndlin auf. „Weißt du etwas?“
Kwne nickte unbehaglich. „Ja. Sie ist nicht allein unterwegs. Sie hat Hilfe an ihrer Seite. Es gefällt mir nicht, aber scheinbar liegt ihm viel daran, ihr Leben zu retten.“
„Ihm? Wem? Und woher weißt du das?“ Enndlin war so angespannt, dass sie mit durchgedrücktem Rücken bewegungslos auf ihrem Stuhl saß. Sie war die Einzige unter den Schwestern, die fähig war, Menschen zu sehen, egal, wo und wann sie sich gerade aufhielten.
„Er war bei mir. Damals, als ich noch jung war und zurückgezogen am Gardasee lebte. Ich werde diesen Besuch niemals vergessen. Er handelte aus großer Sorge heraus.“ Mit einem Seufzen beendete Kwne ihre Worte.
„Du kennst ihn? Du warst dort? Oder nein, du bist dort? Jetzt in dem Moment? Das ist vollkommen paradox, Kwne!“ Enndlin sprang hoch und zog nervösen Schrittes in dem kleinen Raum ihre Kreise.
„Es ist ja nicht jetzt. Es ist Hunderte von Jahren her. Jetzt bin ich hier, aber sie sind es noch nicht. Wir können im Moment nicht eingreifen, denn ich bin schon dort. Wir können nur abwarten und vertrauen. Er ging mit allem, was er brauchte. Hoffen wir, dass Carly es schafft.“
„Carly?“ Enndlin stoppte ihr Gerenne.
Kwne kicherte. „Ja, so nannte er sie. Sie schien ihm sehr wichtig zu sein.“
Die Oberste zog die Augenbrauen nach oben. Offensichtlich missbilligte sie diese Betitelung. „Sie ist eine von Lux und Umbra, scheinbar die Mächtigste, die je geboren wurde. Carly scheint mir doch ein sehr unpassender Name zu sein.“ Sie schüttelte verärgert ihren Kopf. „Gut, also warten wir weiter ab. Und hoffen, dass deine Erinnerung dich nicht trügt.“
Ehrfürchtig verbeugten sich beide Frauen voreinander. Ein Ritual, welches zum Abschied ganz normal war und beinah unbewusst getätigt wurde. In ihrem Fall jedoch war diese Geste genau das, was sie darstellen sollte: Respekt und tiefe Ehrfurcht voreinander. Enndlin verließ Kwnes Hütte und zog sich zurück. Schlaf würde sie heute nicht finden, doch zumindest etwas ausruhen.