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4 Das Porträtzimmer
ОглавлениеMontag, der 13. November, nach der Schule, der Himmel war so klar, dass man dachte, es sei Sommer; der »kalte, jener Toten«, wie Pascoli schreibt, die Passanten eingemummelt in ihre Mäntel, die Äste skelettartig. Doch die Sonne stand hoch im Blau, die Luft war sogar mild, als ich zum ersten Mal in die Via dei Lecci bog.
Es war eine ruhige Wohnstraße ohne Ausgang, mit zwei Linien weißer Reihenhäuser, die in der Nachmittagssonne leuchteten. Ich glitt in die Straße, mit dem Quartz im Leerlauf, und verlangsamte die Geschwindigkeit, um auf den Gittertoren, die alle gleich aussahen, die Hausnummern zu lesen. Als ich die 17 fand, parkte ich vor einer Hecke, hinter der man einen kleinen Garten und eine Garage erkennen konnte. Ich war enttäuscht; ich hatte mir vorgestellt, Beatrice würde in einer prächtigen Villa wohnen, nicht in einem gewöhnlichen Reihenhaus.
Ich schaltete den Motor aus. Die Ruhe, die diese neuen Häuser ausstrahlten, von denen einige noch zum Verkauf standen, überfiel mich. Ringsumher gab es nichts, nur Hügel. Ich nahm den Helm ab. Mit leichtem Herzklopfen näherte ich mich der Sprechanlage. »Avv. Riccardo Rossetti« stand dort. Ich klingelte, und das Tor öffnete sich. Ich ging über den schmalen Weg zur Haustür, die geschlossen geblieben war, und klopfte so höflich wie möglich.
Ich hatte sie nur einmal gesehen, Beatrices Familie, versammelt um den großen Tisch eines teuren Restaurants, und es hatte auf mich gewirkt, als beobachtete ich die Clintons. Ich erinnerte mich an ihre elegante Kleidung, an das schwarze, auf Hochglanz polierte Auto, aus dem sie gestiegen waren, und währenddessen kam niemand, um mir zu öffnen. Ich wollte schon erneut klopfen, kräftiger, als eine Frau mit einem Putzlappen in der Hand aufmachte. Ich trat ein.
Und geriet mitten in eine heftige Auseinandersetzung.
Es gab keine Vorzimmer, keine Flure, keine Räume unter der Treppe, in denen man sich verstecken konnte. In Beas Haus kam man rein und befand sich sofort mitten auf der Bühne, in einem großen Wohnzimmer vollgestopft mit Bildern, Teppichen und Kissen. Ich fühlte mich fehl am Platz, zu sehr den Blicken ausgesetzt. Aber ich täuschte mich: Niemand hatte meine Anwesenheit bemerkt.
Die Mutter war wütend. Wie gelähmt stand ich da und betrachtete sie. Sie war gekleidet, geschminkt und frisiert, als würde sie die Fernsehnachrichten moderieren. Unmöglich, eine solche Frau im realen Leben anzutreffen: ein Kilo Gold, Grundierung, Wimperntusche und Lack auf einem Körper, der unverkennbar von Diäten und Fitnessstudios geformt worden war. Sie schrie in einem fort ihre Tochter an: »Ich hab dir eine Frage gestellt, antworte gefälligst! Hast du das Wasserstoffperoxid benutzt? Ja? Weißt du, dass du sie dir ruiniert hast? Du weißt, dass du sie komplett abrasieren musst. Mein Gott, was für eine Farbe! Warum musst du mich immer so enttäuschen?«
Ich erkannte Bea in einer Ecke, an einen Türpfosten gelehnt. Sie trug einen Schulterumhang aus Plastik, die Haare beschmiert mit einer Farbe, die Fuchsia oder Dunkelorange zu sein schien – das war nicht klar zu erkennen – und ihr auf die Stirn, auf die Jeans, überallhin tropfte.
»Jetzt muss ich Enzo anrufen und ihn anflehen, uns bis zum Abend noch dazwischenzuschieben. Denn so läufst du mir nicht herum. Ich kann dich nicht anschauen!«
Sie bückte sich, um das Telefon zwischen Zeitschriften, Halsketten und Millionen anderer Gegenstände, die auf einem großen Glastisch verstreut waren, zu suchen. Nicht weit entfernt lächelte, auf dem Sofa lümmelnd, Beatrices ältere Schwester Costanza gelassen und ein bisschen heimtückisch. Das geöffnete Chemielehrbuch auf den Knien, schwarzer Rollkragenpullover, schwarze Leggins und einen blonden Haarknoten auf dem Kopf. »Mama, lass gut sein, das ist ein hoffnungsloser Fall.« Dann, an Bea gewandt: »Das sieht wirklich scheiße aus.« Selbstgefällig.
Ebenfalls auf dem Sofa sitzend, starrte der elfjährige Bruder Ludovico konzentriert auf den Fernseher, damit beschäftigt, mit einer Maschinenpistole einen Trupp Zombies niederzumähen. Mit Ausnahme der Haushälterin, die mehr als einmal zu mir schaute, während sie die Fenster putzte, begrüßte mich niemand oder interessierte sich dafür, wer da hereingekommen war.
Als Beatrice zu mir schaute, waren ihre Augen voller Tränen. Sie bedeutete mir, zu ihr zu kommen, und ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und durchquerte das Wohnzimmer. Ihre Schwester würdigte mich jetzt eines Blickes, der so eindeutig war, dass ich ihn in Worte hätte übertragen können: »Was für eine Bettlerin hast du uns denn da ins Haus geholt, Beatrice?« Die Mama, die neben dem Telefon stand, musterte mich, ohne mich wirklich wahrzunehmen. Sie telefonierte, wobei sie mit den Fingernägeln auf dem Tisch trommelte, und flehte Enzo, den Friseur des Vertrauens, an, noch heute zu retten, was zu retten sei, die Situation sei verzweifelt, tragisch. Mir fiel auf, dass sie nicht die grünen Augen ihrer Tochter hatte, sondern ganz normale dunkle, wie auch die Schwester und der Bruder. Dafür gestikulierte sie mit diesen rot lackierten Fingernägeln, die mindestens drei Zentimeter lang waren und sie daran hinderten, irgendetwas in die Hand zu nehmen mit Ausnahme des Hörers. Ich fragte mich, was für eine Arbeit eine Person mit solchen Händen machen könnte. Mit Sicherheit war sie keine Arbeiterin wie meine Mutter. Ein Jammer, dass die Wut sie entstellte, denn sie war eine wunderschöne Frau. Ich konnte nicht verstehen, warum sie sich so wegen Haaren aufregte, die nicht ihre waren.
»Hallo«, flüsterte ich, als sie das Gespräch beendet hatte.
»Sie heißt Elisa, sie ist die aus Biella«, stellte Beatrice mich vor. »Wir machen heute zusammen Hausaufgaben.«
»Bis vier, dann müssen wir gehen.« Ihr Blick wanderte von mir zu Beatrice. »Wie konntest du vor dem Casting nur auf so eine Idee kommen. Du siehst grässlich aus.«
Beatrice nahm mich an der Hand und zog mich mit sich fort. Die Treppe hinauf in den ersten Stock, am Ende eines Flurs mit tapezierten Wänden und grauem Teppichboden lag ihr Zimmer. Sie schloss die Tür ab. Schob mich in ihr eigenes Badezimmer und schloss vorsichtshalber auch dieses ab.
»Ich hasse sie«, sagte sie.
Sie öffnete den Wasserhahn und steckte den Kopf ins Waschbecken; ihre Haare waren tatsächlich ein bisschen fuchsia und ein bisschen dunkelorange. Die Farbe wurde vom Wasser ausgespült, aber der Farbton blieb: fleckig.
Beatrice trocknete sie mit dem Handtuch und schüttelte sie vor dem Spiegel. »Ich wollte deine Farbe«, sagte sie lächelnd.
Und ich dachte: Du wolltest wie ich sein? Bist du verrückt?
»Also habe ich zwei Farbtöne vermischt und alles verpatzt.« Aber sie schien es nicht zu bereuen.
»Meine Haare sind hässlich«, entgegnete ich, »deine waren wunderschön.«
»Das waren nicht meine. Meine sind lockig, kraus, schrecklich, und die Farbe ist ein langweiliges Kastanienbraun. Seit der sechsten Klasse bearbeitet Enzo sie mit dem Glätteisen und passt die Farbe an die Titelbilder der Vogue an.«
Sie schaltete den Föhn ein und spielte damit wie Demi Moore in Striptease, ein Film, den mein Bruder toll fand. Ich setzte mich auf den Rand der Badewanne und schaute ihr verblüfft zu. Es stimmte: Sie hatte Locken. Während sie sie föhnte, verwandelte ihr Haar sich in einen ungebändigten Busch, der keine Ähnlichkeit mehr hatte mit der braven Mähne, die ich jeden Morgen in der Schule gesehen hatte. Andererseits war sie perfekt geschminkt. Das war nicht der übliche Pfusch unserer Altersgenossinnen, meine ich, sondern eine sorgfältig aufgepinselte Maske, die ihre ovale Gesichtsform betonte, die Wangenknochen hervorhob, ihre Augen und Lippen vergrößerte, die Nase schmaler aussehen ließ und ihr ein stolzes und altersloses Aussehen gab. Und natürlich nicht den kleinsten Pickel erahnen ließ.
»Weißt du, dass ich manchmal auch damit schlafe?«
Ich zuckte zusammen, wie jedes Mal, wenn sie das Gespräch mit meinem Schweigen suchte.
»Um nicht morgens aufzuwachen und mich vor dem Spiegel hassen zu müssen. Ich lasse alles drauf: das Make-up, den Lippenstift. Wenn du wasserdichte Wimperntusche benutzt und aufpasst und den Kopf auf dem Kissen nicht bewegst, zerbröckelt es nicht und bleibt haften.«
Ich begriff, was für ein Vertrauensbeweis es gewesen war, sich mir am Nachmittag des Diebstahls ungeschminkt gezeigt zu haben. Instinktiv überkam mich ein Gefühl der Zuneigung, aber ich hielt mich zurück. Sie schaltete eine kleine Stereoanlage auf einem Wandbrett ein. Aus den Lautsprechern dröhnte ein Lied, das Niccolò ohne zu zögern »scheiße« genannt hätte. Das Badezimmer war dermaßen vollgestellt mit Schminkutensilien, Parfüms, Cremes, Badeschaum, dass ich mich fragte, wozu all dieses Zeug gut war, ich, die ich nur eine Zahnbürste und eine Zahnpasta mein Eigen nannte.
»Schau mich an«, sagte sie, griff nach einem Deodorant und hielt es sich an die Lippen, »sehe ich nicht wie Paola aus?« Sie tat so, als würde sie singen: »Vamos a bailar, esta vida nueva! Vamos a bailar, nai na na!« Sie deutete einen sinnlichen Tanz an und rieb ihren Po an meinen Knien. Sie versuchte mich in den Refrain hineinzuziehen, mich durch Kitzeln an den Seiten zum Aufstehen zu bewegen. Ich entzog mich; ich würde nie etwas so Idiotisches tun können.
»Gefallen dir Paola & Chiara nicht?«
»Nein«, gab ich zu.
»Was gefällt dir dann? Sie liefen diesen Sommer überall!«
Von mir zu sprechen war etwas, das ich nie tat. Ich war sicher, für niemanden interessant zu sein. Jahrzehnte später sollte die Psychologin versuchen, mich zu überzeugen, dass an einem so geringen Selbstwertgefühl meine Mutter nicht ganz unschuldig war. Ich weiß nur, dass an jenem Tag, in jenem Badezimmer Mama Hunderte Kilometer entfernt war und ich den Wunsch verspürte, mich ihr anzuvertrauen. Ich spürte, dass Beatrice mich verstehen würde; nicht so sehr diese exhibitionistische Version, sondern jene, die vorhin im Wohnzimmer einen so ungerechten Anschiss über sich hatte ergehen lassen müssen.
»In Biella gibt es einen Ort«, erzählte ich ihr, »der Babylonia heißt, wo die Mädchen und Jungs blaue, grüne oder fuchsia- und orangefarbene Haare wie du haben, aber an den Seiten rasiert und ein Irokesenkamm in der Mitte, und sie singen zu Offspring, während sie pogen und rauchen und allen den Mittelfinger zeigen.«
»Was bedeutet pogen?«
»Dass du nicht tanzt. Du bist ein Körper, der einsam zwischen den Leuten auf und ab hüpft. Man rempelt sich mit den Schultern an und versetzt sich Stöße mit dem Kopf. Die Rancid haben dort auf den Reisfeldern von Ponderano gespielt. Biella ist ganz anders als T«, schloss ich.
»Und wer sind deine Lieblingssängerinnen?«
»Offspring. Aber auch Blink-182.«
»Hört dein Bruder die?«, fragte sie mich schelmisch. »Er ist ein toller Typ, wie heißt er?«
»Niccolò.«
»Ich will ihn kennenlernen. Nimmst du mich samstags mal mit?«
Ich nickte vage. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass er fortgegangen war. Es mit lauter Stimme zuzugeben hätte bedeutetet, es zu akzeptieren. Und außerdem, wenn Niccolò Bea sehen würde, würde er sagen, sie sei ein scheiß Modepüppchen, eine scheiß Spießerin, was auch immer, auf jeden Fall scheiße.
»Du hast recht, in T gibt es keine Punks. Wir sind alle gleichermaßen blöd und gewöhnlich.«
»Aber du bist nicht gewöhnlich, im Gegenteil. Jetzt bist du fast ein Punk.«
Sie brach in Gelächter aus. »Das würde mir schon gefallen, mit Irokesenschnitt und einem Piercing mitten in der Nase abzuhauen und dort im Babylonia zu pogen.«
»Dann machen wir das«, bot ich ihr an, unversehens glücklich.
»Von wegen.«
»Wieso?«
»Ich erklär’s dir.«
*
Sie ging mit mir hinaus in den Flur, wo unsere Schritte keine Geräusche machten. Ihre Familie war noch unten, wir hörten sie herumschreien.
Wir gingen an den weit offen stehenden Zimmern der Schwester und der Bruders und an dem geschlossenen der Eltern vorbei. Bea öffnete die letzte Tür, und wir betraten ein Zimmer, das so kalt und dunkel war, als wäre es das von jemandem, der erst vor kurzem nach langer Krankheit gestorben war. Ich folgte unsicher ihrer Gestalt, und als sie die Jalousie hochzog, verschlug es mir den Atem.
Überall an den Wänden hingen Fotos, wie in einem Museum oder in einer Votivkapelle. Riesige Vergrößerungen, Porträts, gerahmte Collagen von Polaroids unter Glas. Wo es keine Rahmen gab, waren Regale voller nummerierter Alben, die alle einen Namen trugen: Costanza, Beatrice, Ludovico. Beatrice dominierte sie alle.
»Ludo hat ein paar Modenschauen gemacht, aber er hat sofort die Lust daran verloren. Dann hat Papa sich quergestellt, ›Männer machen gewisse Dinge nicht‹, und Mama musste sich fügen.«
Sie hatte sich aufs Fensterbrett gesetzt, ins Gegenlicht. »Costanza ist schön, aber sie hat nicht meine Augen und auch nicht meine Größe. Als Kind hat sie viel Werbung gemacht. Auch für Mini Pony, ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst. Aber als sie ihre Regel gekriegt hat und dann eine Akne, die schlimmer war als meine, und breite Hüften, haben sie sie nicht mehr genommen.« Sie knabberte an einem Häutchen und saugte ein winziges Tröpfchen Blut. »Und da bin ich übrig geblieben.«
Sie sagte das in einem zweideutigen Ton, als wäre es eine Strafe, aber auch eine Auszeichnung. Mir war nicht klar, ob die Lawine an Fotos von ihr, die diesen Ort tapezierten, sie unglücklich oder stolz machte.
Da saß sie, mit Haaren, die die reinste Glaswolle waren, und betrachtete ihre Porträts, als wären sie die einer Unbekannten. Bea mit Zopf und Diadem, zart und kindlich, mit erstauntem Blick und Rouge auf den Wangen in einer Haute-Couture-Werbung. Bea dunkel wie Mahagoni, vermutlich zwölfjährig, im Badeanzug auf einem Laufsteg. Und immer mit den obligatorischen glatten Haaren. Das Lächeln, das bereits allgemein bekannt war, vergleichbar mit dem der Mona Lisa, unantastbar, unergründlich, das endlos auf den Internetseiten wiederkehrt. Aber die Bilder, die nur ich sah, die mit Nägeln an der Wand befestigt waren, waren verblasst, starr, wie tot. Und genau das beunruhigte mich vermutlich, die Ähnlichkeit dieser Wände mit den Grabnischen auf den Friedhöfen. Ich starrte sie an und begann zu verstehen, warum ihre Mutter so wütend geworden war.
»Hast du ein Tagebuch?«
»Was für ein Tagebuch?«
»Ein geheimes, in das du deine Gedanken schreibst und was du am Tag gemacht hast.«
»Ich schreibe nicht.«
Da hingen auch Porträts aller drei Kinder gemeinsam, andere nur der Mutter, der Mutter mit dem Vater, der ganzen Familie an Weihnachten, an Ostern, in Paris, auf den Malediven. Immer scharf, in Nahaufnahme, korrekt belichtet, mit offenen Augen; klar, lächelnd, ganz offensichtlich glücklich. Ich kam nicht umhin zu vergleichen. Ich erinnerte mich an die kümmerlichen Häufchen von Fotos meiner Familie, die kunterbunt durcheinander in einer Schublade lagen. Schiefe Bildausschnitte, abgeschnittene Köpfe, zufällig ausgelöster Blitz, der uns rote Augen machte, und Gesichter wie erschreckte Eulen. Rechtecke, deren Anblick mir das Herz brach, die niemand anschauen wollte. Auf denen stets mein Vater, meine Mutter, ich oder mein Bruder fehlte, auf denen es immer Lücken gab.
»Was für eine Arbeit macht deine Mutter?« Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen.
»Nichts.«
Ich sah sie fragend an.
»Sie ist Hausfrau«, sagte Beatrice mit sarkastischem Lächeln, »auch wenn ich sie nie bügeln, putzen oder kochen gesehen habe. Sie ist 68 Miss Lazio geworden. Im Paläolithikum ist sie zwei, drei Monate lang jemand gewesen. Dann hat sie meinen Vater geheiratet, ihr Leben ihm geweiht wie eine Heilige, und er hat es ihr vergolten, indem er sie ständig mit irgendeiner Kollegin oder Sekretärin betrog.«
*
Wir öffneten an jenem Nachmittag kein Buch. Ich hätte mich auch nicht konzentrieren können. Meine Gedanken wurden von dem Gewicht jenes Zimmers erdrückt, über das Beatrice im Übrigen später nie gesprochen hat, in keinem Interview, in keinem Fernsehstudio.
Als wir hinuntergingen, war die Schwester verschwunden, der Bruder auch, nur Ginevra dell’Osservanza, die Mutter, war noch da und blätterte auf dem Sofa in einer Zeitschrift. Das schwache Licht des Sonnenuntergangs drang durch das Fenster herein, traf ihr Gesicht und machte die Falten unter dem Make-up, ihre Zerbrechlichkeit, ihre zweiundfünfzig Jahre sichtbar.
Dieser Anblick rührte mich; auf Beatrice musste er die gleiche Wirkung haben, denn sie näherte sich, setzte sich neben sie und drückte sie an sich, als wollte sie sie um Entschuldigung bitten. Daraufhin strich ihre Mutter ihr über die verunstalteten Haare. »Wir kriegen das schon alles wieder hin.« Mit sanfter Stimme, als wäre sie eine andere geworden.
Das erstaunte mich nicht, ich war daran gewöhnt. Ich wusste, dass eine Mutter zwei Extreme in sich hatte und ohne Vorwarnung vom einen ins andere fiel. Und du konntest sie hassen, so viel du wolltest, aber irgendwann überwog immer die körperliche Notwendigkeit, dich umarmen zu lassen und akzeptiert zu werden. Du wirst lächerlich, und sie wächst ins Unermessliche, eine unüberwindbare Ungleichheit, die dir in manchen Fällen – wie bei mir und Beatrice – das Leben schwer macht.
Sie saßen eine Weile eng aneinandergeschmiegt da, als wäre ich gar nicht anwesend. Es tat mir weh, sie so zu sehen, aber ich betrachtete sie, und mich überkam ein so quälendes Gefühl von Verlust, als wäre ich Waise geworden. Ich wusste, warum sie gegangen war. Ohne mich mitzunehmen, meine ich. Ich konnte mir ihr neues Leben in Biella vorstellen. Die Erleichterung, die wiedereroberte Freiheit. Allerdings verstand ich nicht, warum sie mich zur Welt gebracht hatte.
Beatrice und ihre Mutter lösten sich voneinander. »Nun gut, Mädchen, gehen wir«, sagte Ginevra und stand auf. Sie wandte sich zu mir und fragte unerwartet freundlich: »Willst du uns begleiten? Elisabetta, Elena?«
»Elisa, Mama!«
»Elisa, willst du Enzo kennenlernen, vielleicht findet er ja auch was für dich?«
»Nein danke, ich muss nach Hause.«
Gleichzeitig und mit identischen Bewegungen zogen sie wunderschöne Schuhe und Mäntel an und griffen nach ledernen Markentaschen. »Dann also ciao, Elisa, wenn du willst, du bist uns immer willkommen. Beatrice, du wartest am Tor auf mich, ich hole den Wagen.«
Wir gingen hinaus, und Bea begleitete mich zum Motorroller. Als ich den Helm aufsetzen wollte, hielt sie meine Hände fest. »Ich habe dir heute eine Reihe von Geheimnissen verraten, aber du hast mir fast nichts von dir erzählt. Wenn wir Freundinnen sein wollen, geht das so nicht. Es muss absolute Gleichberechtigung herrschen.«
Ich sah sie ängstlich an, ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte.
»Du hast mir nicht gesagt, ob du einen Freund hast.«
Der Helm fiel mir aus der Hand und rollte über den Bürgersteig.
Ich glaube, ich wurde rot, oder blass.
Bea lachte. »Also gibt es einen Jungen.«
»Warum fragst du mich das?«
»Du bist leicht zu durchschauen, ich sehe es. Sag mir, wer es ist.«
»Das stimmt nicht, es gibt niemanden.«
Die Mutter fuhr laut hupend mit dem BMW vor. Die kurze Anwandlung von Zärtlichkeit war vergessen, jetzt hatte sie es eilig und war erneut nervös. Bea ließ mich schweren Herzens stehen: »Du erzählst es mir, bald.« Schicksalsergeben stieg sie auf der Beifahrerseite ein, und ich blickte ihr nach, während sie in dem schwarzen Schlitten am Ende der Straße verschwand.
Dann startete ich den Quartz. Anstatt nach Hause zu fahren, fuhr ich im Zickzack durch die rechtwinkligen und parallelen Sträßchen jenes Viertels, das begonnen und nie fertig gebaut worden war, mit den stillstehenden Kränen, den offenen Fundamenten, ganz und gar leer. Ich ließ es hinter mir mit einem Gefühl der Befreiung. Ich fuhr vom Aussichtspunkt hinunter, in unmittelbarer Nähe der Hügel, dicht bedeckt mit Steineichen und Wacholder. Ich erreichte die Kreuzung vor dem Circolo dei Lavoratori, bog nach rechts ab und durchquerte die neue Stadt: ein quadratisches Gebäude, ein Einkaufszentrum, ein kleiner Park, erneut ein quadratisches Gebäude, und gab Gas in diesen Straßen ohne Namen und Erinnerungen, die mir so fremd waren, dass ich vielleicht doch nicht aus dem Piemont kam, sondern aus Asien, von einer dieser Inseln im Pazifik, die nie Kontakt mit dem Rest der Welt gehabt hatten.
Ich erreichte den Hafen. Ich fuhr eine Stunde am Meer entlang, das im Winter ebenso melancholisch war wie ich.
Ja, es gab einen Jungen.
Es hatte einen gegeben.
Das Meer war stürmisch. Das trügerische Nachmittagslicht wurde immer schwächer hinter den Kais, den Frachtschiffen, den Fähren, die die Abfahrt zum Archipel verzögert hatten. Es war kalt. Ich war erneut allein.
Ich hielt am Ende einer Mole. Die Wellen brachen sich an der Barriere. Der Wind peitschte mein Gesicht, eisig, salzig.
Die Erinnerung an jenen Jungen kehrte mit aller Gewalt zurück.