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7 Ferragosto, als B. mir das Leben rettete

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Und sie verschlingen sich mit den Augen / suchen sich strecken die Hände nacheinander aus / heimlich auf dem Leinenbatist des Tisches.« Das waren nicht wir, Lorenzo und ich, auch wenn die Verse aus Stella variabile stammen. Die beiden, die sich suchen und verschlingen und versuchen, es heimlich zu machen, was ihnen aber nicht so recht gelingt, sind meine Eltern.

Dieses Gedicht heißt »Sonntag nach dem Krieg« und enthält eine Frage: »Für zwei, die sich wiederfinden an einem / Sonntag nach dem Krieg / kann da für sie / wieder erblühen die Wüste des Meeres?«

Meine Mutter blühte wieder auf, das ist gewiss. Mein Vater schloss sich seltener in sein Arbeitszimmer ein und bekam tatsächlich ein bisschen Farbe. Nach sieben Jahren Ehe und elf Jahren Trennung – sie hatten sich verlassen, als ich die ersten sinnvollen Sätze zu sagen begann – erlebten sie in jenem verrückten und verheerenden Sommer des Jahres 2000 eine zweite Jugend.

Die abendlichen Fluchten zum Eisessen wurden zur Gewohnheit. Im Laufe der Zeit sparten wir uns sogar die Förmlichkeit des »Wollt ihr auch mitkommen?«. Wenn Papa seine akademischen Pflichten erledigt hatte, verging kein Tag, an dem sie nicht ans Meer fuhren. Immer an einen anderen Strand, eine neue natürliche Oase. Nach dem Mittagessen gingen mein Bruder und ich ins Bett, ich, um zu lesen, und er, um zu schlafen, bereits benommen vom Marihuana. Sie beide dagegen verließen die Wohnung nach Sonnencreme duftend; meine Mutter mit einem Strohhut und einem luftigen Sommerkleid, mein Vater mit einer Baseballkappe, einem Roman von Stephen King unter dem Arm und um den Hals das unvermeidliche Fernglas für die Vogelbeobachtung.

Sie fuhren immer mit seinem verdreckten Passat, den Kofferraum bis oben hin vollgestopft: die Ausrüstung für das Beobachten und Fotografieren der Vögel, die Polaroidkamera, um Aufnahmen von ihr zu machen, und, von ihr hinzugefügt, die aufblasbare Luftmatratze, der Liegestuhl, die Badetücher.

Worüber sprachen sie? Unmöglich, sich das vorzustellen. Mama hatte keine Ahnung von Blauracken, Seeregenpfeifern, Trielen und nie Interesse für die Tiere gezeigt. Internet und Software? Fehlanzeige. Die Galaxien? Es war schon viel, dass sie wusste, in welcher Region Italiens sie sich befand. Papa hatte sein Studium mit summa cum laude abgeschlossen, seine Doktorarbeit war in den Vereinigten Staaten veröffentlicht worden, und Mama hatte noch nicht einmal Abitur. Wenn sie versuchte, was weiß ich, die Fernsehzeitschrift Sorrisi e Canzoni zu lesen, verlor sie schon nach einem Satz die Lust. Es war eine Katastrophe. Meine erwachsenen Augen blicken nicht weniger gnadenlos auf sie, auf ihre Impulsivität und ihr Italienisch, als diejenigen, mit denen ich sie in jenem Sommer anschaute. Und doch, was würde ich dafür geben, sie wieder so glücklich zu sehen.

Nicht auf einem Foto, sondern an irgendeinem Juli- oder Augustnachmittag des Jahres 2000, wie sie lächelte, wenn sie die Wohnung verließ, um zum Strand zu fahren. Winzig, sommersprossig, die unordentliche, lange Ponyfrisur über den Augen. Leicht und unbeschwert wie ihr Name. Annabella.

Ab und zu tauchte Niccolò nach seinem Nachtmittagsschlaf aus seinem Rauschzustand auf und kam zu mir; oder ich beendete die x-te Mandelstam-Lektüre und klopfte an seine Tür. Wir setzten uns allein in die Küche und holten bei einem Snack unsere alten und schlimmsten Gewohnheiten aus Biella wieder hervor: MTV, Chips und Füße auf dem Tisch. Währenddessen drang durch die herabgelassenen Jalousien der lebhafte Lärm von T herauf, von Wettkämpfen im Klippenspringen und Tennisspielen am Strand.

Wir waren blass und stinksauer. Erst nach fünf Uhr trauten wir uns, die Nase nach draußen zu stecken, wie die Alten und die Neugeborenen. Und während ich weiter wie eine arme Seele zwischen Wohnung und Bibliothek pendelte und er sich zusammen mit neuen erbärmlichen Freunden mit Haschisch und Ketamin die Gesundheit ruinierte, machten Mama und Papa sich ein schönes Leben.

Ich will nicht, dass es so aussieht, als wären sie herzlose Rabeneltern gewesen. Sie machten sich durchaus Sorgen um uns. Sie sahen Niccolòs erweiterte Pupillen und mein deprimiertes Gesicht. Aber, und inzwischen begreife ich es: Was konnten sie schon tun?

Sie waren verliebt.

Es war ihr Moment, nicht unserer.

Sie versuchten immer wieder, uns einzubeziehen, Papa vor allem. Eines Morgens wollte er uns zeigen, wie der 586 Olidata funktionierte, der unübersehbar in seinem Arbeitszimmer stand, ein grauer Quader, größer als ein Fernseher, mit einem gewölbten Bildschirm, über den heute jeder lächeln würde, aber damals hatte er einen Pentium-III-Prozessor, und Papa sagte es jedem, der es hören wollte: »Ich habe einen Pentium III«, und aus seinen Augen leuchtete die Zukunft. Diesmal begeisterte er sich, redete sich heiß. Ich muss zugeben, dass er immer ein guter Lehrer war, einer von denen, an die die Studenten sich gern erinnern. Aber bei den eigenen Kindern verhält es sich bekanntlich anders: Sie hören nicht zu. Er bewegte die Maus, klickte präzise und zeigte uns, wie wir uns mit dem Internet verbinden, uns die Welt öffnen könnten. Er schrieb uns Benutzername, Passwort und ISP-Nummer auf einen Zettel: ein Riesenzirkus. Wir hielten es dort drin, stumm, eisig, vielleicht zehn Minuten aus.

Dann versuchte er es mit seiner anderen großen Leidenschaft: den Vögeln. Mit den richtigen Wanderschuhen und einem Fernglas würden wir, wenn wir im Morgengrauen aufstünden, den außerordentlichen Anblick fliegender Turmfalken und balzender Seeregenpfeifer im Naturpark San Quintino genießen können. Wir erstickten den Plan schon im Keim, indem wir einfach das Zimmer verließen.

Mama war ganz verändert, sie sah uns nicht mehr an wie früher. Sie war völlig gefangen genommen von ihm, vom Meer und von der Euphorie über die wiedergefundene Freiheit.

»Du hast eine Menge aufzuholen«, sagte sie lachend zu Papa, ohne Groll, und ließ uns allein. Für ein paar Stunden, den ganzen Vormittag. Dann kam sie um eins zurück, die Hände voller Einkäufe, die Haare voller Sand, einmal war die Shorts voller grüner Flecke, als hätte sie sich auf einer Wiese gewälzt, und jedes Mal fand sie den Tisch gedeckt vor, ihren Ex-Mann am Herd und die Kinder vor dem Fernseher. Blass wie Wachs.

In unserer Gegenwart küssten sie sich nie und berührten sich kaum. Aber es war offensichtlich. Zwei, die so wenige Themen hatten, mussten sich zwangsläufig dem anderen zuwenden. Ihr Zimmer war das letzte ganz hinten, am weitesten von unseren entfernt. Mama schloss jetzt die Badezimmertür ab und ließ uns nicht mehr hinein. Sie benutzte immer Parfüm, war geschminkt und frisiert. Sie entfernte sich von uns, weil es dieses »wir« nicht mehr gab. Es gab das »sie«.

Aber kehren wir zur anfänglichen Frage zurück: »Kann da für sie wieder erblühen die Wüste des Meeres?« Mit dreiunddreißig kenne ich die Antwort, und sie lautet nein.

*

Das erste Anzeichen dafür, dass die Idylle zwischen Mama und Papa zu Ende gehen würde, zeigte sich an jenem Ferragosto-Abend, an dem ich Beatrice kennenlernte. Allerdings handelte es sich weniger um ein Anzeichen als um ein schreckliches, ohrenbetäubendes Donnergrollen ähnlich dem, das in manchen Küstengebieten einen Tsunami ankündigt.

Diesmal drängten sie uns nicht, mit ihnen auszugehen, sie bestanden darauf: Wir würden in einem eleganten Restaurant mit Terrasse am Meer zu Abend essen. Papa hatte einen Monat im Voraus reserviert, um sicherzugehen, dass wir einen Tisch bekamen. »Und wir werden uns schön anziehen, auf das Feuerwerk warten und uns großartig amüsieren.« Mama sagte das im Ton eines Ultimatums und mit einem Gesicht, das Ohrfeigen verhieß.

Ich habe Feiern immer gehasst. Das ist nicht besonders originell, ich weiß, dass jede beliebige – nicht unbedingt zerstörte oder geschädigte, sondern normale – Familie an einem solchen Tag Höllenqualen aussteht. Schon Weihnachten war für uns immer eine Tortur gewesen: Papa, der unbeholfen in Biella durch die Sprechanlage sprach, den Panettone in der Hand, und sich verzweifelt bemühte, uns etwas mitzuteilen.

Ferragosto war in etwa das Gleiche, nur dass erschwerend die Hitze und T hinzukamen. Und Mama, die jetzt die Ehefrau spielte, erging sich in Vorbereitungen. Vorher hatte sie sich nie etwas aus Feiern gemacht, im Gegenteil: Kaum war das Mittagessen vorbei und Papa gegangen, zog sie überglücklich ihren Jogginganzug an, ließ Küche Küche sein und sang Manu Chao mit uns auf dem Sofa. Jetzt aber ging sie mit mir zum Friseur.

»Einen Punkschnitt für uns beide«, sagte sie.

»Entschuldigung?«, fragte der Mann, der Inhaber.

Es war nicht Enzo – seinen Salon, der »super in« war, wie Beatrice schreiben würde, und sündteure Preise nahm und wo man dir während der Tönung sogar einen Kaffee anbot, sollte ich erst viel später betreten. Nein, der Laden, in den Mama mit mir ging, war spartanisch, an der Wand hingen verblasste Fotos von unmodernen Haarschnitten, und Damen gewissen Alters warteten unter den Trockenhauben.

»Kurz und burschikos«, erklärte Mama. »Wichtig ist, dass Sie uns die gleiche Frisur machen, mir und meiner Tochter.«

Wir saßen nebeneinander und gaben uns die Hand. Ein kleiner Augenblick schwachen, trügerischen Glücks. Der Spiegel spiegelte zwei ähnliche Bilder: zwei Karotten. Mama zwinkerte mir zu und lächelte, während zwei Mädchen mit ihren Scheren beherzt unsere Locken abschnitten. Sie hatte eine solche Macht, wenn wir allein waren, nur sie und ich, und sie mich liebte, dass ich die Versprechungen eines Jungen, einer Liebe, der Zukunft, des Lesens und Schreibens vergaß; ich hatte nur den einen Wunsch, wieder ein kleines Mädchen zu sein.

Unsere Männer empfingen uns mit einem »Wow!«, als wir nach Hause kamen, ausnahmsweise mal einer Meinung. Papa war sofort begeistert und suchte den Blick meines Bruders, und mein Bruder schämte sich und wandte sich ab. Tatsache war, dass wir hübsch waren, Mama und ich.

Wir waren sogar shoppen gewesen. In einer Parfümerie, einem Kurzwarengeschäft und schließlich in einem Bekleidungsgeschäft: Ein Vorrat an Höschen, BHs und Dutzende von neuen Kleidern für ein neues Leben. Mama flirtete mit Papas Kreditkarte. Aus Gewohnheit gingen wir weiterhin nur in Billigläden. Aber in T war Mama plötzlich aufgeregt, überspannt, wollte, dass ich Sandalen mit Absatz anprobierte und schwarze, vamphafte Etuikleider, silbern, golden, die nicht einmal Beatrice stehen würden, die dafür bekannt war, dass ihr alles stand.

Am Ferragosto-Abend um 20 Uhr waren wir bereit. Es ist ein wahres Glück, dass es kein Familienfoto von diesem Augenblick gibt; wir sahen nicht aus, als würden wir zu einem Abendessen gehen, sondern als hätten wir uns für den Karneval aufgetakelt. Mama hätte in ihrem langen, leuchtend rosa Kleid auf eine Balkan-Hochzeit gepasst. Papa, in Anzug und Hemd gezwängt, schien nicht mehr er selbst zu sein. Auf Drängen von Mama hin war er sogar mit dem Passat in der Autowaschanlage gewesen. Niccolò war nach wie vor Niccolò; hätten sie ihm auch noch gesagt, wie er sich zu kleiden habe, hätte uns das eine Nachricht unter den Verbrechensmeldungen eingebracht. Und ich, mein Gott, ich trug tatsächlich ein goldenes Etuikleid mit Schlitz und Dekolleté.

Auf der Fahrt ins Restaurant betete ich, dass wir Lorenzo nicht begegneten und er mich nicht so sähe.

Wir wussten nicht, dass wir auf die Schnauze fallen würden. Papa fuhr vorsichtig und achtete auf die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Wir waren wie eine eingegrabene Kriegsbombe; würden wir explodieren? Ja, nein.

Wir hörten »Basket Case«. Ich erinnere mich an ein paar prophetische Verse: »Grasping to control / So I better hold on.« Mama summte mit, Papa bemühte sich, dieser Musik etwas Positives abzugewinnen, er, der nur Mozart liebte. Die Straßen waren verstopft und die Strände übersät von Feuern, um die junge Leute saßen und sich Joints weiterreichten, während sie auf das mitternächtliche Bad im Meer warteten. Durch die Wagenfenster drangen der Scirocco und die Elektrizität, die in der Luft lag, herein. Es war mir gelungen, nein zu den Absätzen zu sagen und meine Springerstiefel anzuziehen. Niccolò drückte meine Hand, um seine Nervosität abzureagieren. Hatten wir schon mal im Auto gesessen mit Mama und Papa vorn und wir hinten? Nie.

*

Eines Tages wird sie auf die Idee kommen, jemanden zu engagieren, der ihre Biographie schreibt – ich spreche von Beatrice. Mit Sicherheit wird sie nicht mich fragen; wir sprechen seit mehr als dreizehn Jahren nicht mehr miteinander. Und ich würde nicht mal im Traum daran denken, das Angebot anzunehmen; ich erinnere mich nur zu gut an unseren letzten Streit, den endgültigen. Aber ich weiß, dass ich die Einzige auf der Welt bin, die dieses Buch schreiben könnte.

Wir überschritten die Schwelle des Restaurants La Sirena alle vier gemeinsam an jenem Ferragosto-Abend, eingeschüchtert, aber mit dem beruhigenden Gefühl, reserviert zu haben. Wir durchquerten den inneren Gastraum, der bereits voll war, und gelangten auf die Terrasse, von der man einen herrlichen Blick aufs Meer hatte.

Die Sterne zitterten gespiegelt auf dem Wasser; die ruhige Bewegung der Wellen und das Gemurmel der Gäste bildeten das einzige Hintergrundgeräusch; jeder Tisch war mit Tischdecken aus Leinenbatist und Silberbesteck gedeckt; über unseren Köpfen nur das nächtliche Himmelsgewölbe und stimmungsvolle Papierlaternen, die von einer Pergola herabhingen. Mama geriet in wahre Verzückung, Niccolò war angewidert. Mich dagegen beeindruckte das Mädchen mit dem sagenhaft glänzenden Haar, helles Kastanienbraun mit goldenen Spitzen, mit den smaragdgrünen Augen und einem weißen Firmungskleid, umgeben von einer perfekten Familie.

Warum fiel sie mir auf? War es möglich, dass in einem bis auf den letzten Stuhl vollbesetzten Restaurant das einzige Gesicht, auf dem mein Blick verweilte, ihres war?

Ich hatte so viel gelesen, Tausende Beschreibungen von unsichtbaren und legendären Personen, die mir dabei halfen, sie zu erkennen. Dass sie magisch war, daran bestand nicht der geringste Zweifel: Ihr Blick strahlte die Macht der Zauberei aus, ihr Lächeln hatte etwas Hexenhaftes. Und meine Wahl fiel augenblicklich auf sie.

Ich weiß nicht, wie lange ich sie anstarrte, während meine Eltern darauf warteten, dass jemand uns zu unserem Tisch führte, während die Kellner sich nur um sie zu kümmern schienen: Mutter, Vater und drei Kinder am Tisch in der Mitte, der einzige runde, in einem gewissen Abstand von den anderen, der mit der besten Sicht, einem Meer von Blumen und Spumante im Eiskübel.

Ginevra dell’Osservanza war elegant, aber schlicht: ganz in Schwarz und hochgeschlossen. Das Haar zu einer vornehmen Frisur zusammengebunden. Übertrieben hatte sie nur, was den Schmuck betraf: Diamanten am Hals, an den Ohren, an den Fingern, an den Handgelenken. Sie machte den Prinzessinnen von Monaco und den Präsidentenfrauen Konkurrenz, die ich gesehen hatte, als ich beim Friseur in Novella 2000 geblättert hatte. Und Riccardo Rossetti saß da in der Haltung des Gewinners. Gerade Schultern, die Hand angewinkelt, um das Kinn zu stützen, während er seinen Kindern zuhörte. Krawatte und Hemd trug er ganz natürlich, ohne dieses Gefühl des Eingezwängtseins, das ich bei meinem Vater bemerkte. Sie lächelten in dem Bewusstsein, beobachtet zu werden, stolz auf ihren Nachwuchs. Der Kleine hatte die gleiche blonde Pagenfrisur wie der Kleine Lord. Die Ältere schimpfte mit dem kleinen Bruder, wenn er sich bekleckerte, aber auf eine nette Art; auch sie war untadelig gekleidet und geschminkt – einziger Verstoß: ein kleinkarätiger Brillant über dem rechten Nasenloch. Und schließlich Beatrice, noch unreif und voller Möglichkeiten. Wer auch immer heute gehässig über sie spricht und andeutet, alles an ihr sei künstlich, hätte an dem Abend dort sein sollen.

Ob ihre Familie real war oder fiktiv, sollte ich erst später herausfinden. In dem Augenblick war ich bezaubert von ihrer Schönheit. »Beneidet uns«, schienen sie zu sagen mit ihrer Herzlichkeit und Fröhlichkeit. Die Kinder scherzten mit den Eltern, die Eltern mit den Kindern, alle waren befreundet an jenem Tisch.

Als ich mich mit meiner Familie an unsren Tisch – seitlich, viereckig, ohne Blumen – setzte, beobachtete ich uns von außen, sah erneut zu den Rossettis, und der Vergleich war so gnadenlos, dass es mich demütigte. Wir hatten uns nichts zu sagen, wir waren hässlich. Papa kannten wir kaum, Mama machte nichts anderes, als die Serviette und die Gabel in die Hand zu nehmen und wie ein kleines Mädchen vor Begeisterung zu jauchzen. Bei uns stimmte etwas nicht: innen, an der Wurzel. Und auch äußerlich: Clowns. Meine Schenkel schauten aus dem Kleid, ich hielt eine Hand vor den Ausschnitt, um mich zu bedecken. Und auch sonst.

Alles hier war zu viel: die Preise auf der Speisekarte, die Gänge, die Pianobar im Laufe des Abends. Wir waren keine Stammgäste. Ich glaube, dass auch Mama, Papa und Niccolò sich schuldig fühlten, unter Druck. Vielleicht war es das, was uns zum Verhängnis wurde.

Beim Essen wandte ich meinen Blick nicht von dem fabelhaften Mädchen. Wie alt bist du?, fragte ich sie in Gedanken. Wo gehst du zur Schule? Was liest du? Bist du jemals traurig? Ich bat sie, mich abzulenken, mich zu retten, während an meinem Tisch alles auseinanderfiel.

Mama übertrieb mit dem Wein, das ist eine Tatsache. Eine andere ist, dass Niccolò gleich nach der Vorspeise aufstand und eine Ewigkeit auf der Toilette blieb. Und allmählich erregten wir die Aufmerksamkeit der anderen, als Mama anfing, ordinär zu lachen, laut peinliche Anekdoten zu erzählen und Niccolò schwankend von der Toilette zurückkam.

Papa bemerkte es.

»Liebling, bitte hör auf zu trinken«, sagte er ganz ruhig.

»Lass mir doch mein Vergnügen«, protestierte Mama. »Wenigstens ein Mal.«

Als Niccolò sich gesetzt hatte, wandte sich Papa auch an ihn: »Ich mache mir ernsthaft Sorgen.«

Da mein Bruder nicht reagierte, suchte Papa Hilfe bei Mama: »Annabella, du hattest mir doch von Joints erzählt, ich habe das Gefühl, dass die Situation aus dem Ruder läuft und wir uns an einen Spezialisten wenden müssen.«

Bei dem Wort »Spezialist« kamen Mama und Niccolò wieder zu sich und brachen in Gelächter aus. Sie schütteten sich aus vor Lachen, krümmten sich vor Lachen. Der ganze Saal beobachtete uns jetzt. Papa wurde blass. Ich spürte, wie die Angst aus meinem Magen am Brustbein hochstieg. Ich hatte aufgehört zu essen, keiner von uns aß noch. Nur Mama trank weiter.

»Ich glaube nicht, dass es viel zu lachen gibt.« Papa versuchte, wieder für Ordnung zu sorgen. »Drogen haben schlimme Auswirkungen, sie beeinträchtigen die kognitiven Fähigkeiten.« Er sprach jetzt lauter. »Niccolò setzt seine Zukunft aufs Spiel, und du hast mir nichts davon gesagt.«

Mama fasste sich wieder und bemühte sich, eine vernünftige Antwort zu geben. Ich sah, wie sie sich das Hirn zermarterte auf der Suche nach einem Sinn, einer Richtung, einer Bedeutung, mochte sie auch leer sein, Hauptsache, sie klang italienisch. Sie strengte sich an, aber alles, wozu sie in der Lage war, war, erneut in Gelächter auszubrechen. »Paolo, wie langweilig du doch bist. Er ist ein Jugendlicher, in seinem Alter ist es gesund, Grenzen zu überschreiten!«

»Und in deinem?« Ein alter Groll aus einer fernen Ecke, lange unter Verschluss gehalten, kam wieder hoch und gewann die Oberhand. »So bist du immer gewesen: unüberlegt, egoistisch, unreif, solange ich mich erinnern kann. Aber du bist jetzt zweiundvierzig, Anna.«

»Na komm schon, lass uns irgendwo hingehen und miteinander schlafen.« Mama blickte sich um, als suchte sie einen Ort. Sie zwinkerte ihm zu: »Das vertreibt deine Nervosität.«

Anstatt sie anzusehen, schaute Papa mich an. Ernst, peinlich berührt. Ich glaube, ich habe es mit Ach und Krach geschafft, die Tränen zurückzuhalten. Wir ähnelten uns. Wir waren die beiden einzigen Nüchternen am Tisch, die Einsamsten. 0 und 1, sollte er mir im Winter beibringen, als es in T nur noch ihn und mich gab, sind die Basis der digitalen Revolution. Leer, gefüllt. Du bist nicht da, du bist da. Du kannst auf mich zählen, du kannst nicht auf mich zählen. Mama und Niccoló waren genau das: eine Null, ein Mangel, eine Enttäuschung, die tief in meiner Seele steckte. Nicht nur das, aber auch – auch.

»Ich glaube, wir sollten besser gehen«, sagte Papa.

»Warum? Wir sind erst beim zweiten Gang. Ich will das Feuerwerk sehen.«

»Niccolò muss sich ausschlafen, besser noch bringen wir ihn in die Notaufnahme.«

»Ach was, uns geht’s doch wunderbar!«

Mein Bruder saß in sich zusammengesunken da, nur momentweise anwesend. Er phantasierte. Mama konnte es nicht lassen, zu schreien, zu gestikulieren, sich zum Narren zu machen. Alle starrten uns immer noch unverwandt an. Auch die perfekte Familie am Mitteltisch, die sich mit dem gebotenen Anstand umgedreht hatte, um diese unglückliche, so tief gesunkene Familie zu bemitleiden: meine.

»Ich habe zugelassen, dass du meine Kinder zugrunde gerichtet hast.« Auch Papa verlor die Kontrolle. »Ich hätte mich der Entscheidung des Gerichts widersetzen sollen: Du bist unfähig, dich um dich selbst zu kümmern, und erst recht um andere. Ich werde alle Vereinbarungen überprüfen lassen«, drohte er wütend. »Ich werde dafür sorgen, dass du zumindest sie nicht zerstörst«, und er deutete auf mich.

Ich war mir sicher: Es war meine Schuld.

»Warum hast du dann gesagt, dass du mich liebst?« Mama brach in Tränen aus. »Dass du mich nicht vergessen hast, dass …« Sie konnte den Satz nicht beenden. »Arschloch!«

»Liebe bedeutet Verantwortung. Aber schau sie dir an, schau dir an, was du aus ihnen gemacht hast.«

Durch den Alkoholnebel blickte Mama uns an. Zuerst Niccolò, dann mich. Ihr Blick tat mir weh. Was war in ihm? Nichts. Aber wenn es nur nichts gewesen wäre, wäre es besser gewesen. Doch da war auch Zuneigung in ihm, ihre Liebe, die sich auf unvorhersehbare, wechselhafte, anarchische, übertriebene Weise gezeigt hatte, aber nie verantwortungsvoll: das nie.

Ich sah, wie sie ihre Gedanken, ihre Kräfte sammelte, sich ihr Haar richtete.

»Und wo warst du?«, schleuderte sie ihm ins Gesicht, die Schminke verschmiert und das Kleid voller schwarzer Tränenflecken. »Du beschwerst dich über das Ergebnis. Es gefällt dir nicht? Aber was hast du denn getan? Ich habe ihnen zu essen gegeben, ich habe sie in die Schule gebracht, ich habe ihnen das Thermometer in den Hintern gesteckt, ich habe mit ihnen samstags und sonntags Karten gespielt. Du hast nur Karriere an der Universität gemacht, du Mistkerl.«

Papa saß starr da, die Serviette in der Hand. Er drückte sie, bis er sie völlig zerknittert hatte. Ich erkannte auf seinem Gesicht ein Gefühl der Schuld, der Ungerechtigkeit und der Ohnmacht. Er wollte den Mund öffnen und sich verteidigen, doch in dem Augenblick kam ein Kellner, um uns verlegen zu fragen: »Alles in Ordnung, Herrschaften?«

Ich sprang auf und warf den Stuhl um. Weinend, in dem Kleid, das mich behinderte und mich stolpern ließ vor den mitleidigen Blicken der Anwesenden – in Wahrheit weiß ich das nicht, denn ich bedeckte vor Scham mein Gesicht mit der Hand –, rannte ich hinaus.

Die Kinder. Ich lief auf gut Glück die Strandpromenade entlang auf der Suche nach einem Versteck. Schuld sind immer die Kinder. Ich wollte in einem Loch versinken und verschwinden. Ich klettere über ein Mäuerchen und landete auf dem Strand, in einem dunklen und menschenleeren Abschnitt, fern der Gitarren, der Feuer und des Glücks der anderen.

Ich setzte mich auf den Sand und umfasste schluchzend meine Knie. Weil die Eltern sich ohne die Kinder vielleicht nicht streiten, sich nicht trennen würden.

Ich wollte sterben. Mit aller Klarsicht und Vernunft. Niemand kann es ohne Familie schaffen, und ich hatte keine und verdiente keine. Ich sah keine Zukunft vor mir, mit Ausnahme des Meeres.

Untertauchen wie Virginia Woolf, das war mein Gedanke. Die Zeit zurückdrehen, nicht laufen, nicht mehr reden, rückwärts, nicht atmen, nicht geboren werden, drinbleiben, gestrandet auf dem Grund des Wassers.

Aber ich spürte eine Hand, die sich auf meine Schulter legte.

*

Sie war es.

Als ich den Kopf hob und sie sah, war ich fassungslos. Ich hätte mit allem gerechnet, einem alten Mann, der keinen Schlaf fand, jemandem, der mir übelwollte, Papa, der mich suchte. Aber nicht mit dem Mädchen von dem Tisch in der Mitte des Restaurants.

»Wein nicht«, sagte sie mit einem sanften, strahlend weißen Lächeln, zwei Grübchen mitten auf der Wange, die man am liebsten mit dem Finger berührt hätte: Sie verschwanden und tauchten wieder auf, sobald sie die Lippen bewegte. Der Mond tauchte sie in silbriges Licht. Sie hatte sich von ihrem Planeten gelöst, um meinen kennenzulernen.

»Sie werden sich wieder vertragen«, log sie, um mich zu beruhigen.

Sie zog sich die Sandalen aus, setzte sich neben mich und schob die nackten Füße, die rot lackierten Zehen in den Sand. Ich fror. Sie bemerkte es und nahm meine Hand in ihre.

Wieso?, fragte ich sie stumm. Du hast deine wunderschöne Familie allein gelassen, um zu mir an diesen dunklen Ort zu kommen? Das ergibt keinen Sinn.

»Ich verstehe dich«, antwortete sie mir. »Meine Familie würde in der Öffentlichkeit keine solche Szene machen, aber zu Hause. Zuerst schließen sie alle Fenster, und du kannst dir nicht vorstellen, was dann folgt.«

»Aber wenn sie nicht vor Publikum streiten«, erwiderte ich, »ist das ja schon mal was.«

»Sind ich und meine Geschwister etwa kein Publikum? Vor uns nennen sie sich Nutte, Hurenbock, sie kratzen sich, und es ist ihnen völlig egal, ob wir ihnen dabei zuschauen. Aber vor anderen, oh, da würden sie lieber sterben.«

Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, zwei Smaragde hingen von ihren Ohrläppchen, in der gleichen Farbe wie ihre Augen; in der Dunkelheit sah ich sie funkeln. Ihr Gesichtsausdruck enthielt ein Geheimnis. Einen Augenblick wirkte sie traurig, im nächsten triumphal.

»Du kannst ausgehen, ohne dass alle dich sofort für die Tochter von zwei Verrückten halten«, machte ich mir Luft. »Du musst dich nicht immer schämen: in der Autobahnraststätte, im Restaurant. Du bist frei.«

»Ich tu nur so.«

Das klang richtig für mich: Haltung bewahren, die Stürme verbergen, die in einem toben. Besser erscheinen, und wen interessierte schon die Wahrheit?

»Du weißt nicht, was ich vorhin dafür gegeben hätte, an deinem Platz zu sitzen«, gestand ich ihr. »Mein Leben gegen deins zu tauschen.«

»Tatsächlich? Dann würdest du sie zu spüren kriegen, die Ohrfeigen meiner Mutter.« Sie berührte lachend ihre Wange. »Einmal hatte ich hier einen blauen Fleck von ihr, und danach musste sie mir sowohl Abdeckcreme als auch Grundierung auflegen. Ich war in der vierten Klasse. Die Lehrerin hat gesehen, dass ich geschminkt war, und hat mich angeschrien: ›Glaubst du etwa, es ist Karneval? Wasch dir sofort das Gesicht!‹ Aber hätte ich mich gewaschen, wäre es noch schlimmer gewesen.«

»Und was hast du gemacht?«

»Ich hab versucht wegzulaufen.«

»Aus der Schule?«

»Ja, aber es war unmöglich. Also hab ich meine Mutter vom Telefon der Schulwarte aus angerufen und ihr gesagt, sie solle mich abholen. Sie hat mir eine Barbie gekauft.«

Mich überraschte weniger die Geschichte als der Ton: glasklar, ohne den geringsten Groll.

»Auch meine fällt von einem Extrem ins andere.« Ich drehte mich um, um ihr eine Narbe auf dem Rücken zu zeigen, die ich schon lange hatte.

»Eine schöne Tätowierung«, lautete ihr Kommentar.

Wie wir so miteinander reden konnten, ohne uns zu kennen, weiß ich nicht. Vielleicht passiert das allen Jugendlichen, dass sie die Kleider ablegen, um die Wunden zu vergleichen, die ihre Mütter ihnen zugefügt haben, und damit zu prahlen.

»Sie mag verrückt sein, aber sie ist sympathisch«, sagte sie vergnügt. »Weißt du, was meine Mama zu meinem Papa gesagt hat, als ihr gekommen seid? ›Richi‹«, äffte sie sie nach, »›jetzt kommen die Zigeuner auch schon hierher.‹« Wir brachen in Gelächter aus. »Auch dein Bruder ist drollig. Ich hab euch während des ganzen Abendessens beobachtet. Ich hatte noch nie einen Drogensüchtigen in echt gesehen.«

»Du hast uns beobachtet?«

»Wenn du uns nicht gerade ausspioniert hast, hab ich euch ausspioniert.«

Das Meer vor uns war schwarz und dickflüssig wie Öl. In der Ferne zogen die älteren Jugendlichen sich aus und nahmen Anlauf, um sich hineinzustürzen. Sie küssten sich nackt und mit nassen Haaren im Wasser. Es war August, der Himmel überschwemmte uns beide »mit Sternentränen«.

»Du bist schön«, sagte ich spontan.

»Du auch, aber dein Kleid ist scheußlich.«

Ich brach erneut in Gelächter aus, ich war begeistert.

Ich wollte nicht mehr sterben.

»Umarm mich«, bat ich sie.

Und heute frage ich mich, wie es möglich war, dass ich mich dazu hatte hinreißen lassen. Ich, die nie zugelassen hatte, dass mich jemand berührte, der nicht meine Mutter oder mein Bruder war, zumindest in Biella, und panische Angst vor körperlichem Kontakt hatte. Aber in T wollte ich erwachsen werden.

Tatsache ist, dass Beatrice ein verzaubertes Wesen war, und ich – wie die verwaiste Protagonistin eines Romans – hatte es verstanden. Sie stammte aus einem Märchen und war auf die Erde gekommen, um mich zu retten. Berühr mich, dachte ich, erfüll meine Wünsche. Sie breitete die Arme, die Beine aus, als wollte sie sagen: »Komm her.« Ich kam zu ihr. Verkroch mich in ihr. Sie schloss sich um mich und drückte mich. Sie legte ihr Kinn auf meine Schulter und schlug vor: »Warten wir auf eine Sternschnuppe.«

Zehn Minuten, vielleicht eine Viertelstunde verharrten wir so in stummem Warten. Dann fiel wirklich ein Pünktchen, die Flamme eines Streichholzes im Universum, die innerhalb eines Augenblicks verlosch. Wir zuckten beide zusammen, schlossen die Augen, wünschten uns intensiv etwas, öffneten sie nacheinander wieder und riefen: »Erledigt!« Ich weiß nicht, was sie sich gewünscht hatte, aber meinen Wunsch kann ich, da er sich nicht erfüllt hat, verraten: dass wir ewige Freundinnen würden.

Das war ein kurzer Moment. Wie alle Erscheinungen, unerwarteten Geschenke, Überraschungen dauerte er nur einen Atemzug. Als oben auf der Klippe das Feuerwerk begann, stand sie auf und sagte, sie müsse gehen.

»Wie heißt du?«, fragte ich sie, mehr um sie aufzuhalten, als um es zu wissen.

»Beatrice. Und du?«

»Elisa.«

»Wir sehen uns wieder, Elisa, ich versprech’s dir.«

Stattdessen verschwand sie, so wie Lorenzo verschwunden war.

Sie kehrte auf ihren hellen Planeten zurück, ich sah sie nicht wieder.

Bis zum 18. September.

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