Читать книгу Bilder meiner besten Freundin - Silvia Avallone - Страница 12
6 Die Stunde der Epik
ОглавлениеBeatrice kam als Letzte in die Klasse, zeitgleich mit der Schulglocke um 8 Uhr 20, und ihre neuen langen Haare – rot und kraus – flatterten ihr ins Gesicht. Sie ging direkt auf meine Banknachbarin zu, ein armes Mädchen, an dessen Namen ich mich nicht einmal mehr erinnere, schüchtern, mit Adlernase und einem Sprachfehler. Sie forderte sie auf, sich umzusetzen, neben Biella werde von nun an sie sitzen.
Es war ein Augenblick seligen Triumphes für mich. Weil es sich vor allen anderen abspielte, die sich ungläubig zu uns drehten; und weil es unser öffentliches Debüt als beste Freundinnen markierte. Ich sollte sie in Zukunft oft kritisieren, viele ihrer Entscheidungen nicht teilen, das diametrale Gegenteil von ihr bleiben, aber eines muss ich ihr zugestehen: Sie ist immer mutig gewesen.
Sie nahm den Schulranzen ab und zog den Mantel aus. Als sie sich gesetzt hatte, schleuderte sie einen herausfordernden Blick in die Runde: »Na, überrascht?«
Wir waren offiziell Barbie Supermähne und die Zugereiste.
Ich berührte ihr Haar, ich konnte einfach nicht widerstehen: so weich und glänzend wie das der Puppe, die auch ich in der Grundschule gehabt hatte. Ich erinnerte mich an die strohige Verunstaltung vom Tag zuvor und fragte: »Wie hat dein Friseur es nur geschafft, sie so zu verwandeln? Das ist Magie.«
»Nein, das ist eine Perücke«, erwiderte sie. »Enzo hat sie mir ziemlich kurz schneiden müssen. Und ich muss sie mit einem stärkenden Öl behandeln, mindestens zwei Wochen lang. Ich bin nicht präsentabel, hat Mama gesagt. Sie hat sogar geweint.« Sie lachte.
Die Klasse betrachtete sie weiterhin verstohlen, mit einer Mischung aus Genervtheit und Bewunderung. Sie hatte ihre Augenlider mit Glitzer bestreut, als wollte sie in die Disco gehen. Damals wurde sie nicht von Fotografen belagert, aber sie kam in die Schule und haute auf die Kacke, einfach weil es ihr Spaß machte. Sie hat, soweit ich mich erinnere, nie Schuhe getragen, die die anderen trugen, Jacken, die in Mode waren. Wenn sie Lust hatte, einer Barbie von 1993 zu ähneln, dann wurde sie eine, sofern die Mutter es erlaubte.
»Spürst du ihre Blicke?« Sie kam mit ihren Lippen ganz nah an mein Ohr und hielt die Hand davor. »Reizen sie dich nicht?«
Nein. Was mich betörte, war ihr Atem an meinem Ohrläppchen, ihr Knie an meinem und dass sie sich so demonstrativ auf meine Seite geschlagen hatte.
»Ich wollte deine Karottenfarbe, ich hab darum gekämpft. Aber Mama und Enzo haben sich geweigert, und ich musste mich mit Kirschrot abfinden.«
Die Lehrerin Marchi kam, und wir verstummten. Sie setzte sich hinter ihr Pult, registrierte die neue Sitzordnung und die neuen Haare, sagte aber nur: »Seite 220, Odyssee, Buch VI.«
Sie war eine strenge Frau, die kein Vertrauen einflößte: »Ich bin nicht eure Freundin, sondern die Italienisch-, Latein- und Griechischlehrerin.« Sie war dreißig, sah aber aus wie fünfzig.
Beatrice und ich suchten eifrig die Seite. Die Marchi begann zu lesen, und wir folgten ihr aufmerksam. »›Einsam wohnen wir, mitten im wellenwogenden Meere, / Ganz am Ende, kein anderer Sterblicher kann sich uns nähern.‹«
Ich benutzte zum Unterstreichen einen spitzen Bleistift und beschränkte mich auf die Verse, die mich beeindruckten. Bea dagegen hatte einen Textmarker, den sie wie eine Rolle zum Einfärben benutzte: Titel, Text, Exegese, sie markierte alles. Ich weiß nicht, wie sie es anstellte, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Aber es machte mich euphorisch, sie neben mir zu spüren, in ihr Federmäppchen zu spähen, ihren Geruch nach Pfirsichcreme in der Luft wahrzunehmen.
»›Der da, ein unglückselig Verschlagner, ist dennoch gekommen / Hieher zu uns; wir müssen ihn pflegen; von Zeus sind ja alle / Bettler und Fremdlinge.‹«
Die Marchi unterbrach die Lektüre und wartete, dass wir den Kopf hoben und ihr ins Gesicht blickten: »Im antiken Griechenland gibt es keine wichtigere Pflicht als die Gastfreundschaft. Sie ist keine moralische oder politische Verpflichtung, sondern eine religiöse. Nausikaa sieht Odysseus nackt, furchtbar, ›beschmutzt von salziger Kruste‹, die Mägde fliehen, aber sie erkennt in ihm hinter der äußeren Erscheinung ein Geschenk von Zeus.«
Gelächter: »Die Biella ist ein Geschenk von Zeus! Beschmutzt ist sie mit Sicherheit!« Ich wusste, worauf meine Klassenkameraden hinauswollten, und hasste die Marchi für die Wahl dieses Textausschnitts. »Nackt, nackt!« Von hinten. »Und wie sagte sie Mazzini? Ah, ah, Mazzini!« Es war nichts Neues, und doch schämte ich mich, nicht ihretwegen, meinetwegen. Ich wandte den Blick vom Buch zum Fenster.
Die Pascoli war so verfallen, feucht und schäbig, dass sie in fünf Jahren wegen Baufälligkeit und Mangel an Schülern geschlossen werden würde. Doch sie hatte den Vorzug einer herrlichen Lage, vielleicht der schönsten ganz Italiens. Aus jedem Fenster konnte man das Meer sehen.
Ich verlor mich in seinem Anblick. Wenn der Unterricht mich nicht interessierte oder die anderen sich über mich lustig machten, stahl ich mich mit ihm davon. Es war in mein Leben getreten, hatte eine Leere besetzt und der Verlassenheit eine Gestalt gegeben, die ich mir zwischen Brustbein und Herz eingenäht hatte. Die objektive Ergänzung, wie ich in der Folge lernen sollte, der Ort, an dem man ein Loch graben und das Gefühl begraben konnte, das man nicht zu benennen vermag.
Beatrice streckte die Hand nach meinem Buch aus und holte mich zurück in den Unterricht. Ohne dass die anderen es bemerkten, schrieb sie in eine Ecke der Seite: »Wer ist er?«
Ich verstand nicht. Die Marchi setzte die Lektüre der Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa fort. Bea wurde ungeduldig und fügte hinzu: »Der Junge! Wer ist er?«
Ich benutzte die Epikstunde, um darüber nachzudenken. Es kostete mich Überwindung, es war gar nicht so einfach. Aber ich hatte noch nie eine Freundin gehabt. Und eine solche wie Supermähne hätte ich mir nicht mal zu erträumen gewagt. Und jetzt saß ich neben ihr; ich musste sie mir verdienen, ich musste es ihr sagen.
An den Rand ihres Buchs schrieb ich in kleiner, winziger Schrift: »Ich zeig ihn dir in der Pause.«
*
Die Pausen davor hatte ich im Klassenzimmer verbracht, allein mit meiner Crostatina, vor dem Fenster und die Hände auf der Heizung. Diese zehn Minuten belasteten mich mehr als fünf Stunden Unterricht. Manchmal blieb auch meine ehemalige Banknachbarin; sie tat so, als käme sie schon zurück, gebeugt, traurig. Ich spiegelte mich in ihr und sie sich in mir, und keiner sagte ein Wort.
An dem Dienstag aber zog Beatrice mich mit sich von den Rändern ins Zentrum. Das Gefühl, das ich empfand, als ich Arm in Arm mit ihr auf den Flur hinaustrat, war gewaltig und befreiend. Ich kannte den Rest des Gebäudes, die Treppen, die Stockwerke. Bea wollte jede Ecke durchkämmen, in der Toilette nachschauen, bis wir den Jungen aufgestöbert hätten.
»Erzähl mir alles«, befahl sie. Und ich gehorchte, während ich mein Schulbrot knabberte und hinter ihr herlief, die wie immer auf Diät war. Während alle sich umdrehten und sie grüßten, neugierig oder verärgert über meine Anwesenheit, falsche Schlangen: »Was für schöne Haare, sie stehen dir super!«
Mir wurde langsam bewusst, wie wenig sie geliebt wurde. Sie war schon damals einen Meter fünfundsiebzig groß, hatte eine schlanke Taille und einen Bauch, der so flach war, einen Po, der so fest war, und Beine, die so lang und dünn waren, dass sie wohl nie einen Pausensnack verdrückt hatte. Sie ragte zu sehr heraus, war allen überlegen. Sie ging allen auf den Sack, das sah ich in den Gesichtern der anderen, die, zumindest dort unten, in dieser abgelegenen Provinz, dazu bereit waren, die schönen Mädchen zu bejubeln, wenn sie im Fernsehen auftraten, aber wenn sie eines von ihnen unter sich fanden, zögerten sie nicht, sie fertigzumachen.
In der Schlange vor dem Getränkeautomaten hörte Bea nicht auf, mich zu auszufragen: »Ist er hier? Siehst du ihn?«
»Nein«, antwortete ich jedes Mal erleichtert.
Sie warf eine Münze ein und tippte den Code für den Ristretto. Sie trank ihn bitter. »Er ist nicht zu Hause geblieben?«
»Sein Motorroller war heute Morgen da.«
»Gut, wenn er nicht drin ist, dann ist er draußen.«
Ich begriff, dass sie es ernst meinte, und hielt sie zurück: »Lass gut sein.« Es fehlten vielleicht noch drei Minuten bis zum Ende der Pause. Bea ignorierte meine Widerspenstigkeit, zog mich zu einem Notausgang und drückte die Tür auf. Wir gelangten in einen windgeschützten Innenhof, in dem Gruppen größerer Jungs im Kreis oder auf den Feuerleitern sitzend rauchten. Sie hieß mich auf eine von ihnen steigen und sagte: »Such ihn.«
Es war kalt, und wir waren die Einzigen ohne Jacken. Standen dort oben und rieben uns die Hände, beide mit roten Haaren.
Ich musterte die verschiedenen Gruppen und erkannte ihn. Ich zeigte Bea seinen blonden Kopf: »Es ist der da.«
»Machst du Witze?« Sie schrie fast. »Das ist Lorenzo Monteleone.«
Jetzt kannte ich seinen Nachnamen. Und er nutzte mir gar nichts.
»Die Familie ist super in. Wir sind auch ein paarmal zum Abendessen bei ihnen gewesen, mit meiner Mama, die sabberte und dahinschmolz. Sein Vater war Bürgermeister. Jetzt arbeitet er für die Regionalregierung. Seine Mutter ist Richterin oder so was. Er ist Einzelkind. Sonst noch was? Er wohnt an der Piazza Roosevelt …«
So viele Informationen, dachte ich, um mit einem Mal Monate des Phantasierens und des Schweigens, des Auflauerns und des Wartens zu füllen. Er war also ein »Sohn von« und kein Robin Hood, wie ich mir vorgestellt hatte. Waise, aufgewachsen bei einem alten Buchhändler, ein kompletter Dickens’scher Roman, den ich im Kopf geschrieben hatte, aber die Wirklichkeit war eine andere und konnte wie folgt zusammengefasst werden: die flüchtige Erscheinung eines Sommers. So wie die Götter den Menschen erscheinen: Sie paaren sich mit ihnen in Gestalt eines Schwans und verschwinden wieder.
Nach dem Kuss war ich jeden Tag in die Bibliothek zurückgekehrt. Ich war vormittags und nachmittags dort gewesen, von meinen Eltern hingefahren oder zu Fuß. Darauf beharrend, revoltierend wie ein Raubtier: »Ich muss hingehen, ich muss!« Während meine Eltern mich überrascht darauf hinwiesen, dass Sonntag sei und die Bibliothek geschlossen sei. Vielleicht hat mein Vater sich auch deswegen beeilt, mir ein Motorrad zu besorgen.
Ich hatte mir einen Ausweis ausstellen lassen und die Gedichte von Ossip Mandelstam über zwei Monate lang reserviert. Ich hatte sie gelesen, wiedergelesen, auswendig gelernt. Den ganzen Juli, den ganzen August. Bei jedem Quietschen der Tür vom Tisch aufgeblickt, in der Hoffnung, er wäre es.
Aber nichts.
Gar nichts.
Also stand ich auf, um ihn draußen zu suchen, wo die normalen Jungs lebten und am Strand Fußball spielten und sich sonnten. Ich betete, ihn zu finden, zugleich aber auch, ihn nie zu finden. Ihn nicht an der Bar mit seinen Freunden und vom Sand schmutzigen Füßen zu entdecken, oder hinter einem Felsen eng umschlungen mit einem Mädchen. Ich suchte die ganze Küste ab. Ich war sogar bis zum Eisenstrand gefahren. Dann hatte die Schule angefangen.
Papa hatte Mitte Juli, ich weiß nicht wo – »im Internet«, hatte er gesagt, aber was das Internet war, wusste ich damals nicht –, den Quartz gefunden. Ein lächerlicher, mäßig erfolgreicher zweizylindriger Roller, dessen Produktion 97 eingestellt wurde. Als ich zum ersten Mal vor dem Gymnasium parkte, bemerkte ich sofort, dass das einzige Exemplar meiner war, und ich war so böse, so wütend auf ihn: Siehst du nicht, wie ich jetzt dastehe, ich bin neu, alle machen sich über mich lustig, und du drehst mir so einen Schrotthaufen an?
Ich glaube, das ist ihm überhaupt nicht bewusst gewesen. Wie jemand herumlief, in was für einer Kleidung, mit was für einer Frisur, und mit was für einem Transportmittel er unterwegs war, hatte für ihn tatsächlich keine Bedeutung. Nur die Intelligenz zählte, nur was jemand wusste und zu sagen hatte. Aber erklär das mal der Welt, Papa, dieser Welt! Und dann hatte Niccolò, um mir was Gutes zu tun, am Zeitungskiosk einen Block mit Aufklebern gekauft, überzeugt, man müsse ihn irgendwie aufpeppen, und hatte ihm den Gnadenstoß versetzt, indem er ihn in einen »Punk-Motorroller« verwandelt hatte.
Ausgerechnet als ich eines Morgens im September auf dem Parkplatz abbremste, hatte ich Lorenzo wiedergesehen, im Sattel eines schwarzen Phantom. Ich hatte ihn erkannt, noch bevor er den Helm abgenommen hatte. Er hatte mich auch gesehen und hatte angehalten. Mit traurigen Augen hatte er zwei Finger zum Gruß erhoben. Ich hatte gewendet und mir einen Platz weiter weg gesucht. Wegen was, wegen wem hatte er gelitten? Kannte ich ihn? Nein. Ich hatte nur anhand seines Namens phantasiert. Die Zeit war vergangen, die Enttäuschung war verflogen.
»… und, tut mir leid, dir das zu sagen, er hat eine Freundin.«
»Das ist die Erklärung«, antwortete ich Beatrice und betrachtete Lorenzo, der mit den anderen hineinging. Die Glocke hatte bereits geläutet.
»Aber du hast mir doch gesagt, ihr hättet euch geküsst!«
»Das stimmte nicht.«
Sie versetzte mir einen Stoß. »Valeria ist ein Miststück. Seine Freundin, meine ich. Er ist nicht böse, ich kenne ihn. Er ist seltsam, macht ein bisschen auf Dichter. Sie verdient es, betrogen zu werden.«
Ich wusste nicht, wer diese Valeria war. Und vom Betrügen hatte ich keine Ahnung. Nachdem meine Mutter und mein Bruder ohne mich nach Biella zurückgekehrt waren, hatte ich aufgehört, in die Bibliothek zu gehen. An den endlosen Nachmittagen nach der Schule, wenn die Hausaufgaben erledigt waren und bevor es dunkel wurde, tankte ich für 5000 Lire mit dem einzigen Ziel, nicht nachdenken zu müssen. Ich hielt immer noch vor den Stränden, aber jetzt waren sie leer.
In der Zwischenzeit waren alle außer uns hineingegangen, der Unterricht hatte wieder angefangen. Wir würden einen Eintrag ins Klassenbuch bekommen, ich ebenso wie Bea, an diesem Vormittag.
»Wenn du etwas willst, musst du dich organisieren«, sagte sie. »Wie wir es mit der Jeans gemacht haben. Du musst gewinnen.«
»Was denn gewinnen?« Ich musste lachen.
Sie musterte mich. Ernst, konzentriert. Auf der Feuertreppe des Innenhofs der Pascoli fragte sie mich: »Was kannst du?«
Ich wusste es nicht.
»Was gefällt dir?«
Ich versuchte darüber nachzudenken.
»Nicht, was du bist, wie du denkst, dass du bist, wie die anderen dich sehen, sondern du, was willst du im Leben?«
Ich verstummte. Wir waren zu sehr aus dem Gleichgewicht auf jener Feuertreppe. Ich unfähig zu antworten, sie, die dieses Feuer in sich hatte. Wenn ich es mir jetzt vergegenwärtige: Wie sie brannte und bereits mit vierzehn die verborgensten Wünsche der anderen zu erkennen vermochte.
»Schreiben, oder? Du hast gesagt, du schreibst Tagebuch.«
Ich empfand eine starke Verlegenheit, als hätte sie mir vor der ganzen Klasse die Kleider vom Leib gerissen.
»Dann schreib ihm einen Brief.« Während die Schulwarte, die uns suchen sollten, uns endlich gefunden hatten und uns bedeuteten hineinzugehen, »sofort, dalli!«, versprach sie mir: »Ich helfe dir. Du gibst ihn mir vorher zu lesen, und ich schau drüber.«
*
Und so fingen wir an, auf Seiten, die wir aus den Heften gerissen hatten. Keine Mails, Anhänge, Floppy Discs, CDs oder Sticks: Stift und Papier.
Ich kehrte an dem Tag wie eine Besessene nach Hause zurück. Ich aß mit meinem Vater noch gereizter als sonst zu Mittag. Ich schloss mich in mein Zimmer ein und rührte den ganzen Nachmittag kein Buch an. Saß wie festgenagelt am Schreibtisch, das weiße Blatt vor mir. Ich schrieb ein einziges Wort, »Lorenzo«, und es war, als bräche ein Damm.
Ich dachte, ich hätte ihn verdrängt, aber er war geblieben. Schlummernd, am Brüten. Vielleicht war er es, oder vielmehr das Bedürfnis zu schreiben, für mich, nur für mich einen abwesenden Adressaten zu haben, dem ich alles erzählen konnte.
Anfangs war ich aufrichtig, ohne Scham. Ich hatte solche Lust, mir alles von der Seele zu schreiben, mich gehen zu lassen, mitzuteilen. Der Bic lief über die Seite, über die Linien hinaus. Ich schrieb ihm, woraus meine Tage bestanden: aus Schweigen. Die Mittagessen, die Abendessen, die Sonntage. Ich in meinem Zimmer, Papa in seinem Arbeitszimmer. Ich beschrieb ihm Biella: die Berge, die Liabel, die Palazzina Piacenza. Ich war schweißgebadet und staunte über mich: Ich konnte das. Ich erzählte ihm die Ausflüge auf den Sesia im Sommer, nach Oropa im Winter. Die Schlittenfahrten auf dem schneebedeckten Prato delle Oche, mein Bruder und ich, die in den Schnee flogen, als wären wir eins. Mama, die lachte, ein Glas Glühwein in der Hand. Die quälende Leere des Verlassenseins.
Ohne ihn noch einmal zu lesen, steckte ich den Brief in eine Tasche des Schulranzens. Am nächsten Morgen gab ich ihn selbstsicher, stolz Beatrice. Sie faltete ihn auseinander und verschlang ihn.
»Nein«, sagte sie schließlich und blickte auf. »Er ist voller Fehler und Wiederholungen. Er ist pathetisch, man möchte das Kindersorgentelefon anrufen. Du darfst ihm nicht alles erzählen. Beherrsch dich. Wähle aus.«
Ich verspürte einen stechenden Schmerz. Das Gefühl der Ablehnung war vernichtend, weil es mich betraf. Nicht wie ich mich anzog, den Akzent, mit dem ich sprach, meine Frisur. Mich.
Und doch gehorchte ich. Ich verbrachte den zweiten Nachmittag an meinem Schreibtisch. Mit ein paar Jahrzehnten Distanz wird mir bewusst, welche Macht Beatrice auf mich ausübte. Und, so paradox das klingt, dass ich ohne sie nie den Mut gefunden hätte, mich am Schreiben zu versuchen.
Diesmal versuchte ich auszuwählen, mich zu beherrschen, nicht zu genießen. Ich saß steif auf meinem Stuhl und fühlte mich irgendwie gehemmt. Ich schrieb ein Wort und strich es durch, ein anderes, und löschte es. Eine Papierverschwendung, eine unerhörte Anstrengung. Der gesamte italienische Wortschatz schien mir gefährlich, übertrieben, unzulänglich; ich war es.
Am Freitagmorgen übergab ich Beatrice eine knappe halbe Seite.
»Was ist das?« Sie gab sie mir erbost zurück. »Da hast du gar nichts geschrieben. Du fällst von einem Extrem ins andere. Du sollst verführen, nicht langweilen.«
Am dritten Nachmittag hatte ich begriffen und begann zu lügen. In der ersten Version hielt ich mich zurück, las sie und zerriss sie. Ich schrieb alles neu und log diesmal mehr. Ich öffnete Lüge und Zauberei; ich war zwar über die Seite 30 nie hinausgekommen, aber ich plünderte es. Zufällig, indem ich einzelne Wörter und ganze Sätze abschrieb, einfach so, weil sie gut klangen.
Ich erfand Episoden aus meiner Vergangenheit, die ich nie erlebt hatte. Ich veränderte meine Wohnung in der Via Trossi, versetzte sie von der Peripherie mitten ins Zentrum. Meine Mutter verwandelte ich von einer Arbeiterin und Diebin in eine gequälte Malerin. Niccolò raubte ich den Irokesenschnitt und die Piercings und kleidete ihn schwarz, mit Ledermantel, langen Haaren und weiß geschminktem Gesicht, weil meinem Eindruck nach Metalfreaks faszinierender waren. Ich fand Gefallen daran und verlor alle Skrupel. Ich verbrachte den Samstag und Sonntag damit, mein Leben zu verändern.
»Du sollst verführen«, hatte Beatrice gesagt. Ich schrieb und war nicht mehr Elisa. Ich bemäntelte mich, maskierte mich, übertrieb mit den Adjektiven. Ich erfand Unterwäsche und Details, die man nicht wiederholen sollte. Ich gab mich als Expertin für Dinge aus, die ich mir nicht einmal vorstellen konnte; ich erklärte sie nicht, ließ sie in der Schwebe, in den Leerstellen, deutete an. Und doch stieß ich, indem ich mich von der schüchternen Elisa befreite und mich als eine ausgab, die es schon eine Million Mal gemacht hatte, auf einen unvermuteten Teil von mir, der vielleicht die Wahrheit war.
Sicher ist, dass Beatrice die beste Schreibschule war, die ich absolvieren konnte. Obwohl sie heute jedem erzählt, dass Lesen Zeitverschwendung sei, dass sie ein Imperium zu führen habe und Romane allesamt Unsinn seien. Sie lügt. So wie ich lüge. Und nichts ist erotischer als eine Lüge.
Am Sonntag las ich das Ergebnis von sechs Tagen Arbeit noch einmal. Ich war bewegt, nahezu als hätte nicht ich es geschrieben. In der Tat: Wer war es gewesen? Die Antwort erregte mich. Ich ging barfuß in den Flur, um zu telefonieren. Ich konnte nicht an mich halten. Ich nahm den Hörer, und statt des Freizeichens hörte ich das metallische Kreischen des Internets. Papa lud in diesem Augenblick irgendwelche Universitätsdateien von Milliarden Byte herunter. Ich wurde wütend. Ich riss die Tür auf und schrie: »Hör mit diesem Zeug auf, ich muss telefonieren!«
Ich hatte das Gefühl, bereits an der großen Welt der Literatur teilzuhaben. Ich bezwang meine Angst, rief Bea um neun Uhr abends zu Hause an, erfand einen schulischen Notfall, und sobald ihre Mutter sie mir gereicht hatte, flehte ich sie an: »Um halb acht morgen. Bitte, lass uns vor dem Unterricht treffen! Es ist ganz, ganz wichtig!« Ich legte auf und konnte nicht mehr schlafen.
Am nächsten Morgen war die Schule leer, und in der Eingangshalle waren Bea und ich mit unseren Schulranzen und Jacken allein. Der Brief zwischen uns. Während sie las, beobachtete ich sie. Ich war ungeduldig, zitterte und zuckte bei jeder noch so winzigen Kräuselung ihres Gesichts zusammen: eine Braue, eine Lippe. Ich starb fast.
»Schön«, sagte sie schließlich. »Das ist wirklich schön.«
Ihre Augen glänzten, und ich war so unendlich glücklich, dass es fast an Glückseligkeit grenzte.
Bea steckte den Brief wieder in den Umschlag, bat einen Schulwart um einen Stift, schrieb etwas darauf und ging die Treppe hinauf. Allerdings betrat sie nicht unseren Klassenraum, sondern ging weiter in den Stock darüber.
»Was hast du vor?«, fragte ich alarmiert.
Sie antwortete nicht. Die anderen Schüler kamen gerade erst vereinzelt an. Beatrice durchquerte den linken Flur im zweiten Stock, geradewegs zu dem Raum am hinteren Ende, dem der Abschlussklasse.
»Nein«, hielt ich sie auf und wollte ihr den Brief aus der Hand reißen.
Sie streckte den Arm aus, sodass ich ihn nicht erreichen konnte. Sie war zu groß für mich. Ich fing an zu weinen. »Ich will nicht, dass er ihn liest!«
»Und warum hast du ihn dann geschrieben?«
Für sie. Damit sie mir sagt, ich sei begabt.
Für mich. Um mir zu beweisen, dass ich zu etwas gut war.
Er war präsent, real. Er hatte nichts mit diesen Lügen zu tun.
»Nein, ich bitte dich.«
Beatrice warf mir einen vernichtenden Blick zu: »Wir sind keine Freundinnen mehr.«
Ich war sprachlos.
»Entscheide dich: Entweder legen wir ihn ihm unter die Bank, oder ich schwör dir, dass ich nicht mehr mit dir spreche, mich wieder dorthin setze, wo ich vorher gesessen habe, und dich werden alle verachten.«
Da war es, das Miststück.
Es war zum Vorschein gekommen. Wie am ersten Schultag, wie jedes Mal, wenn sie über die mit der Meise aus Biella gelacht hatte.
Das Miststück wollte gewinnen. Keinerlei moralische, soziale, ethische Skrupel. Die Freundschaft: Steck sie dir sonst wohin. Für sie zählte nur das Ergebnis.
Und sie bekam es.
Wir betraten den Raum. Sie hatte sich bereits informiert, organisiert, wusste, wo sie hingehen musste: die letzte Bank am Fenster. Sie war über und über mit eingeritzten Worten bedeckt, darunter lag ein vergessenes Buch. Ich konnte den Umschlag lesen: »Vittorio Sereni, Stella variabile«. Ich fröstelte, spürte, wie ich an Armen und Beinen eine Gänsehaut bekam. Dann legte Bea den Umschlag daneben: »Für Lorenzo«.
Und wir rannten davon.