Читать книгу Bilder meiner besten Freundin - Silvia Avallone - Страница 14

8 Variabler Stern

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»Variabel«: veränderlich, wechselhaft, unbeständig.

Der erste Tag in der neuen Schule war schrecklich.

Vor lauter Angst hatte ich seit einer Woche nicht geschlafen. Auch wenn Mama und Niccolò immer noch in T wohnten und ich nicht ahnte, dass sie mich einen Monat später verlassen würden, war das Leben zu Hause immer unerträglicher geworden.

Mama und Papa stritten sich und Schluss. Nicht mehr in großem Stil mit Szenen und Geschrei, sondern von der Seite, auf Sparflamme: Sticheleien, Seufzer, Giftspritzen. Ich war eifersüchtig. Nicht auf Papa, sondern auf Niccolò, weil er mit ihr auf dem Sofa sitzen durfte, während ich gezwungen war, rauszugehen und mich der bedrohlichen Welt der Jugendlichen von T auszusetzen.

Bangen Herzens kam ich am 18. September auf die Piazza Marina, in dem sicheren Bewusstsein, von Anfang an erkannt und abgestempelt zu werden. Und es war tatsächlich so: Ich überschritt die Schwelle der Pascoli, und sofort krümmte sich ein Zwei-Meter-Kerl mit drei Barthaaren am Kinn vor Lachen: »Seht euch nur ihre Schuhe an!« Und er wies seine Freunde auf meine violetten, vier Nummern zu großen Springerstiefel hin. Auf der Suche nach meinem Klassenzimmer ging ich mit gesenktem Kopf durch die Flure und mied die Blicke der anderen. Als ich es gefunden hatte und meinen Platz einnahm – eine neutrale Bank, weder vorn noch hinten –, setzte sich niemand neben mich.

Meine Klassenkameraden kamen herein, und sie kannten sich schon ewig. Weil sie die Mittelschule, den Tanzkurs, den Schwimmkurs und den Kindergarten gemeinsam besucht hatten. Und ich nichts, ich hatte mein T-Shirt von den Misfits. Sie begrüßten sich, umarmten sich, feixten: »Wer ist die denn?« Ich erinnerte mich: »Perdido en el corazón / De la grande Babylon / Me dicen el clandestino.« Wird noch ein anderer Neuer hereinkommen? Ich betete. Einer, der noch krasser ist, ein noch größerer Loser, über den sie sich statt meiner lustig machen könnten.

Stattdessen sah ich Beatrice hereinkommen.

Beatrice!

Spontan lächelte ich, lief ihr entgegen.

»Ciao«, sagte ich zu ihr und blieb aufgeregt einen Schritt vor ihr stehen.

Und sie tat so, als wäre nichts geschehen.

Sie blickte mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen, mir nie von ihrer Mutter und dem blauen Fleck erzählt, mich nie umarmt. Sie ging weiter und drehte mir den Rücken zu. Begrüßte die Klassenkameradinnen, die sie bereits kannte, mit drei Küsschen auf die Wange und setzte sich auf die Bank, die sich meiner gegenüber befand.

»Variabel«: ungewiss, launenhaft, kapriziös. Nein, ein Miststück.

Das war nur der Anfang, die erste von tausend Schikanen, mit denen sie mir zusetzen würde. Der variable Stern ist veränderlich, weil er schwarz ist. Er hat eine opake, erloschene Seite. Er ist bereits tot, steht kurz davor, zu kollabieren. Aber bis dahin leuchtet er und leuchtet. Denn die andere Seite ist so hell, dass sie blendet und einen täuscht. Ich kenne beide Seiten gut.

Zwei Monate später, als sie mir drohte, jenen Brief unter Lorenzos Bank zu verstecken, fühlte ich mich so zutiefst und grundlos verraten, dass ich ernsthaft daran dachte, die Beziehung ganz abzubrechen. Kaum hatte die Glocke um ein Uhr zwanzig geläutet, stand ich abrupt auf, zog mich an, räumte hastig meinen Schulranzen ein und ging hinaus, ohne sie zu grüßen.

Sie kam mir nach. Ging neben mir. Leugnen war ihre Methode. Lächelnd fragte sie mich: »Na, lernen wir heute zusammen bei dir?«

Auslöschen. Über etwas hinweggehen. Sie beging eine Missetat und entfernte sie aus der Geschichte. Es blieb ein Loch zurück, das sie sofort mit einem schönen Vorschlag füllte.

»Ich bin noch nie bei dir gewesen, bereiten wir die Klassenarbeit in Latein vor?«

Die Einsamkeit, die Gespenster, das Taschengeld, das ich in den Tank des Quartz warf, um nirgendshin zu fahren, oder das x-te Wiederlesen von Sereni erschienen mir besser, sicherer. Aber konnte ich einen Rückzieher machen?

Ich war es leid, in den Büchern zu leben.

*

Papa trank den letzten Schluck Kaffee, griff nach der Fernbedienung und unterbrach Britney Spears, die sang: »Oops! … I Did It Again.« In einen roten Latexanzug gezwängt, die Brust extrem zusammengequetscht, provozierende Lippen: Sie war nur fünf Jahre älter als ich. Und ich tat so, während ich den Joghurt umrührte, als würde ich auf die Punks, die Metalfreaks, die ernsthaften Leute warten, aber in der Zwischenzeit studierte ich das Zwinkern, die Andeutungen und wurde mir bewusst, dass man in einem weiblichen Körper auch so sein konnte. Dann drang Papa in meine Gedanken ein, indem er sagte: »Ich muss auf einen Sprung in die Konditorei.«

Ich sah ihn an, ohne zu verstehen.

»Ich besorg euch Kekse, vielleicht auch etwas Salziges.«

Ich begriff und errötete wie eine Zündschnur. »Das ist kein Kindergeburtstag, Paolo.« Ich nannte ihn »Paolo«. Der Ton triefend von solcher Boshaftigkeit und dem Wunsch, die Begeisterung zu ersticken, zu demütigen, wehzutun, der auch den Rest mitklingen ließ. Du bist nie auf meinen Geburtstagen gewesen, was willst du, es jetzt wiedergutmachen? Ein bisschen spät.

Beherrscht wie immer wandte er ein: »Ihr müsst schließlich was essen. Vom Lernen kriegt man Hunger.«

Er erinnerte mich an die Mutter eines Klassenkameraden aus der Grundschule. Ihr Leben war eine Katastrophe gewesen: Arbeitslos, geschieden, ihr Sohn verprügelte alle, und doch freute sie sich auf jedes Fest, um sich zu beweisen. Sie war überzeugt, dass sie dadurch, dass sie ausgefallene Kuchen fabrizierte, Canapés auf Zahnstocher spießte und Luftballons aufblies, die Abgründe einebnen könnte.

»Warum kehrst du nicht an die Universität zurück?«, fragte ich ihn bissig.

»Ich kehre dorthin zurück, Elisa.« Er legte den Löffel hin. »Ich wollte nur ein paar Minipizzas kaufen, fahr mich nicht so an.«

Mama brachte nie irgendwas, nicht mal Servietten. Sie vergaß das Geld, damit ich an den Ausflügen teilnehmen konnte, die Lehrerinnen gaben es uns. Sie war ehrlich: Sie hatte andere Sorgen. Dagegen scharrte jene Frau immer ungeduldig mit den Hufen, um sich als die beste aller Mütter zu beweisen. Und er war genau wie sie.

»Glaubst du, dass Beatrice deine Minipizzas isst? Sie nimmt überhaupt nichts zu sich, nicht mal einen Apfel.«

»Schon gut, hat sie irgendeine Unverträglichkeit?«

»Sie darf nicht zunehmen«, rief ich und warf den Joghurt um.

Papa hob eine Braue hinter den Brillengläsern, die Grenze war überschritten. Er stand auf, stellte die kleine Tasse in die Spüle und füllte sie bis zum Rand mit Wasser, damit die Zuckerreste sie nicht verkrusteten. Werde wütend, bat ich ihn stumm, lass uns streiten. Stattdessen trocknete er sich die Hände am Geschirrtuch ab. »Ich muss sowieso ein paar Einkäufe machen. Die Küche kannst ausnahmsweise mal du aufräumen.«

Ich hatte nie einen Finger gerührt; in der Wohnung in Biella nicht, weil dort das Chaos herrschte, und nicht in der in T, weil er immer alle Hausarbeiten erledigte. Ich betrachtete den Joghurtklecks auf der Tischdecke, das volle Spülbecken und die Geschirrspülmaschine, ein unbekannter Gegenstand. Gerade heute, dachte ich. Ich schloss die Augen, um den Brand zu bändigen, der in mir schwelte.

Ich hörte, wie er die Wohnung verließ und die Tür heftiger als sonst zuzog. Ich habe dich angefahren, das stimmt, aber weißt du Bescheid?, fragte ich ihn und beobachtete ihn durch die Vorhänge, während er über den Parkplatz ging, mit dem unbeholfenen Gang eines Mannes, der einen Meter neunzig misst und sich nie daran gewöhnt hat; er stieg in den Passat, wobei er den Kopf einziehen musste, um nicht anzustoßen; er war ein normaler, ja sogar treuherziger Mann. Nein, Papa, du weißt nicht Bescheid, dass bei einem Karnevalsfest alle verkleidet waren außer mir und dass De Rossis Mutter mich ansah und mit einer Grimasse falschen Mitgefühls laut sagte: »Manche Frauen sollten keine Kinder kriegen.«

Du warst nicht dabei.

Ich rang mich durch. Ich füllte die Spüle mit Wasser und Spülmittel und überließ die Teller sich selbst. Ich nahm den Besen und fegte die Krümel in den Spalt unter dem Speiseschrank. Die Tischdecke schüttelte ich vom Balkon auf die Motorhaube eines Autos aus und legte sie zusammengeknüllt in eine Ecke. Dann setzte ich mich im Schneidersitz vor der Eingangstür auf den Boden und wartete, dass Beatrice klingeln, hereinkommen und rufen würde: »Oh, was für eine triste Atmosphäre hier drin!«

Ich hörte den Motor ihres SR und dann, wie sie ihn abstellte. Kurz darauf ließ die Sprechanlage mich zusammenzucken. Ich tat so, als wäre ich nicht zu Hause. Aber unten vor dem Haus parkte deutlich sichtbar der Quartz. Bea ließ sich nicht reinlegen, sie ließ nicht locker. Also öffnete ich ihr. Sie erschien auf dem Treppenabsatz in Netzstrümpfen, Minirock und freiem Bauchnabel, und das am 20. November. Sie trampelte mit den Schuhen auf dem Fußabtreter. Verblüfft blickte sie auf die Wände des Flurs: »So viele Bücher!«

Ein Vorzug, den sogar ich nach der langen Fahrt von Biella hierher erkannt hatte. Die Bücherregale waren überall, sogar in der Küche und im Bad, die Bücher berührten die Decke. Beatrice näherte sich neugierig den Regalen. »Bei mir zu Hause haben wir Den Namen der Rose, Oriana Fallaci und noch eins, an das ich mich nicht erinnere.« Sie ging ins Wohnzimmer: »Hier ist ja auch alles voll! Wem gehören die?«

»Es sind alles seine.«

Sie warf einen Blick in die Küche: »Ich fass es nicht!« Es schien sie zu amüsieren. »Seine, von wem? Von dem Fixer?« Sie steckte den Kopf in mein Zimmer, dann in das, das für etwas mehr als drei Monate das Zimmer von Niccolò gewesen war. Unersättlich: »Und was ist da?«

»Nein, geh da nicht rein, das ist das Arbeitszimmer meines Vaters.«

Beatrice riss sofort die Tür auf und machte das Licht an.

»Wow.« Sie war fassungslos.

Die erste Begegnung zwischen ihr und dem PC war, im Nachhinein absehbar, wie ein Stromschlag. Die Bücher brachten sie zum Lachen, der Computer mit dem Pentium-III-Prozessor nötigte ihr sofort Bewunderung und Respekt ab.

»Das ist ein Computer! Nicht der meines Vaters.«

»Na ja, meiner arbeitet damit.«

»Ja, meiner auch.«

»Nein«, korrigierte ich mich, und unkontrollierter Stolz schwang in meiner Stimme mit, »ich wollte sagen, dass er in der Informatik arbeitet. Er ist Softwareentwickler, er unterrichtet an der Universität.«

»Wirklich?« Beatrice drehte sich um und sah mich interessiert an.

Es war das erste Mal, dass ich Stolz statt Scham für ein Mitglied meiner Familie empfand. Schade, dass es sich um die Person handelte, der ich für alles die Schuld gab.

»Ich würde mir gern einen schenken lassen, ich hätte wahnsinnig gern einen.«

»Und was würdest du mit ihm machen?«, fragte ich skeptisch.

Bea schwieg; sie wusste es nicht.

»Schalten wir ihn ein«, forderte sie mich aufgeregt auf.

»Nein, nein.« Ich versuchte mich zwischen sie und den PC zu stellen.

Bea schob mich beiseite und setzte sich an den Schreibtisch meines Vaters. Sie betrachtete die Tastatur und streichelte die Tasten. Als würde sie mir eine Reise in die Karibik oder auf den Mond vorschlagen, drängte sie: »Komm, gehen wir ins Internet!«

»Hör auf«, erwiderte ich gereizt. Ich hatte eine richtige Aversion gegen den grauen Kasten, und es machte mich nervös, dass sie so fasziniert davon war.

Beatrice drückte mit dem Zeigefinger auf die Einschalttaste. Mit enervierender Langsamkeit startete der PC. Der schwarze Bildschirm wurde hell, und die Pixel setzten sich zu meiner Verblüffung zu einer Nahaufnahme meiner Mutter zusammen: unscharf, am Meer, die Haare vom Wind auf ihre nackten Schultern verteilt. War sie oben ohne? »Schalt ihn aus!«

Beo deutete auf die Sommersprossen auf Mamas Gesicht. »Das ist etwas, das ich damit machen kann, die Fotos hineintun. Im Computer verblassen sie nicht.«

Sie bewegte auf gut Glück den Cursor. Ihr Instinkt oder die Vorherbestimmung führten sie sofort auf das E von »Explorer«. Man hatte uns in der Schule erklärt, wozu das Internet diente: ein Chemielehrer, der noch weniger wusste als ich, und niemand hatte etwas verstanden.

Beatrice klickte zweimal. Es erschien eine Maske, in die man den Benutzernamen und das Passwort eingeben sollte. »Sag mir, dass du es hast, Eli, bitte!«

»Oh, der Zettel, keine Ahnung, wo der gelandet ist …«

»Such ihn, such ihn!«

Sie bat mich. Ungeduldig, als ginge es um ihr Leben. Und auch wenn keine von uns beiden es wusste, es war tatsächlich so.

Genervt stand ich auf, um die Anweisungen zu suchen, die Papa vor Monaten für Niccolò und mich auf ein Post-it geschrieben hatte, ohne große Überzeugung, ihn zu finden, zumindest hoffte ich das. Aber da war er, direkt vor meiner Nase auf ein Wandbrett geklebt.

Ich las: »›Ghiandaia‹, das ist der Benutzername. ›Marina‹ das Passwort. Die Nummer 056 …«

Bea schrieb, bestätigte die Eingabe, und schlagartig erwachte das Modem zum Leben, alle Kontrollleuchten leuchteten auf in Rot, in Grün, ein Durcheinander schrecklicher Geräusche ertönte, wie eine Rohrleitung, die gereinigt wird, wie das schlecht funktionierende Faxgerät im Tabakladen hinter der Schule, wie der Start einer Rakete, und ein Bie bie biep, das uns zusammenfahren ließ.

Das Ganze dauerte dreißig Sekunden, dann trat Stille ein. »Du bist verbunden« erschien auf dem Bildschirm. Ein Lächeln trat auf Beatrices Gesicht, das wie ein Schimmer war, der tief aus ihrem Innern kam, ein geheimes Wissen. Ich wiederhole: Wir schrieben das Jahr 2000, wie wohnten in T, mein Vater gehörte zu den wenigen, die ein 56k-Modem hatten. Er und eine andere Handvoll Leute von der Universität entwickelten Webseiten, die nur sie besuchten. Seitdem sind neunzehn Jahre vergangen, vorgestern, und doch als würde man von etruskischen Gräbern sprechen. Ich erinnere mich, dass ich die Virgilio-Homepage betrachtete, wie man den Manga-Comic eines ausgegrenzten Klassenkameraden betrachtet, mit einem Gefühl unendlicher Überlegenheit und der Aufgeblasenheit derjenigen, die mit vierzehn Sandro Penna liest. Ich ahnte nicht im Mindesten, dass das eine Revolution war, der Beginn einer neuen Epoche, das unwiederbringliche Ende einer Welt.

Bea dagegen flirtete an jenem Nachmittag bei mir zu Hause sofort mit der Geschichte. Sie erkannte sie intuitiv und nahm sie sich.

*

»Gut, gehen wir lernen.« Ich riss ihr die Maus aus der Hand und presste den Zeigefinger auf die Ausschalttaste, als wollte ich sie tief in die Erde rammen. Warum, fragte ich mich, wollte Papa, wo sie sich doch im Bösen getrennt hatten, immer noch jeden Tag Mamas Foto vor Augen haben? Ich verrückte den Stuhl und zwang Beatrice gewaltsam, aufzustehen.

»He, ich hab schon kapiert.« Sie hob die Hände als Zeichen der Kapitulation. »Aber ich muss deinen Vater bitten, mir das beizubringen. Meinen Vater kannst du vergessen – wenn der abends mal um zehn Uhr nach Hause kommt, dann ist das früh für ihn.«

»Tu das, er wird sich freuen. Ich und mein Bruder sind jedes Mal geflüchtet, wenn er es versucht hat.«

»Dein Bruder.« Bea lächelte. »Wo ist er?« Sie drehte sich in alle Richtungen, und endlich wurde es ihr bewusst. »Wo sind alle?«

Die Abwesenheit dröhnte wie ein herbeigerufener Dämon aus der Tiefe eines jeden Zimmers. »Sie sind fort«, erwiderte ich. Ich löschte das Licht in Papas Arbeitszimmer und wartete, bis sie hinausgegangen war, um die Tür zu schließen.

»Wie meinst du das?«

»Mein Vater kauft uns was zum Essen. Meine Mutter und Niccolò sind wieder nach Biella gezogen.«

Beatrice sah mich an, sagte aber nichts. Ich war ihr dankbar dafür. Sie nahm den Schulranzen, den sie im Flur gelassen hatte, und folgte mir in mein Zimmer, und ich drehte abwesend den Schlüssel um, vielleicht bildete ich mir aber auch nur ein, abgeschlossen zu haben. Ich hatte unserem Nachmittag gerade einen Dämpfer verpasst, der zwei Jugendliche wie uns überforderte. Verlegen zogen wir unsere Schuhe aus und setzten uns im Schneidersitz aufs Bett, einander gegenüber, die Lateingrammatiken auf den Knien.

Bea nahm die Situation in die Hand: »Fängst du an, oder soll ich anfangen?«

»Fang du an«, sagte ich, »mit den maskulinen Nomen auf – us

»Lupus, lupi, lupo«, leierte sie, »lupum, lupe, lupo.«

Niemand weiß das, aber Beatrice ging beim Lernen sehr methodisch vor. Mathematik, Griechisch, Geographie, für sie machte das keinen Unterschied. Wenn sie ein »Sehr gut« benötigte, bekam sie es. Sie trödelte nicht, sie verlor keine Zeit wie ich, die einen Baum betrachtete und nach Worten suchte. Sie führte kein Tagebuch, wohl aber einen Terminkalender: Fitnessstudio, Kosmetikerin, Fotoshooting, Modenschau, sie schlief sechs Stunden, wenn alles gut ging, und ihr Notendurchschnitt war wie meiner immer der höchste der Klasse. Aber das hat sie nie erwähnt, dass sie wunderschön und eine Streberin war. Denn die Leute mögen keine Widersprüche. Darin war sie wie ich, die ich Marilyn Manson hörte und Sereni las. In Wahrheit waren wir beide nicht geschaffen zu gefallen.

»Lupi, luporum, lupis …«

»Wie ist diese Platane?«, unterbrach ich sie.

»Welche?« Sie sah mich verwirrt an.

»Die da vor dem Fenster. Gib mir ein Adjektiv, nur eins.«

Bea verzog das Gesicht, dann nahm sie mich ernst. »Traurig«, verkündete sie.

Ich musste lächeln. Wir hatten den gleichen Blick auf die Welt.

»Aber hast du es wirklich getan?«, holte sie mich gleich darauf in die Realität zurück.

»Was?«

»Sex.«

Mein Lächeln verschwand. Dieses Wort hatte ich nur ein einziges Mal benutzt, in dem Brief. Aber es war eine Sache, es zu schreiben, ohne zu wissen, was es bedeutet, und eine andere, es zu sagen, es zu hören, als wäre es real.

»Zeig mir, wie du aussiehst«, bat Beatrice mich. »Zieh deine Unterhose aus, ich muss wissen, ob du genauso bist wie ich.«

»Du bist verrückt«, erwiderte ich geschockt.

»Bitte. Wie soll ich wissen, ob bei mir alles richtig ist oder nicht? Hilf mir. Du weißt es, du hast es geschrieben.« Es war ihr ernst. »Ich habe Hunderte Fotos im Badeanzug gemacht, ich weiß, wie ich wirke. Aber nackt? Erkennt man, dass ich Jungfrau bin?«

»Ich kann nicht.«

»Warum nicht? Wir sind Freundinnen. Wenn wir das machen, werden wir beste Freundinnen. Beste«, wiederholte sie. »Ich meine, danach sind wir unzertrennlich, wir können uns alles sagen, es ist wie ein Blutspakt, den man nie mehr auflösen kann. Danach

Ich erstarrte. Bea war immer schon äußerst geschickt darin gewesen, die richtigen Saiten zu berühren, um dir etwas zu verkaufen. Der Vorschlag verlockte mich, aber dieses danach enthielt einen zu hohen Preis. »Wie soll ich dir trauen?« Ich fand meinen Mut wieder. »Heute Morgen hast du mich bedroht.«

»Lorenzo wird sich in dich verlieben, wenn er das liest, ich schwör’s dir.«

Ich bezweifelte das.

»Hör zu. Wir müssen ja nichts machen, nur schauen.«

Ich erhob mich. Stand da und registrierte die Ausmaße meines Körpers, seine Präsenz: geheimnisvoll, gefährlich. Ich begann meine Jeans zu öffnen, langsam, widerwillig. Zuerst den Knopf, dann den Reißverschluss. Zum x-ten Mal gab ich mich geschlagen. Aber vielleicht wollte ich das hier doch auch selbst.

Beatrice stand auf, schob den Minirock hinunter und zog ihn aus. Während wir darauf achteten, uns nicht anzublicken, führten wir die gleichen Handlungen aus. Sie zog die Strümpfe aus, ich die Socken. Sie den Tanga, ich den Slip. Dann nahm sie mich an der Hand, als müssten wir von einem sehr hohen Trampolin springen. Sie führte mich zu dem viereckigen Spiegel, den ich nie aufgehängt, sondern nur an die Wand gelehnt hatte. Wir hielten den Atem an und betrachteten unser Spiegelbild.

Zwei Schimären. Zur Hälfte bekleidet, wohlerzogen, anständig. Zwei Mädchen. Und die andere? Wie präsentierte sich die andere Hälfte?

»Wir sind beinahe gleich«, schloss Beatrice und drückte meine Hand fester. Sie wandte sich zu mir. »Hast du das Jungfernhäutchen zerrissen? Ich habe es allein versucht, aber ich habe es nicht geschafft.«

»Wie hast du es versucht?«

»Mit einem Tampon meiner Schwester.«

Dass wir beide diesen unbekannten und versperrten Ort dort drinnen hatten, dieses Problem, das gelöst werden musste, ohne dass wir verstanden, warum, führte dazu, dass ich mich ihr plötzlich nahe fühlte, ganz nah.

Ich wollte ihr sagen, dass es möglich sei. Dass ich in dem Brief gelogen und alles noch zu lernen hatte. Dass wir uns verbünden und die Scham ablegen müssten. Uns hinlegen, die richtige Position finden und verstehen müssten, wie wir funktionierten. Ich war kurz davor, es ihr vorzuschlagen, als wir ein Klopfen hörten und der Türgriff ruckartig niedergedrückt wurde. »Darf ich?«

Wir fuhren zusammen. In panischer Angst starrte ich auf den Schlüssel. Er vibrierte, hielt aber stand und rettete uns. Wir stürzten auf unsere Kleider, griffen nach den Höschen und zogen sie verkehrt herum an. »Einen Moment, einen Moment!«, rief ich meinem Vater zu. Die Strümpfe, die Jeans, in aller Eile übergestreift, mit dem gleichen Adrenalinschub wie damals, als wir mit der Vierhundertzweiunddreißigtausend-Lire-Beute aus dem Scarlet Rose geflohen waren. Genauso fühlte ich mich mit Beatrice. Als Tochter von niemandem. Und daher frei. Ich.

*

Es ist unglaublich, wenn ich daran zurückdenke, wie diese beiden sich sofort fanden.

Noch heute wird mein Vater nicht müde, sich mit dem Internet zu verbinden, um Beatrices Erfolge zu verfolgen. Und ich verstehe ihn: Er war ihr Komplize. Aber jedes Mal, wenn ich ihn anrufe, beharrt er auch darauf, mir von ihr zu erzählen, was mich nervt. Wir leben weit weg voneinander, wir haben etliche wichtige Dinge am Telefon zu besprechen – seine Gesundheit zum Beispiel –, aber er landet immer wieder bei Beatrice. Die gestern in Tokio war, heute in London. Dann verliere ich die Geduld, wir streiten, und ich muss ihn daran erinnern, dass ihre verdammten Reisen mich einen Dreck interessieren, dass wir keine Freundinnen mehr sind, ihm unter die Nase reiben, dass er früher ganz in Lektüre, Kritik und vertiefender Forschung aufgegangen sei, während er sich jetzt vom Glamour blenden lasse. Aber es ist besser, dass ich mich beruhige und mich wieder auf diesen einen Tag konzentriere.

Als ich ihm öffnete und Papa mit seinen Einkaufstüten hereinkommen konnte, sah er die zerzauste Bea, den Rock verkehrt herum angezogen und zwei Meter Beine in dünnen Netzstrümpfen, und vielleicht war er beunruhigt, vielleicht überrascht. Voller Herzlichkeit log er sie an: »Elisa hat mir so viel von dir erzählt, willkommen.«

»Hallo«, erwiderte sie kokett, »wissen Sie, dass ich mich sehr für Computer interessiere? Würden Sie mir einen Kurs geben?«

»Wann immer du willst!« Papa hob triumphierend die Tüten. »Hier sind erst mal die Lebensmittel, Mädchen!«

Ich glaube, es war eine Frage des Instinkts; Bea hat immer große Mengen davon gehabt und mein Vater ebenfalls. Sie lebten in der Zukunft und hatten keine Angst vor Veränderungen. Während ich mich, mit meinen Gedichtbänden und dem Tagebuch mit Vorhängeschloss, mit vierzehn bereits versteckt hatte. Hinter den Worten, im Papier. Ich blieb zurück, furchtsam und misstrauisch, und beobachtete sie durch einen Spalt. Das war mein Schicksal.

»Gebt mir eine Minute und kommt dann in die Küche.«

Papa schloss die Tür, und Bea kommentierte: »Ein cooler Typ.«

Hör endlich auf mit deiner Koketterie!, hätte ich sie am liebsten angeschrien, aber ich hielt mich zurück. Wir gingen in die Küche. Er saß auf der Herdplatte, in seinen Bart lächelnd, vor ihm der Tisch, der festlich geschmückt war für den Geburtstag, den wir nie gefeiert hatten.

Beatrice unterdrückte einen kindlichen Freudenschrei. Die Szene, die folgte, sollte sich nicht wiederholen: Sie nahm einen Keks und steckte ihn sich ganz in den Mund. Sie griff nach einer Scheibe Plumcake und verschlang sie mit zwei Bissen. Dann ging sie über zum Salzigen: zwei Minipizzas. Eine Handvoll Chips. Ich sah die geschwollenen Backen, die vor Vergnügen glänzenden Augen. »Sagt es niemandem«, nuschelte sie kauend. Dann hörte sie auf, als wäre sie zur Vernunft gekommen. Verlegen wischte sie sich die Lippen und das Kinn mit der Serviette ab. Sie sagte, sie müsse auf die Toilette, und lief hinaus. Ich glaube, dass sie alles erbrach.

Ich blieb allein mit Papa. Ich betrachtete auf der Torte die flackernde Flamme einer imaginären Geburtstagskerze. Mama, dachte ich, hat mich seit einer Woche nicht angerufen. Papa näherte sich, ich begriff, dass er mich umarmen wollte. Ich stibitzte zwei Chips und ging in mein Zimmer.

Als Beatrice wieder auftauchte, hatte sie Schminke, Kleidung und Haare bis auf den Millimeter genau in Ordnung gebracht. Wir wandten uns wieder dem Lernen zu, diesmal ernsthaft. Wie fast jeden Tag nach der Schule in den folgenden fünf Jahren: die Haare mit Haarnadeln hochgesteckt, die Wörterbücher auf dem Bett verstreut, die Fingerkuppen vom Kugelschreiber verschmiert. Wir verbrachten zwei öde Stunden über lupus, lupi und über den maskulinen Nomen auf -er, den maskulinen Nomen auf -ir und den neutralen Nomen auf -um. Dann, bevor sie ging, fragte ich sie unvermittelt: »Wie heißt er?«

»Wer?«

»Der, mit dem du es machen willst.«

Bea hatte gerade die Lateingrammatik in den Schulranzen gepackt. Sie verbarg ihre Überraschung. »Es gibt keinen.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Ich kann keinen Freund haben, meine Mutter erlaubt es nicht. Zuerst die Mode und die Schule. Sie hat ja recht, andernfalls würde ich wie sie enden: als provinzielle Ehefrau.«

»Aber du willst doch die Jungfräulichkeit verlieren.«

»Es ist doch was für Loser, mit vierzehn noch Jungfrau zu sein.«

Ich hatte es nicht eilig und ließ sie zappeln, während sie sich fertig machte, zögerte und es nicht schaffte, den Reißverschluss der Innentasche ihres Schulranzens zu schließen.

Was ist die erste Regel, um Schriftstellerin zu werden? Lesen. Die zweite? Beobachten. Sorgfältig, akribisch, die Schnurrhaare bis aufs Äußerste gespannt, wie ein Radar nach hinten, nach innen, auf jedes Detail gerichtet.

»Wer hat deinen Motorroller getunt?«

Ich sah, wie sie blass wurde.

»Du bist eine Teufelin«, schimpfte sie.

Und das war die Regel Nummer drei.

Ihre Leute waren keine Typen, die auf Schrottplätzen arbeiteten. Freunde hatte sie nicht, die wenigen falschen Bekannten, die bei ihr zu Hause verkehrten, tauschten Lidschatten mit ihr, keine Auspufftöpfe. Bea, dachte ich, mit Genugtuung lächelnd, du verrätst mir eine Menge Dinge.

»Wir haben unsere Höschen ausgezogen«, erinnerte ich sie, »das ist Teil des Blutspakts.«

Du musst es mir sagen: das, was die anderen niemals erfahren dürfen, wofür wir uns schämen und was uns so gefällt. Die Wahrheit, die Missetat, verschlossen im Tagebuch. Das schreckliche Leben hinter den guten Manieren. Dort, an genau diesem Punkt, sollten Beatrices Schicksal und meines sich immer unterscheiden. Aber in jenem Winter, dem der 9. Klasse, waren wir beide in die gleichen Geheimnisse verwickelt.

»Wenn meine Eltern draufkommen, bringen sie mich um.«

»Der Name.«

»Meine Mutter sperrt mich eine ganze Nacht im Keller ein, sie ist dazu imstande.«

»Der Name.«

Sie kaute ihre Nägel, die Häutchen. Sie wollte es mir nicht sagen.

»Hat er deinen Motorroller getunt?«

Sie nickte.

»Geht er aufs Gymnasium?«

»Nein, er macht Motocross.«

»Und die Schule?«

»Er geht nicht hin.«

»Wie alt ist er?«

»Einundzwanzig.«

»Oh, là, là!« Ich amüsierte mich.

»Nein, du hast nicht kapiert, wie gefährlich es ist. Niemand darf es wissen, ich darf nicht mehr aus dem Haus, mein Vater macht mir die Hölle heiß.«

Sie hatte panische Angst. Sie war schwach und hilflos. Sie rührte mich. Ich fühlte mich mächtig. Ich konnte sie beherrschen. Ich war ebenfalls ein Miststück, wenn ich wollte. Wir konnten nett zueinander sein oder uns wehtun, wir besaßen die Schlüssel, um in der Verletzlichkeit der jeweils anderen zu versinken. Und die Schlüssel waren die Jungs.

»Wie heißt er?« Ich wollte es wissen.

Beatrice biss sich mit den Schneidezähnen den Nagellack vom Zeigefinger, ein Stückchen roter Lack fiel auf eine weiße Fliese. Sie ergab sich.

»Gabriele.«

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