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3 Abschied vom Ausblick
ОглавлениеZunächst waren wir alle drei nach T umgezogen. Am 29. Juni 2000 waren wir im Alfasud mit drei Koffern und vier Gramm Haschisch losgefahren, weil Mama die Arbeit bei der Liabel verloren und im selben Augenblick beschlossen hatte, es noch einmal mit Papa zu versuchen.
Im Fall von Mama von Entscheidung zu sprechen ist nicht ganz richtig: Sie handelte eher impulsiv. Eines Nachmittags im April oder März kam sie nach Hause und ließ sich aufs Sofa im Wohnzimmer fallen, wo ich Hausaufgaben machte und Niccolò den Drachen zeichnete, den er sich tätowieren lassen wollte. Ich erinnere mich ganz genau an sie: die freche Mähne, die karottenrote Pagenfrisur ohne ein einziges weißes Haar, die Stupsnase, die Sommersprossen, die gelben, nach Art der jungen Mädchen violett geschminkten Augen. Man konnte sie für halb so alt halten, wie sie war, nicht zuletzt wegen ihrer kleinen Gestalt und ihres Körpers, der ständig in nervöser Bewegung war. Sie zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Kinder, wir gehen fort.«
Ich ging in die achte Klasse, mein Bruder in die zwölfte.
Im ersten Augenblick konnten wir nicht im Entferntesten ahnen, was los war.
»Sie haben mich wegen eines Höschens entlassen«, informierte sie uns und stieß den Rauch aus. Sie lächelte verwundert. »Es scheint eine Katastrophe zu sein, aber wir werden eine Chance daraus machen.«
Und dann stand sie auf und ging schnurstracks in den Flur – mit uns beiden im Schlepptau, nichtsahnend, aber bereits alarmiert. Sie dagegen war euphorisch, als hätte sie den Schlüssel zum Glück gefunden. Sie nahm den Hörer und wählte die Nummer. Das alles spielte sich direkt vor uns ab.
»Ich hab nachgedacht«, begann sie. »Geben wir uns eine zweite Chance, Paolo. Wir sind noch jung, wir verdienen es. Unsere Kinder brauchen uns, ich brauche dich. Ich brauche einen Tapetenwechsel, ich muss mein Leben ändern. Ich bitte dich.«
Und sie reichte uns an Papa weiter, der immer nur eine Stimme am Telefon gewesen war, allerhöchstens eine wortkarge Erscheinung an Ostern und Weihnachten, indem sie den Hörer energisch vor unserer Nase schwenkte: »Los, sagt etwas zu ihm!« Zuerst Niccolò, dann ich. Und wir waren so verstört, dass wir nicht einmal die übliche Zusammenfassung herausbrachten: »Alles okay, Schule okay.«
Die Wahrheit ist, dass wir, als Mama diese Kurzschlusshandlung vollführte und uns plötzlich zwang, unsere Leben zu unterbrechen und die Stadt, in der wir geboren wurden, die Wohnung, in der wir aufgewachsen waren, zu verlassen, um mehr als fünfzig Kilometer wegzuziehen, keine Ahnung hatten, wer unser Vater war. Er war der Mann, der uns Geld schickte, der sonntagvormittags anrief, den wir theoretisch lieben sollten, aber sonst?
Er hatte uns nie gefehlt.
Auch von T kannten wir nicht viel: den Strand, an dem wir uns während der zweiwöchigen Ferragosto-Ferien langweilten, wenn Mama uns zu ihm schickte und jedes Mittag- und Abendessen eine Qual war; der Spaziergang mit den vertrockneten Palmen und Oleandern; die Altstadt mit der Festung, die seit einer Ewigkeit restauriert wurde. Die Adressen von Strandfreunden, denen wir nie geschrieben hatten und die sich innerhalb eines Jahres so sehr verändert hatten, dass wir sie im nächsten Sommer nicht mehr erkannten, beschränkten sich auf zwei oder drei. Aber das, was uns an jenem Nachmittag mehr als alles andere erschreckte, mit dem Hörer in der Hand, war die Vorstellung der beiden zusammen. Es war das totale Unverständnis dafür, wie ein derart verschlossener Mann, ein Universitätsprofessor, an unsere Mutter geraten, ihr zwei Kinder machen und ihr eine zweite Chance geben konnte, nicht als die Kinder klein gewesen waren und sich vielleicht einen Vater gewünscht hätten, der sie von der Schule abholte, sondern jetzt.
Wir widersetzten uns. Mit aller Kraft.
Niccolò, der immer viel direkter als ich war, schleuderte das Telefon gegen die Wand. »Du bist verrückt! Ich habe hier meine Freunde, ich habe mein Basketball, ich habe alles!«, schrie er. »Mir fehlt noch ein Jahr zum Abschluss, und ich soll die Schule wechseln? Hast du einen Knall? Leb du doch mit dem! Ich bin kein Kind mehr, das du rumschubsen kannst. Leck mich am Arsch, Mama!«
Er warf den Stuhl um, schloss sich in sein Zimmer ein, aß nicht mehr, ging nicht mehr in die Schule und wurde nicht versetzt. Ich beschränkte mich auf das Schweigespiel: Ich beantwortete keine Fragen, beteiligte mich an keinem Gespräch. Ich gewann immer.
Ein paar Tage später nahm ich mein Bett – Sprungrahmen, Matratze, Kopfkissen – und schleppte es allein aus Mamas Zimmer, in dem ich immer geschlafen hatte, in Niccolòs. Ich konnte nicht einschlafen ohne ihren Geruch, ihren Atem, ich weinte, so sehr fehlte sie mir. Aber ich hielt durch. Jede Nacht kam Niccolò später nach Hause, stank nach Rauch, stieß gegen die Möbel und weckte mich. Morgens stand ich auf, und er schnarchte. Unsere Wohnung verwandelte sich nach und nach in ein Lager für Kartons, und wir verbarrikadierten uns, traten in Putz-, Rede-, Glücksstreik. Mama wollte uns umarmen, und wir entzogen uns. Eifersüchtig, total eifersüchtig.
Ich erinnere mich an einen Samstagabend. Mein Bruder hatte sich geweigert mitzukommen, weswegen Mama und ich in der Pizzeria gegenüber dem Bahnhof saßen. Das kam häufig vor, wenn sie keine Lust hatte zu kochen. Einander gegenübersitzend an einem Tisch im Raucherraum unter einem Poster von Neapel aus der Zeit von Maradonna, schenkte Mama mir zwei Fingerbreit von ihrem Wein ein. Sie schob sich die Ponyfransen aus der Stirn und sagte: »Eli, wie immer es auch ausgehen mag, es ist nicht richtig, dass ihr nie bei eurem Vater lebt. Ich sage das nicht wegen der jetzigen Situation, aber wenn er euch fehlen wird, wird es zu spät sein. Ihr müsst eine Beziehung zu ihm aufbauen, eine echte, alltägliche. Auch wenn ihr es nicht wahrhaben wollt: Ihr habt es dringend nötig.«
Ich trank die zwei Fingerbreit Wein, und er stieg mir sofort zu Kopf. Du hast unrecht, du hast unrecht, du hast unrecht, protestierte ich innerlich.
»Bist du nicht neugierig, wie wir zurechtkommen? Zu viert?«
Ich blieb still, so still, wie man nur sein kann. Mit gesenktem Blick verschlang ich die Margherita, während meine Gedanken rasten. Wir brauchten keinen Eindringling. Sie zog ihn uns vor. Es ging uns hervorragend zu dritt. Und T war ein Badeort, der im Sommer voll war und im Winter leer, und dort wollte ich nicht hin.
Als ich mit dem Essen fertig war, holte ich Lüge und Zauberei aus der Tasche und zog mich zurück.
Ich hörte, wie meine Mutter amüsiert schnaubte, während ich so tat, als würde ich lesen. Sie suchte das Gespräch mit einem der Kellner: »Sie ist eine Intellektuelle, meine Tochter. Überall, wo ich mit ihr hingehe, öffnet sie ein Buch: in der Post, in der Standa. Die ideale Begleiterin!«
Wir waren in der Lucciola zu Hause. Jedes Silvester hatten wir dort gefeiert. Mama, Niccolò und ich: unzertrennlich. Ich konnte nicht glauben, dass ich diese Tische mit den rosa Tischdecken und die dazu passenden Stühle, die Salzstreuer mit den Reiskörnern darin, die Gemälde des Vesuvs und des Golfs von Neapel, die da oben, an den oberen Rändern des Piemont so exotisch wirkten, nie mehr wiedersehen würde. Das war eine solche Ungerechtigkeit, dass ich am liebsten laut losgeschrien hätte.
Stattdessen hielt ich mich an mein Schweigegelübde.
Das Schuljahr ging zu Ende, und die Prüfungen begannen. In unserer Wohnung herrschte tiefe Trostlosigkeit: Aufbewahrungsort für Pakete, die darauf warteten, verschickt zu werden, Spuren von Bildern, die von den Wänden genommen worden waren, alles verpackt, mit Ausnahme von meinem Zimmer und Niccolòs – nicht ein Koffer bereit, dieselben Laken seit zwei Monaten.
Wir waren uns nie so einig gewesen wie in jener Zeit, er und ich: eine Mauer, die Mama frohgemut durchquerte, in Höschen und BH, die Arme beladen mit Kleidern. »Brauchen wir diese Mäntel dort unten, was meint ihr?«
Ein Teil der Möbel wurde unbedacht verkauft, der andere mit Plastikbahnen zugedeckt. Ich verlor auf einen Schlag das Spielzeug meiner Kindheit. Mama machte einen großen Haufen und schenkte alles der Caritas. »Es wird Zeit, erwachsen zu werden, Elisa.« Aber das war das Letzte, was ich wollte.
Dann kam der Tag der Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse, und ich ging mit Mama zur Schule. Starr und steif neben ihr, stinksauer. Aber mit wem hätte ich sonst hingehen sollen.
Ich hatte keine Freundinnen. Wenn in der Grundschule ein paar zarte Freundschaften entstanden waren, waren sie durch die Mittelschule hinweggefegt worden. Ich war schüchtern. Meine Altersgenossinnen präsentierten sich auf der Via Italia mit violettem Lippenstift und Nasenpiercing und sprachen von Dingen, die sie mit den Jungs machen würden und die ich nicht verstand. Ich hatte keine Großeltern mehr und auch keine Onkel und Tanten oder Cousins und Cousinen in der Nähe. Im Unterschied zu meinem Bruder war ich in keiner Sportmannschaft. Niemand hatte mich in einen Musik- oder Theaterkurs eingeschrieben. Der einzige Ort außerhalb der Wohnung, den ich frequentierte, war die Bibliothek für Kinder. Bevor ich in T »die Fremde« wurde, war ich in den Schulen in Biella »die Asoziale«.
An jenem Tag sahen wir uns am Eingang der Mittelschule Salvemini einer dichtgedrängten Menge von Eltern gegenüber, nur Zentimeter, aber doch Lichtjahre entfernt. Nicht einer von ihnen ließ sich zu einem Gruß herab. Das war verständlich: Die Mütter der anderen trugen pastellfarbene Sommerkostüme, Seidenblusen, Perlenketten; meine am Knie zerrissene Jeans und Converse. Die Väter der anderen lächelten und scherzten mit den Kindern, um die Wartezeit zu verkürzen; der meine glänzte durch Abwesenheit. Es mögen auch nachlässige, müde, schlecht gekleidete Eltern da gewesen sein, aber ich sah sie nicht.
Als die Schulwarte die Türen öffneten und uns hereinließen, waren die Listen gerade am Schwarzen Brett ausgehängt worden. Alle drängten sich, um ihr Ergebnis zu suchen, es mit dem der anderen zu vergleichen und zu verkünden, das sei nicht gerecht, sie hätten mehr oder weniger verdient. Und ich.
Ich stand oben, an der Spitze. Ich war »die Asoziale«, diejenige mit der verrückten Mutter, mit karierten Hosen und Mokassins, die niemand zum Geburtstag einlud, die Einzige, die noch nie einen Jungen geküsst hatte. Aber ich war auch die Einzige mit »Sehr gut und ehrenvolle Erwähnung«.
Meine Mutter beugte sich zu mir, um mich zu streicheln.
»Was für ein Geschenk willst du? Du hast dir ein ganz großes verdient.«
Ich versuchte darüber nachzudenken. Ich hatte keine Träume. Was wusste ich schon von Geschenken, von Gegenständen, die dir gehören, die du besitzen kannst? Ich lebte von ausgeliehenen Büchern, von Kleidung, die ich von anderen bekommen hatte und die auszuwählen mich nie interessiert hatte. Aus der realen Welt liebte ich nur die Orte: die Fenster der Lucciola, von denen aus man das gelbe Gebäude des Bahnhofs sah, den Parkplatz der Liabel, auf dem ich immer gewartet hatte, bis meine Mutter von der Arbeit kam, unsere Wohnung im dritten Stock in der Via Trossi und, mehr als alles andere, die Palazzina Piacenza.
Ich glaube, ich war den Tränen nahe: Warum reichen wir dir nicht?
»Irgendwas, na los«, beharrte sie.
Ich unterbrach den Redestreik.
»Bleiben«, erwiderte ich.
Daraufhin erlosch ihr Lächeln, ihr Blick verfinsterte sich, und ich erstarrte, weil ich wusste, was diese Signale ankündigten.
Sie gab mir vor allen einen heftigen Stoß, als wäre ich durchgefallen. Sie zog mich zuerst ins Auto, dann die Treppen hinauf und dann in dieses Wohnklo, in dem wir lebten. Sie warf meinen Bruder aus dem Bett und ohrfeigte ihn. Sie packte mich an den Haaren. Wir versuchten zu protestieren, aber vergebens. Sie hatte die Geduld verloren. Sie drückte unsere Köpfe in die Koffer, so wie die Großmutter die Schnauze der Katze ins Pipi, wenn sie auf den Teppich gemacht hatte. Sie kratzte uns. Zwang uns, all unsere Sachen zu nehmen, egal, ob sauber oder schmutzig, und sie in die Reisetaschen zu packen. Sofort, rasch. Sie schrie uns Dinge ins Gesicht, die ich nicht wiederholen kann, nicht wiederholen will, während des ersten und schlimmsten Umzugs meines Lebens.
*
Bevor ich fortfahre, muss ich mich der quälenden Erinnerung stellen.
Ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Beatrice oder mit meinem Vater. Doch nachdem ich beschlossen habe, alles aufzuschreiben, was für einen Sinn hätte es, ein Geheimnis für mich zu behalten?
Ich verkehre auf einigermaßen vertrautem Fuß mit literarischen Figuren: Ich lese viel. Ich habe auf Buchseiten zahlreiche Mädchen kennengelernt, die Waisen, von Katastrophen verfolgt oder Opfer schlimmster Übergriffe waren, denen das Unglück aber nichts anhaben konnte: strahlend, voller Talent, eindeutig dafür bestimmt, erlöst zu werden. Die Versuchung, mich auf diese Weise zu erzählen, als eine dieser kleinen Heldinnen, reizt mich, das gebe ich zu.
Aber ich kenne inzwischen meine Zukunft, und es handelt sich um eine ziemlich mangelhafte Erlösung. Außerdem schreibe ich keinen Roman. Ich möchte mich darauf konzentrieren, wer ich bin, ohne Märchen zu spinnen. Wenn ich den Versuch wagte, mich ohne Ausflüchte zu fragen: Warum, Elisa, war die Begegnung mit Beatrice so entscheidend, dass sie dein ganzes Leben bestimmte?
Ehrlicherweise müsste ich dann antworten: Weil ich vor ihr allein war.
Es war dunkel, es war früh am Morgen, es war Winter. Das vorletzte Jahr im Kindergarten. Niccolò frühstückte in der Küche, ich hatte die Grippe und zitterte, und Mama wusste nicht, bei wem sie mich abgeben sollte. Ich sehe sie deutlich vor mir, wie sie am Telefon hängt und herumtelefoniert, weint, fleht: »Bitte, nur für heute Vormittag! Sie wird die ganze Zeit schlafen …« Jedes Mal legte sie verzweifelt auf. Schließlich ließ sie die Arme fallen, und sie hatte eine Idee: »Komm, wir gehen.«
Sie mummelte mich ein: zwei Pullover, Daunendecke, Mütze, Schal. Ich glühte und starb zugleich vor Kälte. Sie hob mich hoch und trug mich hinunter in die Garage, begleitet von Niccolò, der alle drei Schritte stehen blieb, um Schneebälle zu formen und uns damit zu bewerfen, was Mama wütend machte. Sie setzte mich auf den Sitz neben sich. Er protestierte, fügte sich dann und setzte sich nach hinten. Der Wagen brauchte eine Ewigkeit, bis er ansprang. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Die Straßen waren mit Salz und Eis bedeckt.
Sie setzte meinen Bruder an der Schule ab. Anschließend fuhr sie zur Piazza Lamarmora und parkte vor einem Gebäude, das ich noch nie gesehen hatte. Sie wartete, bis die Lichter im ersten Stock angingen, dann hob sie mich hoch und ging mit mir die Treppe hinauf und durch eine Tür mit geschliffenen Glasscheiben. Drinnen herrschte eine drückende Hitze, und das Neonlicht blendete mich. Mama legte mich auf ein Kissen, entfernte nach und nach die Schichten aus Wolle und gab mir eine letzte Paracetamol. Sie machte »Ssch« mit dem Finger auf den Lippen.
»Ich geh arbeiten, du bleibst brav hier, um eins bin ich zurück.«
Ich kann immer noch mein Herz hören, das dröhnt und sich leert.
Die Verlassenheit, die den Brustkorb füllt, über die Ufer tritt, die Beine, die vor Angst zittern, das Gefühl unendlicher Unsicherheit.
Ich konnte nicht einmal weinen. Ich kauerte mich zusammen und verbarg den Kopf zwischen den Händen, der Hals brannte, die Gedanken und Gefühle waren gelähmt durch klirrende Kälte.
Die Bibliothek war leer, weil alle im Unterricht waren oder krank zu Hause, aber sie wurden von jemandem umsorgt. Ich war mir sicher, dass meine Mutter nicht wiederkommen würde.
Ich habe keine Ahnung, was sie mit den Bibliothekarinnen ausgemacht, wie sie sie überzeugt hatte. Nach einer Weile legte mir die Ältere die Hand auf die Stirn, um zu fühlen, ob das Fieber gestiegen war, und fragte mich, ob ich Durst hätte oder auf die Toilette müsse. Ich wollte nichts. Als das Paracetamol zu wirken begann, fand ich die Kraft, mich aufzusetzen, blickte mich um und hasste sie: die Bücher.
Was glaubten sie? Dass sie meine Mutter ersetzen könnten?
Carla und Sonia, mit denen ich mich in der Folge anfreunden sollte, kamen mit einer Sammlung von Märchen von Basile zurück. Und ein Gefühl von Zärtlichkeit überkommt mich heute bei dem Gedanken, dass Sonia wohl kaum älter als vierzig gewesen ist, sich nie Kinder gewünscht hat und keine Ahnung hatte, was sie mit einem Mädchen meines Alters anfangen sollte. Carla dagegen, die sechzig war und ab und zu auf ihre Enkelkinder aufpasste, litt unter Ischias und humpelte. Ich war ihnen einfach so, aus heiterem Himmel, aufgedrängt worden, mitten in ihrer Arbeit. Aber anstatt die Carabinieri zu rufen, hatten sie mir Basile gegeben.
Ich blätterte ein paar Augenblicke darin, ohne zu wissen, was ich damit tun sollte; lesen konnte ich nicht. Die Figuren waren winzig, die Worte riesig, feindselig. Ich schloss das Buch wieder, klammerte mich aber mit beiden Händen daran, weil ich nichts anderes hatte, was mich davor bewahrte zu fallen.
Die Panik oder, besser, die Einsamkeit ist ein primitiver und sehr einfacher Zustand, in dem es auf der einen Seite die unermessliche, bedrohliche Welt gibt und auf der anderen dich, ein Nichts. Ohne eine Mutter kann keiner überleben. Es ist eine Wahrheit, die ich gründlich kennengelernt habe und deren Narben ich für immer in jedem lebenswichtigen Organ tragen werde. Und doch fand Mama nach diesem ersten Mal Gefallen daran.
Ich weiß nicht, wie sie von der Existenz dieses Ortes überhaupt erfahren hatte, vielleicht durch einen Flyer oder durch Hörensagen. Grundsätzlich bezweifle ich, dass sie vorher jemals eine Bibliothek betreten hatte. Aber diese bunten Räume mit ihren Teppichen und Kissen, den kindgerechten Tischen und Stühlen müssen ihr wie der ideale Parkplatz vorgekommen sein, und noch dazu kostenlos: die Lösung aller Probleme. Und daher erfand sie Entschuldigungen, führte Dramen auf und schlich sich heimlich davon. Carla und Sonia hatten sie, glaube ich, gleich richtig eingeschätzt. Sie hatten Mitleid mit mir und darauf verzichtet, das Jugendamt einzuschalten, weil diese merkwürdige Frau, die wie ein junges Mädchen wirkte, mich jedes Mal mit Küssen bedeckte. Vielleicht liebte sie mich ja.
Das tat sie nicht immer. Wenn sie sich mit ihren Freundinnen in einer Bar traf, setzte sie Niccolò vor die Videospiele und mich auf einen Hocker neben sich, und ich schwor, mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern, dass ich ihnen nicht zuhören würde. Zum Friseur und in den Supermarkt konnte ich problemlos mitkommen. Doch dann wurde ich wieder krank, oder sie musste irgendwohin. Allein? Mit jemandem? Ich habe es nie erfahren. Und dann kam dieser Moment, in dem sie vor der Palazzina Piacenza parkte.
Dass mein Bruder zumindest teilweise davor bewahrt wurde und eine normale Jugend haben konnte mit Freunden und Sport, lag nur daran, dass er ein eisernes Immunsystem hatte und ein Junge war. Seine Fähigkeit zu lieben war von ihr abhängig, aber nicht seine Identität.
Monatelang öffnete ich sie nicht, die Bücher.
Ich verbrachte den Vormittag damit, durch die Fenster den Monte Cresto und den Bo, den Mucrone und den Camino anzustarren; die einzige physische Präsenz, die für immer an ihrem Ort geblieben war. Wann immer sie konnten, setzten Sonia und Carla sich neben mich auf das große Kissen und zeigten mir einen Buchstaben, und dann einen anderen. Das ist da A, das ist das O, das C, das D, das M. Und ich kam nach und nach aus meinem Schneckenhaus.
Ich lernte lesen, und die Zeit verstrich, die Wirklichkeit rückte in die Ferne. Ich war frei, mich selbst zu vergessen, Piratin zu sein, Ungeheuer, Hexe, Prinzessin. Die Einsamkeit verschwand, bei Schwierigkeiten kam mir immer ein Eichhörnchen oder eine Fee zu Hilfe. Wenn meine Mutter den Blinker betätigte und auf der Piazza Lamarmora die Geschwindigkeit verringerte, war ich beinahe glücklich.
Ich wartete auf sie und las. Stunden-, jahrelang. Die anderen wuchsen heran, die Körper streckten sich, die Stimmen wurden heiser, meine Klassenkameradinnen bekamen zum ersten Mal ihre Tage. Ich dagegen blieb, wie ich war, als wäre ich verzaubert. Äußerlich veränderte ich mich nicht, aber innerlich kam es zu erstaunlichen Veränderungen. Ich befreundete mich mit niemandem und doch mit Hunderten von imaginären Personen. Ich hatte ein geisterhaftes Leben und eine glühende Phantasie. Nur das Unsichtbare passierte wirklich, nur hinter den Worten war jemand bereit, mit mir zu reden. Auch deswegen sollte ich viele Jahr später, als ich sie zum ersten Mal sah, Beatrice sofort erkennen. Nicht äußerlich, meine ich, sondern von innen her.
Weil meine Mutter mich dem Lesen überlassen hatte.
Aber ich wollte Mama. Ich hätte alles dafür gegeben, Analphabetin zu bleiben.
Die Literatur war im Grunde das einzige Mittel, die Leere zu füllen, die sie hinterlassen hatte. Aber könnte es je eine Leidenschaft ohne vorherige Leere geben?
Ich werde mich an diese Frage erinnern müssen, wenn Beatrice berühmt werden wird.
*
»Ich verzeihe dem Frühling, / dass er wieder kam. / Ich zürne ihm nicht, / dass er wie alle Jahre / seine Pflicht tut.
Ich weiß, meine Trauer / hält das Grün nicht auf. / Und bebt ein Halm, / so ist es der Wind.«
So beginnt »Abschied vom Ausblick« von Wisława Szymborska und stirbt meine Kindheit. An einem Morgen vor zwanzig Jahren, im flachen Licht der Dämmerung und mit geschlossenen Wagenfenstern, weil die Welt draußen noch kalt war.
Übelkeit, leerer Magen. Mein Bruder, der vorn saß, hörte auf seinem Walkman Enema of the State, Seite A und Seite B, und starrte finster auf die Straße. Niemand sagte ein Wort. Der Monte Cresto, der Bo, der Mucrone und der Camino blieben etwa eine halbe Stunde in der Heckscheibe sichtbar, dann verschwanden sie.
Ich begriff, auf dem Sitz des Alfasud kauernd, dass dieses Stückchen Alpenfelswand ohne mich dableiben und weiterbestehen würde. Ich akzeptierte es nicht. Während meine Mutter mich mit Gewalt von diesem Anblick trennte, drückte ich Lüge und Zauberei an meine Brust, das ich in der Bibliothek ausgeliehen und nie zurückgebracht hatte; in Wahrheit hatte ich es noch nicht mal gelesen, nur immer wieder neu angefangen.
Als ich den Kopf drehte und versuchte, nach vorn zu blicken, an jenem Donnerstag Ende Juni, war Biella bereits nicht mehr zu sehen. Die von der A26 in zwei Teile zerschnittene Ebene kam mir wie eine eintönige, undifferenzierte Platte vor. Der Rest des Planeten lief fremd an den Fenstern vorbei.
Heranwachsen ist ein Verlust.
Mama saß lächelnd am Steuer. Auf der Höhe von Ovada hielt sie an einer Raststätte. »Frühstück?«, rief sie und schaltete den Motor aus. Fröhlich, als machten wir einen Ausflug. »Wollt ihr ein Croissant mit Vanillecreme oder ein Schokocroissant?«
Niccolò riss die Wagentür auf und schob sich hinaus. »Deine scheiß Begeisterung kannst du dir in den Arsch schieben.« Er schlug die Tür zu, so heftig er konnte.
An der Theke wechselten wir einen langen Blick, mein Bruder und ich, während wir die Brioches verschlangen, die sie uns gekauft hatte; im Minirock auf einem Hocker sitzend, kaute sie wie eine Minderjährige einen Kaugummi, und alle starrten sie heimlich an. Immer wieder überprüfte sie ihr Aussehen im Spiegel, den sie aus ihrer Tasche holte. Sie zog den Lippenstift nach, richtete sich die Frisur, machte sich für Papa schön. Und wir waren so rot im Gesicht und voller Wut, dass wir hätten platzen können.
Bevor wir hinausgingen, hielt Niccolò mich zurück. An Mama gerichtet, aber mit Blick auf mich, sagte er: »Ich geh auf die Toilette.«
»Ich auch«, schwindelte ich.
Wir liefen die Treppe hinunter und betraten die Herrentoilette.
Er blickte mir in die Augen. »Laufen wir weg.«
»Wann?«
»Jetzt.«
»Und wohin?«
»Wir gehen zurück nach Biella. Wir campen, es ist Sommer.«
Mein Herz fing vor Freude zu rasen an: die Möglichkeit.
»Ich leihe mir ein Zelt aus«, fuhr er fort, »es ist so heiß. Wir gehen in die Nähe des Cervo, so können wir uns waschen.«
»Aber er ist kalt, er ist ein Wildbach«, wandte ich ein.
»Scheiß drauf! Dort gibt es Raves, Dorffeste, wir werden immer was zu essen finden, zu rauchen, wir werden nie allein sein. Und im Oktober werde ich achtzehn, ich werde im Babylonia arbeiten, und du kannst problemlos bei mir leben.«
Ein paar Männer kamen herein und blickten uns böse an, mich, die ich ein Mädchen war, und Niccolò, der breitbeinig am Waschbecken stand, eine Zigarette zwischen den Lippen.
»Ja, aber wo?«, insistierte ich. »Wo werden wir im Winter leben?«
»Wir werden ein Haus besetzen, das von Oma.«
»Ohne Heizung?«
»Es gibt Campingkocher. Wir können das Wasser in Töpfen heiß machen.«
Für einen Augenblick, einen einzigen, klang das für mich plausibel: über die Autobahn zum Autogrill auf der andren Seite zu laufen und einen Laster zu bitten, uns mitzunehmen. Vom Jagen und Angeln im Valle Cervo zu leben. Im September in das alte Haus von Oma zu ziehen, das dermaßen verfallen war, dass es nie verkauft oder vermietet worden war. Und dass der italienische Staat mich so leben und aufs Gymnasium gehen ließ: unbeaufsichtigt. Im Übrigen würde es nicht das erste Mal sein.
»Okay«, erwiderte ich.
»Perfekt«, sagte mein Bruder und zündete sich die Zigarette an.
»Junge«, wetterte eine Stimme, »hör zu, hier drin ist Rauchen verboten. Mach sie aus.«
Der Mann mittleren Alters kam auf uns zu. Niccolò lachte und blies ihm den Rauch ins Gesicht. Der Herr hätte zögern können, aber er tat es nicht.
»Flegel, hat dein Vater dir keinen Respekt beigebracht?«
Wie jedes Mal, wenn diese Taste gedrückt wurde, benutzte Niccolò sofort seine Faust. Weitere Männer kamen herein. Ich begab mich aus der Schusslinie. Ich hatte diese Szene millionenfach mit angesehen, mich aber nie daran gewöhnt. Samstags kam es häufig zu Schlägereien, und Niccolò musste in der Kaserne abgeholt werden, nach einer schweren Beleidigung, einer Haftstrafe, einer Aggression. Jedes Mal wurde ich Zeugin seines rüpelhaften Benehmens und wie Mama die tollsten Ausflüchte erfand, um ihn zu verteidigen, und ich verspürte unten, zwischen den Beinen, eine merkwürdige Empfindung: Es war, als wollte die Blase sich von allein leeren, weil ich über nichts Macht hatte.
In der Autobahnraststätte drangen die Schreie an jenem Morgen wohl bis in den oberen Stock, denn die Leute eilten in Scharen herbei, auch Mama. Ich sah sie an, und mir war klar, dass der Plan zu fliehen schon auf der Schwelle der Toilette gescheitert war. Ich sah, wie sie sich wie eine Furie ins Gedränge stürzte: »Lasst meine Kinder in Ruhe, ihr Scheißkerle!« Ihre sanften Gesichtszüge waren dermaßen verzerrt, dass sie kaum wiederzuerkennen war.
Die Scham ist ein Gefühl, das ich häufig für meine Familie empfunden habe. Ich habe sie wie einen Felsblock hinter mir hergezogen, als wäre alles meine Schuld, jahrelang.
Wir wurden gebeten zu gehen, alle drei. Wir stiegen wieder in den Wagen: mein Bruder, der fluchte, meine Mutter mit zerzausten Haaren und ich weinend. Mama brauste los im vierten Gang, mit überdrehtem Motor und quietschender Kupplung. »Gib mir das Zeug, das du da hörst.« Sie streckte fordernd die Hand aus, steckte die Kassette ins Autoradio, und ein Song ertönte, den ich seitdem nicht mehr anhören kann: All the Small Things.
Ja: Wir waren ein ganz kleines Ding, hilfloses Treibgut in diesem Alfasud.
Mein Bruder holte Zigarettenpapier, ein Feuerzeug und Haschisch hervor und begann es zu bearbeiten. Ich dachte: So, jetzt haben wir auch die letzte Grenze überschritten. Mama sah ihn von der Seite an, ohne jedoch eine Miene zu verziehen. »Ich glaube, das Zeug tut dir nicht gut. Ich bin einmal ohnmächtig davon geworden.«
»Na los, nimm einen Zug.«
Niccolò reichte ihr den Joint. Mama schüttelte den Kopf. »Bist du verrückt? Ich fahre!« Aber sie nahm einen Zug. Und gleich darauf noch einen. Als wäre »dieses Zeug« für sie gar keine so ferne Vergangenheit, wie sie uns glauben lassen wollte.
»Komm, Eli, zieh auch mal.« Mein Bruder drehte sich nach hinten.
»Machst du Witze?«, protestierte ich.
Ich hatte noch nicht einmal eine Zigarette probiert.
»Was kann dir das schon tun? Es ist nur ein Joint.«
Und so nahm ich einen Zug, hustete und war kurz davor, mich zu übergeben. Aber dann reichten wir den Joint rundum, bis nur noch der Filter übrig war.
Ich legte den Kopf zurück und dachte lachend: Wir sind so überflüssig. Wenn wir gegen die Leitplanke geschleudert würden, würde uns niemand vermissen. Meinen Bruder vielleicht schon, weil er eine Freundin und einen Haufen Freunde hatte. Aber sie waren in Biella geblieben, er hatte sie schon verloren. Auch Basketball spielte er schon seit einer Weile nicht mehr. Er packte die Sporttasche, tat so, als würde er hingehen, dann bog er hinter der Sporthalle ab und legte sich vor der kleinen Kirche in der Via Italia hin, wie auf einer Wiese, und rauchte und teilte Dutzende von Joints mit den Punks. Er würde in seinem Leben nichts zustande bringen, das war bereits klar. Und ich? Ich war gut in der Schule, ich würde eines Tages auf die Uni gehen können. Aber ich hatte etwas an mir, das nicht stimmte, ich gefiel niemandem. Und Mama?
Sie hatte in fünfzehn Jahren ich weiß nicht wie viele Tausende Höschen von ihrem Arbeitsplatz geklaut.
Auch er wird uns nicht lieben, dachte ich, er wird uns nicht retten können. Er stand für Paolo Cerruti, Professor für Softwareentwicklung zu einer Zeit, da Software ein Wort war, das den meisten nichts sagte.
Wir waren allzu glücklich gewesen zu dritt unter der Bettdecke, an Sonntagen bis mittags. Mit Mama, die uns an sich drückte, als wären wir noch Kinder. Im Bett krümeln, Popcorntüten leeren, sechs Stunden am Stück MTV schauen. Glücklich auf falsche Weise, die niemand je vermutet hätte in einer katastrophalen und problematischen Familie wie der unseren. Aber jetzt, da ich weiß, wohin unsere Geschichte uns gebracht hat, will ich betonen: Dieses Glück war nicht inszeniert, es war echt. Und ich war verzweifelt auf jenem Rücksitz, weil ich fühlte, dass diese trübe und strahlende Sache, die uns vereinte, vorbei wäre, sobald wir in T angekommen waren.
Dann überraschte uns in Genua das Meer.
Ein blauer Halbmond am Ende eines Tunnels.
Er ging auf und nahm den ganzen Horizont ein. Die Brücke, die es heute nicht mehr gibt, überquerten wir an diesem Tag benommen, unsere Kleidung nach Haschisch riechend, Blink-182 im Autoradio, fix und fertig. Doch das Meer entlockte uns ein Lächeln.
Den Rest der Fahrt verschliefen Niccolò und ich. Wie sie enden würde, war uns egal. Ob wir ankommen oder sterben würden, lief auf das Gleiche hinaus.