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Die Tagebücher
ОглавлениеBologna, 18. Dezember 2019
2 Uhr
Die tiefe Dunkelheit war der Ort, der mir als kleines Mädchen am meisten Angst gemacht hatte. Ich brauchte nur in die Garage hinunterzugehen, ohne auf den Schalter zu drücken, die Kellertür anzulehnen, und schon war sie da, stumm und tief. Auf der Lauer.
In der tiefen Dunkelheit konnte sich jede Gefahr einnisten. Hexen, schreckliche Tiere, Ungeheuer ohne Gesicht, aber auch nichts: die Leere. Ich glaube, das war der Grund, der mich gezwungen hat, so unvernünftig lange bei meiner Mutter zu schlafen, dass ich mich schäme, davon zu sprechen.
Jetzt, mit dreiunddreißig, blicke ich in die tiefe Dunkelheit meines Zimmers, und mir ist, als hörte ich meine alten Tagebücher in dem Versteck ächzen, in dem ich sie begraben habe, nachdem ich dich verloren hatte. Fünf Jahre Gymnasium und eines an der Universität, nacherzählt in flatteriger Handschrift, Posca-Marker und Silberflitter, stumm geschaltet und ruhiggestellt wie in einem abgeschalteten Reaktor.
Seit wir keine Freundinnen mehr sind, habe ich aufgehört, Aufzeichnungen über das Leben zu machen.
*
Ich setze mich auf mein Bett. In einem Anfall von Reife begreife ich, dass der Moment gekommen ist, mich zu erinnern, mich dir zu stellen. Andernfalls werde ich keine kluge Entscheidung treffen, was dich betrifft.
Ich hole die Leiter aus der Abstellkammer, steige zwei Sprossen hinauf und halte inne, weil ich mich wie eine Diebin fühle. Wovon?, frage ich mich. Meiner eigenen Vergangenheit?
Oben angekommen, habe ich Herzrasen. Ich strecke die Hand in den Staub, der den Schrank bedeckt, und hole alle sechs Tagebücher aus der tiefen Dunkelheit hervor.
Ich trage sie zum Nachttisch ins Licht. Sie hier neben mir zu haben ist wie ein Schlag in die Magengrube. Angesichts der rosa, geblümten, goldenen Umschläge empfinde ich das Bedürfnis, die Dinge sofort klarzustellen: Zwischen mir und dir ist kein Frieden möglich, Beatrice.
Ich lege eine Hand auf den lila Umschlag des Notizbuchs 2000–2001, in Versuchung, aber noch unentschlossen, ob ich es öffnen soll oder nicht. Und während ich mit mir selbst kämpfe, entziehen sich meine Finger der Kontrolle und schieben sich von ganz allein zwischen die Seiten. Das Tagebuch klappt auf, und ein verblasstes Polaroid kommt zum Vorschein, eines von denen, die mein Vater aufgenommen hatte.
Ich nehme es und halte es in das Licht der Glühbirne. Ich erkenne mich als kleines Mädchen, mit kurzem Haar, einem Sweatshirt der Misfits und einem verängstigten Lächeln. Und ich erkenne dich, das genaue Gegenteil von mir. Mit der prächtigen Mähne, dem roten Lippenstift und den violetten Fingernägeln; du umarmst mich und lachst laut. Ich ertrage es nicht, dich zu sehen.
Ich drehe das Foto um. Auf der Rückseite steht: »Für immer Freundinnen«. Das Datum: »4. Juni 2001«.
Ich weiß nicht, wann mir das zuletzt passiert ist, aber ich breche in Tränen aus.