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5 Hochsommer

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Den Hochsommer zwischen meinen beiden Leben hatte ich zum Großteil damit verbracht, ihn zu suchen, indem ich ohne Sinn und Verstand die Küste abfuhr. Ich erkundete einen freien Strand: nichts. Ich fuhr weiter, hielt nach einem Kilometer vor einem Strandbad: wieder nichts. Auf dem Quartz sitzend, mit langer Jeans und karierter Bluse, suchte ich die Liegestühle, die Badetücher, die Kabinen, die Duschen ab. Ich versandete in den Körpern der anderen.

Die Spitze einer Brustwarze, die Haare, die heimtückische Beule in den Slips der Männer. Junge oder alte Männer gingen an mir vorbei, im hellen Licht, das ihre muskulösen oder schlaffen Schenkel betonte, tropfnass vom Strand kommend oder nackt und ungeduldig, dorthin zu kommen. »Was schaust du so, hässliche Kuh?« »Loserin, perverse Schlampe!« Wenn ich entdeckt wurde, floh ich ohne Helm.

Ich wollte ihn wiedersehen. Dort unten, zwischen den Sonnenschirmen, den Freunden, den Mädchen. Die Entfernung messen, die mich von ihm trennte und von der Welt, in der meine Altersgenossinnen am Wasser entlangliefen, die Badeanzüge absichtlich zwischen die Pobacken gerutscht, die Nägel lackiert, Glücksbänder um die Knöchel, Chupa-Chups-Lutscher oder Algida-Cornetti auf eine Weise lutschend, die eine klare Einladung zu etwas war. Das ich nicht kannte und wozu ich nicht fähig gewesen wäre. Und warum sollte ein Junge wie er mich einer von ihnen vorziehen?

Die Jugend und obendrein diesen Umzug zu überleben, dachte ich, würde nicht möglich sein. Aber zunächst muss ich einen Schritt zurückgehen.

*

In der Nacht unserer Ankunft in T trennten Mama und Papa uns. Unter dem Vorwand, es gebe ein Zimmer für jeden in der neuen Wohnung, brachten sie Niccolò rechts und mich links vom Flur unter. »Ihr seid groß«, sagte Mama lächelnd und umschlang dabei Papa, als wäre sie in meinem Alter, die Finger in der hinteren Tasche seiner Hose. Sie waren gemeinsam zu Bett gegangen. Als ich aus dem Badezimmer kam, hatte ich sie hinter der Tür leise lachen hören.

Ich starrte in die Dunkelheit, voller Angst, sie noch mal zu hören. Was zu hören? Die Ungewissheit ließ die Furcht riesengroß werden. Bei jedem Knarren spitzte ich die Ohren, in Alarmbereitschaft wie ein Beutetier im Dickicht. Das einen Spalt offene Fenster ließ das Meer herein. Ich hörte nur dies: das dumpfe Keuchen der Wellen.

Um vier, vielleicht fünf Uhr hielt ich es nicht mehr aus und suchte bei meinem Bruder Zuflucht.

»Du schläfst nicht?«

Er schüttelte den Kopf, mitten im Bett sitzend, mit dem Rücken an der Wand unter den Laken, die so neu waren, dass man noch die Falten aus der Fabrik sah. »Wo sind wir, Eli? Ich kann nicht fassen, was passiert ist.«

Das schwache Licht der Nachttischlampe flackerte bei jedem Windstoß des Scirocco und erinnerte mich an das Schlaflied »Die Flamme flackert, die Kuh ist im Stall«, das sie mir als Kind immer vorgesungen hatte. Und jetzt.

Wir hatten unsere Mutter nicht mehr.

»Ich hasse diesen beschissenen Ort.« Niccolò zündete sich eine Zigarette an, da das Haschisch aufgebraucht war. Das Zimmer stank sofort nach Marlboro, wie in Biella. »Ich kann bei diesem verdammten Meeresrauschen nicht schlafen, und bei der scheiß Hitze kann man das Fenster nicht schließen.«

Ich setzte mich auf sein breites Einzelbett, das wie mein kleineres von noch ungeöffneten Koffern und Reisetaschen umstellt war.

»Wo finde ich morgen was zu kiffen?«

»Wenn du willst, helfe ich dir beim Suchen.«

Niccolò lachte. Er trug Boxershorts und ein Unterhemd. Ich hatte ihn Millionen Mal nackt mir gegenüber in der Badewanne gesehen, wo er mich durch ein Blasrohr mit Schaum bespritzt hatte. Ich berührte seine Füße mit meinen Fußspitzen, wie wir es als Kinder getan hatten. Er gab mir einen Kuss hinter das Ohr, um mich zu kitzeln. Wir verbrachten eine Stunde oder zwei damit, Pläne zu schmieden. Die Flucht im Zug: ohne Fahrkarte über sechs oder sieben Stunden in der Toilette eingeschlossen, das war möglich. Mord: Im Grunde war es nicht schwer, einen Menschen zu töten, es genügte ein im Schlaf aufs Gesicht gedrücktes Kissen oder ein anaphylaktischer Schock, wenn wir wüssten, wogegen er allergisch war. Und so weiter, bis wir das Geräusch von Pantoffeln hörten und einen Satz zur Tür machten. Niccolò öffnete sie gerade so weit, um hinauszuschauen: unser Vater. Der sich aus dem ehelichen Schlafzimmer schlich. Verschlafen und schuldbewusst und im Pyjama. Was für Erinnerungen hatte ich an ihn? Ich sah weder eine Liebkosung noch einen auf Schultern verbrachten Spaziergang, der sich da vor mir in Richtung Küche entfernte.

Wir hörten, wie er den Schalter drückte und sich einen Mokka machte unter dem einzigen Licht, das mir im Viertel zu brennen schien. Niccolò schloss die Tür wieder und kehrte ohne ein Wort ins Bett zurück. Wir hörten ihn immer noch: den Wasserhahn im Badezimmer, den Pissestrahl, die Spülung. Konnten wir ernsthaft bei ihm leben? Erst als Papa die Wohnung verließ, um den Regionalzug um 6 Uhr 30 zu nehmen, zu seiner letzten Prüfungssitzung vor den Ferien, konnten wir einschlafen. Aneinandergekuschelt unter den Laken, während das Tageslicht bereits durch die Rollläden drang und das Zimmer mit Flecken übersäte. Gerade mal drei bis vier Stunden. Dann weckte Mama uns.

Sie schien eine andere Frau zu sein. Sie bestand darauf, sofort eine Stadtrundfahrt zu machen, und benutzte Ausdrücke wie »Schauen wir sie uns an!« und »Machen wir sie zu unserer!«, mit Ausrufezeichen und schriller Stimme.

»Geh du«, erwiderte Niccolò, »wir haben andere Pläne.«

»Was für welche?«, fragte Mama, während sie Butter auf eine Scheibe Zwieback schmierte.

Papa hatte uns einen Frühstückstisch wie im Hotel gedeckt. Zwieback, Marmeladen, das Obst schon geschält und in Stücke geschnitten, er hatte sogar die Kerne aus den Trauben entfernt. Niccolò und ich hatten nur mühsam unsere Verblüffung verborgen.

»Also, was für Pläne?«, wiederholte Mama, während sie Marmelade auf die Butter strich.

»Ein Dealer, wenn du’s genau wissen willst.«

Sie biss nicht in die Scheibe, hielt sie in der Luft und richtete sie auf uns. »Das reicht jetzt, Niccolò. Dein Vater hat keine Ahnung. Er würde sich furchtbar aufregen und wütend werden. Auf mich.«

»Weißt du, das ist mir scheißegal.«

»Das tut dir nicht gut. Auf die Dauer könnte es dein Gehirn schädigen.«

»Versuchst du etwa, eine normale Mutter zu sein? Das ist Energieverschwendung.«

»Streitet euch nicht«, ging ich dazwischen, müde von der schlaflosen Nacht, entschlossen, diesen vielleicht letzten Tag zu verteidigen, an dem wir gemeinsam allein wären. »Wir können doch beides miteinander verbinden: den Ausflug und den Dealer.«

Mama musterte Niccolò erneut: »Wenn dein Vater dich beim Kiffen erwischt, ich schwör dir, er bringt dich um.«

Noch waren wir wir, mit unseren Regeln, unseren Gewohnheiten. Wir sind nur zu Besuch, redete ich mir ein. Es ist nur ein blöder Sommer, und das war’s.

Wir ließen ein Durcheinander von Tässchen und Tellern in der Spüle zurück und Krümel auf und unter dem Tisch. Wir wuschen uns gleichzeitig im Badezimmer. Ich putzte mir die Zähne, Mama duschte, und Niccolò gelte seine Haare. Dann wahllos in Kleidung und Schuhe geschlüpft und nichts wie weg im Alfasud. Mit heruntergelassenen Fenstern und im alten Autoradio »The cruelest dream, reality«.

»Wenn du einen Punk siehst, Mama, halt an«, sagte Niccolò und blickte desillusioniert nach draußen. Während wir uns durch den Verkehr der Strandpromenade kämpften, wurde uns schnell klar, das Babylonia würden wir hier nicht finden, auch nicht die Murazzi aus Turin, keine Gemeindezentren, keine Filmmuseen und Hallen für Rave-Partys. Es war keine nennenswerte Industrie zu sehen, kein Graffiti, kein A für Anarchie. T war eine tote Stadt, verhaftet in ihrer Anonymität.

Ich dramatisiere: Es war ein großes Dorf. Mit einem schönen Meer, aber nicht einmal einem Luxushotel, zahlreichen wie zufällig aufgestellten Sonnenschirmen und nur wenigen ordentlichen Strandbädern; und jene berühmte Festung mit den Baugerüsten drum herum. Aber fragt mich nicht, wo es sich befindet, und bittet mich nicht, seinen Namen auszuschreiben. Beatrice wurde hier geboren, ihre Biographie ist an keinen Ort gebunden. Aber das T, das ich erzähle, ist meins. Niemand hat das Recht zu behaupten: »Diese Straße ist nicht dort«, »Hier gibt es keine Drogen«, »Die Mädchen ziehen sich nicht so leicht aus bei uns«.

Es ist meine Seele, in die ihr eindringt.

*

Mama parkte den Alfa auf der Piazza Gramsci, wir stiegen türenschlagend aus, und – ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen – die Alten, die in der Bar saßen, der Barmann, der Kioskbesitzer, die Kassiererinnen und die Kunden des Coop drehten sich alle zu uns um.

Mein Bruder hatte einen grünen Irokesenschnitt, ein Dutzend Piercings zwischen Gesicht und Ohr und trug ein Hundehalsband mit Stacheln und ein zerfetztes T-Shirt. Ich trug wegen eines von meiner Mutter zusammengeklaubten Vorrats nur Männerhemden, die mir bis zu den Knien reichten. Mama trug einen halbtransparenten lila Unterrock und keinen BH.

Wir präsentierten uns den Bewohnern von T, als wären wir direkt einem Ufo entstiegen.

Die Überraschung oder das Unverständnis war allerdings gegenseitig. Ich kann es nicht erklären, aber obwohl wir immer noch in Italien waren, kleideten sich die Leute fünfzig Kilometer entfernt wirklich anders und gestikulierten auch anders, und wir hatten sie noch nicht sprechen gehört!

So früh am Morgen mussten die jungen Leute alle am Strand sein oder ausgeflogen. Touristen gab es wenige, nur ein paar blasse deutsche Familien. Die Nachbarorte waren viel berühmter und attraktiver. Es blieben nur die Alten, die Karten spielten und uns flüchtige Blick zuwarfen.

Nach etwa zehn Metern sagte Niccolò fassungslos: »Da ist ja eine Spielhalle!« In Biella gab es schon lange keine mehr. Er musterte die Gesichter der Klienten auf der Suche nach einem Dealer, aber keiner von ihnen war älter als zwölf. Daraufhin hakte Mama sich bei uns beiden ein und zwang uns, zwischen den vergilbten Palmen, den noch geschlossenen Eisdielen, den Pommesbuden und den kleinen Geschäften für Halskettchen und Anhänger die Hauptstraße entlangzugehen. Als sie endete, begannen die Gässchen. Wir wagten uns hinein. Ein feuchtes Spinnennetz aus Steinen, die Häuser so nah beieinander, dass das Tageslicht nicht eindringen kann. Geräusche von Kochtöpfen, Plaudereien von Balkon zu Balkon.

Plötzlich traten wir ins Sonnenlicht, auf einen weiten Platz, der direkt ans Meer anschloss, an ein Gewirr ankernder Boote, auf denen zusammengerollt Katzen lagen. Und darüber, das Tyrrhenische Meer überragend, ein von den Unbilden des Wetters verwittertes Gebäude, drei Stockwerke hoch und Jahrhunderte von Salz an den Fenstern. Es stand dort oben wie eine aufgegebene Festung.

Ich las das Schild. »Staatliches Gymnasium.«

Ich las noch einmal. »Staatliches Gymnasium Giovanni Pascoli.«

Ich näherte mich ungläubig. Der Mistral blies heftig.

»Giovanni Pascoli.« Ich konnte es nicht fassen.

Dass das ab Mitte September meine Schule sein sollte.

Dass ich da drinnen landen sollte. Und dass ich diesen Ort in gewisser Weise – aber das verstehe ich erst heute – nie mehr verlassen sollte.

Ich wandte den Blick ab. Gleich darauf quälte mich aber doch die Neugier: ein Stockwerk, ein Fenster, zufällig ausgewählt. Welche Art von Klassenkameraden würde ich dort treffen? Was für Lehrer? Wer würde an einem solchen Ort mein Freund werden können?

Mama und Niccolò hatten nichts bemerkt. Sie zeigten sich gegenseitig die nordafrikanischen Straßenverkäufer, die Taschen und illegal gebrannte CDs anboten. Bevor ich ihnen erklären konnte, dass diese Ruine das humanistische Gymnasium war und ich dort nicht hinwollte, sah ich, wie sie sich an der Hand nahmen und sich entfernten. Unbekümmert, ohne mich. Sie erinnerten sich erst, mich zu rufen, als sie auf dem Kai schon zu kleinen Figuren zusammengeschrumpft waren, die auf Bootsleinen traten und Brillen prüften.

»Ich komme nach«, erwiderte ich, schreiend oder kaum flüsternd.

Macht das einen Unterschied?

Viele Jahre sind vergangen, und ich habe es akzeptiert, dass die Familie, die alles für mich war, auch – und vor allem das – ein Verlöbnis zwischen ihnen beiden war. Meinem Bruder und meiner Mutter. Niccolò ist immer attraktiv gewesen und obendrein verrückt: das Größte für eine wie Mama. Er war ihr Sohn, der Erste, derjenige, der direkt auf der Hochzeitsreise gezeugt worden war. Und ich? Ich war ein bisschen wie jener Sommer: ein katastrophaler Versuch meiner Eltern, wieder zusammenzukommen. Sicher, nicht nur das, auch etwas anderes. Aber was?

Werde erwachsen, Elisa.

Ich drehte ihnen den Rücken zu. Ich ging zur Piazza Marina zurück, blickte zum Gymnasium hinauf, zeigte ihm den Mittelfinger und ging weiter. Ich hätte heulen können, aber ich ging. Ich liebte sie, wollte sie hassen, konnte es aber nicht. Ich lief weiter. Weitere hundert, zweihundert Meter. Und dann geschah es.

*

Meine Jungfräulichkeit sollte ich ein paar Monate später verlieren. Das Jungfernhäutchen, das reißt, der neue Schmerz, das Blut zwischen den Schenkeln: das alles sollte erst noch kommen. Aber die Unschuld der Gefühle, der letzte hartnäckige Faden, der mich noch an die Kindheit kettete, ich kann sagen, dass ich sie an jenem Tag zerrissen habe, als ich plötzlich, unerwartet, auf die Gemeindebibliothek von T stieß.

Ich ging durch den Eingang, und der Geruch der gebrauchten Bücher stieg mir sofort in die Nase und beruhigte mich. Es war ein großer Raum, nicht zu vergleichen mit der Palazzina Piacenza. Die grauen Wände, die Metallregale, die Terrazzofliesen: Das erinnerte eher an ein Archiv oder ein Gericht. Aber es gab einen Lesesaal, und dank meiner Spürnase stieß ich schnell darauf.

Ich entdeckte ihn hinter einer Glastür: abgeschieden, ruhig. Ich ging hinein. Er war größer, als ich gedacht hatte, schwach erleuchtet, mit langen Tischen aus Kirschholz, ein paar Lesepulten, leer. Also ließ ich mich auf einen Stuhl fallen, als gehörte er mir. Ich bewunderte die Holzwände, die bedeckt mit Büchern waren, die man nur an Ort und Stelle einsehen konnte, und lächelte. Ich fürchte sogar, dass ich so etwas Albernes wie »Wow!« gesagt und die Springerstiefel unter dem Tisch gekreuzt habe. Ich blickte in die Ecke mir gegenüber und dachte, ich müsste sterben.

Ich war nicht allein.

Da saß jemand und beobachtete mich.

Ich setzte mich sofort ordentlich hin und wandte den Blick von der Person ab, noch bevor ich sie angesehen hatte. Verlegen, genervt: Ich hatte mich schon darauf gefreut, mich auf die Regale zu stürzen, stattdessen musste ich wohlerzogen aufstehen, langsam zu einer Konsole gehen und die Kartei einsehen und dabei darauf achten, wie ich die Hüften und den Po bewegte.

Im Fokus der Aufmerksamkeit von jemandem zu stehen, darauf war ich nicht vorbereitet. Tollpatschig, unzulänglich, allzu auffällig. Anders als Beatrice, die sich vollkommen selbstsicher in Damenunterwäsche vor Millionen Zuschauern bewegt. Ich brachte es nicht einmal fertig, vor einem einzelnen auch nur ein bisschen spontan zu sein.

Ich suchte zwischen den Regalen nach P für Poesie.

Mit einem unkontrollierten Blick streifte ich seinen Kopf.

Es war ein Junge. Da er wieder las und das nach unten geneigte Gesicht von seinem blonden Haar verdeckt wurde, konnte ich nicht genau erkennen, wie alt er war.

Was interessiert dich das? Ich suchte das P von Penna.

Er schien nicht schlecht gekleidet, hässlich oder verhaltensauffällig zu sein. Aber wer könnte, außer mir, am 30. Juni in eine Bibliothek gehen?

Ich fand Penna und Tutte le poesie.

Ich kehrte zu meinem Stuhl zurück. Ich hätte mich auch auf einen anderen setzen können, mit dem Rücken zu ihm zwei oder drei Tische weiter weg, aber ich tat es nicht.

Ich schlug eine Seite auf, las einen Vers: »Leicht fällt auf das Gute und auf das Böse«.

Ich las nicht wirklich. Ich spürte, dass er mich beobachtete. Hörte, wie das Halbdunkel im Raum sich kräuselte, das Rascheln des Papiers, das Fallen des Staubs. Ich wollte nicht, ich konnte nicht, stattdessen betrachtete auch ich ihn verstohlen.

Wir sahen uns an.

Und ich kehrte sofort zum Gedicht zurück.

»Leicht fällt auf das Gute und auf das Böse / ihre süße Eile, zum Höhepunkt zu kommen.«

Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, meine Tarnung nicht zu verlassen, als wäre mein Körper ein Versteck, stattdessen stand er in Flammen. Unübersehbar. Gesehen.

Wer weiß, was er liest.

Hau ab, Elisa.

Aber wenn ich sofort gehe, sieht es so aus, als täte ich es seinetwegen.

Halte noch fünf Minuten durch. Dann mach dich aus dem Staub.

Ich blickte zur Tür. Mama und Niccolò suchen mich sicher schon, dachte ich. Ich spähte erneut nach ihm. Die Wangenknochen, die Waden, das T-Shirt. Es war nicht das erste Mal, dass ich so einen Jungen sah: athletisch, mit gleichmäßigem Profil, schön gezeichneten Lippen. In der Schule, auf der Straße war ich Dutzenden von ihnen begegnet, und das hatte nie etwas ausgelöst in mir. Ich war überzeugt, mein Leben lang eine alte Jungfer bleiben (und mit meiner Mutter leben?) zu müssen. Aber so ein Junge in einer Bibliothek, das war mir noch nie passiert. Der Zufall wühlte mich auf, weil ich es mir, ohne es mir einzugestehen, mindestens eine Million Mal vorgestellt hatte.

Es gelang mir nicht, mich zu konzentrieren. Ich musterte ihn erneut. Dann schämte ich mich plötzlich. »Ihre süße Eile, zum Höhepunkt zu kommen.« Ohne zu begreifen.

Auch er drehte sich immer wieder um, ein wenig, langsam.

Bis er aufstand und sein Buch nahm. Ich war sicher, er würde gehen; stattdessen ging er um den Tisch herum und setzte sich neben mich.

»Du bist nicht aus T.«

Ich rührte mich nicht. Entdeckte in dem Augenblick, wie sie an diesem Ort sprachen, wie sie die e und die o öffneten. Aus seinem Mund.

»Ich bin hier noch nie jemandem begegnet, der jünger als sechzig ist, besonders im Sommer.«

Es gelang mir, gleichmütig zu bleiben, äußerlich.

Innerlich jedoch herrschte Chaos. Ich war aufgeregt, und die Art dieser Aufregung irritierte mich. Ich machte mir Gedanken wegen des Hemds, das ich trug, es verbarg die Titten und die Hüften, die ich nicht hatte, aber ich fragte mich, wie ich darin wirkte. Ich wurde bescheuert. Und oberflächlich, interessierte mich für belanglose Dinge.

»Was liest du da?« Er nahm sich mein Buch. »Ah, Penna.«

Er kannte ihn.

»Redest du auch?«

Nein, ich zog es vor zuzuhören. Jahrelang allein spielen, allein lesen, auch meine Schulbank war immer eine Insel gewesen. Wenn ich an die Tafel gerufen wurde, um abgefragt zu werden, war meine Stimme heiser, blieb mir in der Kehle stecken und klang so ungewohnt, dass es mir selber komisch vorkam, sie zu hören.

Das war auch an diesem Vormittag der Fall, als ich sagte: »Ich heiße Elisa.«

»Lorenzo.«

Er berührte mit seiner Hand leicht meine, um sich vorzustellen. Meine Hand reagierte nicht, sie blieb auf dem Tisch liegen wie ein Stein. Aber als er sie zurückzog, überkam mich der irrationale Wunsch, er würde es noch einmal tun und es möge mir gelingen, die Finger zu heben und seine zu streifen.

»Ich bin aus Biella, eine Stadt im Piemont.«

»Ich weiß, wo es ist, ich bin einmal mit meinem Vater dort gewesen, ich habe ihn begleitet, als er beruflich hinmusste. Ich erinnere mich an Oropa.«

Ich glaube, ich lächelte.

»Aber was machst du in T, hast du Ferien?«

»Ich fürchte nicht.«

»Wie meinst du das?«

Elisa, steh auf: Es muss Zeit fürs Mittagessen sein, Mama wird wütend sein.

»Hast du Ferien oder nicht?«, fragte er noch mal.

»Nein. Aber ich will nicht drüber sprechen.«

Jetzt geht er, dachte ich. Er hat begriffen, dass an mir nichts Besonderes ist, und verabschiedet sich.

Aber er blieb. »Okay, wechseln wir das Thema. Bist du hier, um zu lernen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Um zu lesen?«

Ich nickte.

»Und was für Bücher gefallen dir?«

»Gedichte.«

Er lächelte. »Sieh mal.«

Er zeigte mir den Umschlag seines Buchs: Ossip Mandelstam.

»Den kenn ich nicht.«

»Er ist Russe, wurde deportiert und starb in Wladiwostok im Schnee.«

Lorenzo hatte blaue Augen und lange Wimpern, die honigblond waren wie sein Haar. Breite Schultern wie ein Schwimmer und Arme mit hervortretenden Venen. Er war braun gebrannt, als ginge er jeden Tag ans Meer. Er hatte große Hände. Ich betrachtete seinen Körper und spürte dabei sehr deutlich meinen.

Wie aus dem Nichts kam mir der Gedanke, ihn zu küssen. Nicht auf normale Weise, sondern so, wie meine Klassenkameradinnen auf der Schultoilette erzählten: »Er hat mir die Zunge in den Mund gesteckt, mich mit Spucke nass gemacht, ich habe seine Zähne gespürt.« Diese Angebereien, die ich ein bisschen ekelhaft gefunden hatte, das wollte ich jetzt auch.

Wir sagten nichts, verstrickt in ein Schweigen, das alles andere als eine Leere war. Es war, als hätte er erraten, was ich gedacht hatte. Und als gefiele ihm dieser Gedanke.

»Auch du liest lieber Gedichte als Romane?«

Ich war aufrichtig. »Zu Hause habe ich Lüge und Zauberei, ich hab es tausendmal angefangen, komm aber einfach nicht weiter. Ich bin blockiert. Mit Leopardi passiert mir das aber nicht. Und auch nicht mit Antonia Pozzi. Saba. Sereni.«

Lorenzo schien entzückt zu sein.

»Wie alt bist du?«

»Vierzehn. Und du?«

»Fünfzehn. Niemand kennt Sereni. Du schon.«

»Gli strumenti umani«, sagte ich. Wobei ich mich wohlweislich hütete zuzugeben, dass ich meine Kenntnisse Sonia, der Bibliothekarin in Biella, zu verdanken hatte. Sie liebte die italienische Lyrik; sie schrieb selbst, veröffentlichte sich selbst und schickte ihre Gedichtbände an alle noch lebenden Dichter, in der Hoffnung, dass einer ihr antwortete. Stattdessen machte sie nur Schulden.

Aber jetzt gab es Biella nicht mehr, gab es kein früheres Leben.

»Un posto di vacanza«, setzte ich frech meine Aufzählung fort, »Frontiera«, als würde ich mich ausziehen, anstatt zu reden. »Stella variabile

»Es ist unmöglich, dass du all seine Gedichtbände kennst.«

Siehst du, Mama, wozu die Bücher gut sind?

»Und was für Musik hörst du?«

Ich lächelte unentschlossen. Aber das Spiel hatte begonnen, und es gefiel mir.

»Metal, Rock und Hardcore Punk«, übertrieb ich.

»Hardcore?« Er war konsterniert.

»Offspring, Green Day, Blink-182. Und Marilyn Manson.«

»Du liest Sereni und hörst Marilyn Manson?«

Wir sahen uns nur an, aber das stimmte nicht. Die Knöpfe, die Schnürsenkel, die Reißverschlüsse, alles war offen. Wir waren nackt. Seelenverwandt.

»Lies mir ein Gedicht von Penna vor«, bat er mich.

Ich öffnete das Buch auf gut Glück. »›Die schweren Ochsen gehen vorbei mit dem Pflug / im hellen Licht. Schließ mich ein in einen Kuss.‹«

»Noch eins.«

Ich gehorchte. »›Wie an der Quelle das schöne Kind trinkt / so haben wir gesündigt und nicht gesündigt.‹«

»Lies noch einmal das davor.«

Ich sah ihn an und las nur das Ende: »›Schließ mich ein in einen Kuss.‹«

Ich glaube, wir hörten gegenseitig unsere Herzen schlagen.

»Vielleicht liegt es daran, dass ich seit zwei Stunden Mandelstam lese und davon berauscht bin, vielleicht ist Penna schuld, keine Ahnung, aber ich muss es dir sagen. Ich habe mir immer vorgestellt, ich komme eines Tages hier rein und begegne einem Mädchen wie dir, allein, das liest. Ich habe sie mir körperlich nicht so ausgemalt, wie dich, aber … Verdammt, du bist es wirklich. Es ist passiert.«

Es verschlug mir den Atem.

Lorenzo beugte sich zu mir. Ich dachte daran, mich zurückzulehnen, ihm auszuweichen. Aber mein Körper blieb, wo er war, mehr noch: Er wartete. Dass Lorenzo sich auf einen Millimeter meinem Gesicht näherte. Dass er etwas mit der Zunge machte, von dem ich noch nicht begriffen hatte, ob man hinterher schwanger war oder nicht. Mir war das egal. Ich wäre jedes Risiko eingegangen. Dumm, leichtsinnig.

Er streifte meinen Mund. Unsere Lippen berührten sich. Öffneten sich. Schlossen sich ineinander. Es war, als wäre mein ganzes Leben, alles, was mich ausmachte, dort an dieser warmen und merkwürdigen Stelle.

Lorenzo löste sich abrupt. »Entschuldige.« Er fuhr sich mit einer Hand über die Haare, senkte den Blick. »Ich muss verrückt sein.«

Er stand auf. Brachte es nicht einmal mehr fertig, sich von mir zu verabschieden.

Er war es, der floh. Ich blieb da, auf meinem Stuhl. Betastete meinen Mund, die Spucke, ohne sie wegzuwischen. Dachte an die Unbekannte, die in mir war, so schamlos, anders, als ich zu sein glaubte.

Ich hatte jemanden geküsst. Einen Fremden. Als ich ins Freie trat, war ich wie betäubt. Die hoch stehende Sonne blendete mich, ließ mich schwanken. Ich hörte eine Stimme, die schrie: »Signora, Signora! Ist das das Mädchen?«

»Wo?«

»Da, vor der Bibliothek!«

Ich stellte die Szene scharf: Ein Mann deutete auf mich. Am Ende der Straße kamen meine Mutter und mein Bruder angerannt. Ich betrachtete nicht Niccolò, sondern sie. Und sie kam auf mich zugerast wie ein Zug. Kam nah an mich heran, ganz nah. Versetzte mir eine Ohrfeige. Eine einzige. Die mein Gesicht verzog.

»Wage es ja nie wieder. Nie wieder!«, schrie sie.

Sonst sagte sie nichts. Wir kehrten in absolutem Schweigen zum Wagen zurück. Als wir zu Hause waren, ließ ich sogar das Mittagessen aus. Jeder schloss sich in sein Zimmer ein; das war noch nie vorgekommen.

Erst am späten Nachmittag klopfte Niccolò an meiner Tür, um mir zu erzählen, wie viele Stunden ich verschwunden gewesen war: fast drei. Sie wussten nicht mehr, wo sie mich noch suchen, wen sie noch fragen sollten. »Mama schien verrückt geworden zu sein, sie hielt jeden auf der Straße an und schrie ›Elisa!‹, so laut, dass die Leute aus den Fenstern schauten. Wir sind bis zur Spielhalle zurückgegangen.«

»Habt ihr Papa Bescheid gesagt?«

»Nein. Mama wollte die Polizei rufen, aber dann fiel ihr ein, dass du in einer Bibliothek versteckt sein könntest. Aber wir mussten zur Touristeninformation gehen, um zu erfahren, wo sie sich befindet, denn im Tabakladen sagten sie dies, in der Eisdiele das, eine Riesenkonfusion.«

Meine Mutter kannte mich so gut, dass mir die Tränen kamen. Ich gehörte ihr, meine Liebe zu ihr war unerschütterlich. Und doch.

Ich war keine Jungfrau mehr.

*

Ich dachte beim Abendessen die ganze Zeit an ihn, während Papa, der von der letzten Prüfungssitzung zurückgekommen war, die weißen Strände und die natürlichen Oasen der Region in höchsten Tönen pries und Mama versprach, ihr auch die Hauptstadt und die Universität zu zeigen, in der er arbeitete, und sie bauschte sich die Haare, schob sie zurück, spielte mit dem Besteck und biss sich auf die Unterlippe; sie benahm sich wie ich heute Vormittag in Gegenwart von Lorenzo. Niccolò aß, nur um sie nicht hören und sehen zu müssen, mit dem Gesicht im Teller und den Stöpseln des Walkmans in den Ohren.

Nachdem er die Geschirrspülmaschine eingeschaltet hatte, reinigte Papa noch den Herd und schlug Mama vor auszugehen. Sie sagte sofort ja. »Und ihr«, fügte er nach einer Weile hinzu, »wollt ihr mitkommen? Wir gehen nur runter und essen ein Eis.«

Es war offensichtlich, dass sie allein gehen wollten, dass das Eis nur ein Vorwand war. Mein Bruder war lila im Gesicht. Keiner von uns beiden antwortete.

Allerdings spitzten wir die Ohren, während sie sich in ihrem Zimmer aus- und umzogen und Scherze machten. Dann kamen sie in die Küche und verabschiedeten sich mit einem leichten Kopfnicken, beide herausgeputzt. Sie trug das Kleid, das sie am Vormittag getragen hatte, und dazu Stöckelschuhe und Lippenstift. Ihm sah man an, dass er sich Mühe gegeben hatte, doch der ärmellose Pullover über der Bermudashorts war nicht gerade der Hingucker. Sie passten so gar nicht zusammen und waren so glücklich. »Bis später!«, verabschiedeten sie sich, er legte einen Arm um ihre Schultern, und sie lachte.

Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, trat Niccolò auf einen Stuhl ein und zerbrach ihn. Er sah mich an und sagte: »Ich bleibe keine Minute länger an diesem scheiß Ort. Ich hasse ihn, ich hasse sie, leck mich am Arsch. Lass uns zum Bahnhof gehen und nach den Zügen schauen.«

Er hatte recht, aber ich rührte mich nicht. Es war ein schrecklicher Ort, aber in weniger als vierundzwanzig Stunden seit unserer Ankunft war mir diese unerhörte, phantastische Sache passiert … Ich weiß, es scheint unglaublich, dass das alles innerhalb eines einzigen Tages geschehen war. Aber so funktioniert das Leben eben mit vierzehn. Du spürst die Zeit nicht, so schnell vergeht sie. Die Ereignisse folgen aufeinander wie ein Feuerwerk. Ein Augenblick genügt, um die Meinung zu ändern.

Ich wollte nicht mehr fliehen.

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