Читать книгу Bilder meiner besten Freundin - Silvia Avallone - Страница 7

1 Der Jeansdiebstahl

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Wenn diese Geschichte einen Anfang haben muss, und sie muss zwangsläufig einen haben, dann will ich mit dem Jeansdiebstahl beginnen.

Es ist nicht so wichtig, dass er nicht mit dem chronologischen Beginn der Ereignisse zusammenfällt und dass wir uns an dem Nachmittag bereits kannten. Wir zwei sind dort bei der Flucht auf einem Motorroller geboren worden.

Allerdings muss ich vorher noch etwas Wichtiges klären. Das fällt mir schwer und macht mich nervös, aber es wäre nicht richtig, so zu tun, als wäre die Beatrice, um die es geht, irgendeine Beatrice. Der Leser würde ganz ruhig beginnen, und dann, sobald er entdeckt, dass es sich um dich handelt, zusammenzucken und rufen: »Aber das ist ja sie?!« Und er würde sich auf den Arm genommen fühlen. Daher kann ich leider nicht verschweigen, was aus dem jungen Mädchen meiner Tagebücher geworden ist: eine öffentliche Persönlichkeit, eine von den allgegenwärtigen. Ich würde sogar sagen, es gibt niemanden auf der Welt, der allgegenwärtiger ist als du.

*

Die Person, von der ich spreche, ist in der Tat Beatrice Rossetti.

Ja, sie.

Aber bevor alle auf dem gesamten Planeten sie kennenlernten und man zu jeder Tages- und Nachtzeit wusste, wo sie war und welche Kleidung sie trug, war Beatrice ein normales Mädchen, war sie meine Freundin.

Die beste, um genau zu sein, die einzige, die ich hatte. Auch wenn sich das niemand vorstellen kann, und ich habe stets darauf geachtet, es für mich zu behalten.

Ich spreche von einer Zeit, die lange zurückliegt, als die Welt noch nicht von ihren Fotos überschwemmt war und ihr Nachname bei seiner bloßen Erwähnung endlose Diskussionen, erbitterte Auseinandersetzungen auslöste. Die Erdpole, die Ozeane, die Landmassen erbebten nicht, sobald sie einen augenzwinkernden Blick, ein Kostüm, ein romantisches Abendessen in Begleitung eines hübschen jungen Mannes oben auf dem Burj Khalifa veröffentlichte. Denn für die überwältigende Mehrheit von uns existierte das Internet gar nicht.

Ich habe niemals die Kontrolle über das Geheimnis verloren, das ich über unsere Freundschaft gebreitet habe. Und wenn ich es heute lüfte, dann nur, um mit mir ins Reine zu kommen. Das Geständnis beginnt und endet im Übrigen hier in diesem privaten Raum mit verschlossener Tür, der für mich immer schon das Schreiben ist.

Es würde mir nie einfallen, es herumzuerzählen oder damit zu prahlen. Und wer würde mir schon glauben? Wenn ich es beispielsweise auch nur meinen Kollegen gegenüber erwähnen würde: »Ich kenne die Rossetti, wir waren zusammen in der Schule«, weiß ich schon, dass sie mich mit bohrenden Fragen bestürmen würden. Und für sie wäre abgemacht, dass es zwischen uns nur ein paar Ciao und ein paar zufällige Blicke gegeben hatte; nicht auszudenken, dass eine wie sie und eine wie ich Freundinnen werden könnten.

Sie würden pikante, besser noch peinliche Details aus mir herauslocken und ihre Göttlichkeit durch Fangfragen auf Sünde reduzieren: »Sag mal, hat sie sich operieren lassen?« – »Wem hat sie sich hingegeben, um so berühmt zu werden?«

Aber sie würden die falsche Person fragen, denn ich kannte nicht »die Rossetti«; ich weiß, wer Beatrice ist. Die Auslassungen in den Biographien, die Fragen, denen sie in den Interviews ausgewichen ist, die Lücken und Verluste, von denen sich nirgends eine Spur findet, ich habe sie bewahrt. Zusammen mit unseren Augenblicken kindlichen und himmelschreienden Glücks, die niemanden interessieren, die mir aber heute noch Gänsehaut verursachen.

Nach ihr habe ich andere Freundschaften gesucht, aber ohne mich zu engagieren. In meinem Inneren wusste ich, dass diese Magie aus Geheimnissen und Schlupfwinkeln, in denen wir uns verstecken konnten, zwischen mir, Elisa Cerruti, der vollkommen Unbekannten, und Beatrice Rossetti, der unvorstellbar Berühmten, nur in der neunten Klasse entstehen konnte. Und was kann es für mich, die ich sie verloren habe, schon ändern, wenn alle da draußen sie idealisieren, beweihräuchern, kreuzigen, hassen und so oder so zu kennen glauben?

Sie wissen gar nichts von ihr, denke ich.

Denn sie war meine beste Freundin in unverdächtigen Zeiten. Und ich habe die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen alle fünf Tagebücher aus dem Gymnasium und das aus dem ersten Universitätsjahr gelesen. Und dann habe ich lange den Schreibtisch vor dem Fenster betrachtet und den Computer, den ich bis heute nur für die Arbeit benutzt habe. Ich bin dagestanden und habe ihn ängstlich angestarrt. Denn als junges Mädchen war ich überzeugt, dass ich gut schreiben könnte, und glaubte, ich würde tatsächlich Schriftstellerin werden. Doch ich habe mein Ziel nicht erreicht. Während Beatrice ein Traum geworden ist.

Allerdings spüre ich, dass die Bea, die niemand kennt, darauf drängt, zum Vorschein zu kommen. Ich habe diese Leere so lange in mir getragen, dass es mir egal ist, ob ich ihr gewachsen bin oder nicht. Ich will nichts beweisen. Nur erzählen. Zugeben, dass ich das alles immer noch empfinde: Enttäuschung, Wut, Sehnsucht. Und ich weiß nicht, ob das zu sagen Kapitulation oder Befreiung ist; ich werde es am Ende herausfinden.

Was ich mir jetzt zurückerobern will, ist der Anfang.

*

Also, der Jeansdiebstahl.

Am 11. November 2000 – so steht es im Tagebuch der neunten Klasse –, ein bedrückender Samstag, an dem der Regen gegen die Fensterscheibe schlug und es mich wie alle Gleichaltrigen unausweichlich dazu drängte, rauszugehen, mich zu vergnügen und einen Haufen Freunde zu haben, saß ich deprimiert und untätig in meinem Zimmer. Auch Beatrice war damals, so absurd das heute klingen mag, nicht sehr beliebt. Sie hatte vermutlich sogar noch weniger Freunde als ich, als sie mich gegen halb drei, nach dem Essen, über das Festnetz anrief.

Und ich war tatsächlich der letzte Strohhalm. Ich lebte seit wenig mehr als vier Monaten in jener Stadt, und ich hatte mich nicht nur nicht integriert, ich hatte mich auch nicht damit abgefunden; ich wollte nur noch sterben.

Nach der Schule hatte ich wie üblich schweigend mit meinem Vater zu Mittag gegessen, dann hatte ich mich in mein Zimmer verkrochen, mir die Stöpsel des Walkmans in die Ohren gesteckt und an der Liste von Adjektiven – »einsam«, »rötlich«, »betagt« – für die Platane in der Mitte des Hinterhofs weitergearbeitet. Schließlich hatte ich die Lust dran verloren, nach Wörtern zu suchen, und das Tagebuch auf den Boden geworfen. Ich saß im Schneidersitz auf dem Bett, fertig mit der Welt, als Papa klopfte. Ich reagierte natürlich nicht. Ich schaltete die Musik aus. Er wartete. Klopfte erneut, und ich reagierte wieder nicht. Das war eine Art Wettstreit, wer sturer war. Bis er die Tür öffnete und mit Sicherheitsabstand hereinschaute. »Da ist eine Mitschülerin von dir am Telefon, sie heißt Beatrice.«

Mir blieb fast das Herz stehen.

»Na los, sie wartet auf dich«, drängte er, da ich mich nicht rührte.

Es war deutlich zu sehen, dass er sich freute; er glaubte, ich würde endlich anfangen, Freundschaften zu schließen, aber er irrte sich. Vor diesem Anruf waren Beatrice und ich alles andere als Freundinnen gewesen. Sie hatte mir zuerst etwas vorgemacht, und dann hatte sie mich nur noch ignoriert. In der Schule hatte sie so getan, als sähe sie mich nicht. Schlimmer als diejenigen, die sich über mich lustig machten: absolute Gleichgültigkeit.

»Gehst du mit mir in die Stadt?«, fragte sie, als ich den Hörer am Ohr hatte.

»Wann?«

»In einer halben bis einer Stunde?«

Mit ihr vor allen über den Corso Italia zu gehen, das hätte mir schon gefallen. Sei auf der Hut, ermahnte ich mich und umklammerte den Hörer fester. Überleg mal: Du würdest sie nur blamieren. Das muss zwangsläufig eine Falle sein. Und außerdem, entschuldige bitte: Woher nimmt sie das Recht, dich so anzumachen? Ich war wütend. Aber auch, gegen meinen Willen, gerührt.

»Und was machen wir in der Stadt?« Ich fühlte vor.

»Das kann ich dir am Telefon nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Weil es ein Geheimnis ist.«

»Sag es mir, oder ich komm nicht.«

»Nein, sonst machst du nicht mit …«

Ich schwieg, wartete in Ruhe ab. Sie zögerte, doch schließlich gab sie nach und flüsterte: »Ich will eine Jeans klauen. Ich weiß auch schon, welche.«

Ich hörte auf zu atmen.

»Alleine schaff ich es nicht, ich brauche jemanden, der Schmiere steht«, gab sie zu. »Und ich sag dir was: Das ist nicht irgendeine Jeans … Sie kostet vierhunderttausend Lire!«, rief sie leise. Ich stellte mir vor, wie sie die Hand vor den Mund hielt, um bei sich zu Hause nicht gehört zu werden. »Wenn du mitkommst, klau ich auch für dich ein Paar. Versprochen.«

Papa steckte den Kopf durch die Tür der Küche, wo er den Tisch abräumte, und warf einen Blick in den Flur, wo ich steif vor dem Telefontischchen stand. Er hätte wer weiß was dafür gegeben, dass ich ausging und mich in der Stadt eingewöhnte, die ich als feindselig empfand. Dabei hatte ich nur einen Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, in das Leben davor zurückzukehren und ihn nie mehr zu sehen.

Ich hasste ihn, obwohl er mir nichts getan hatte. Aber das war gerade das Problem, das Nichts. Die nackten Wände des für meine Ankunft frisch geweißelten Zimmers. Das leere Bett, in dem ich jede Nacht die Augen aufriss und vergeblich nach ihrer Hand, nach ihrem Knie suchte. Die Wohnung, in der sie sich nicht mehr unterhielten, sich nicht mehr stritten, mich nicht mehr riefen und beharrlich nicht da waren.

»Ich bin dabei«, antwortete ich schließlich.

Ich stellte mir vor, dass Beatrice lächelte; intuitiv durchschaute sie mich. Klauen war das Letzte, wozu eine wie ich in den Augen aller, aber nicht den ihren, fähig gewesen wäre. Ich habe geschrieben, sie sei damals ein normales Mädchen gewesen, und das stimmt auch, aber sie hatte eine Gabe: Sie verstand zu lesen. Nicht an der Oberfläche, auch nicht im Innern, sondern im Herzen. Worte, Gesten, Gewohnheiten. Gerade sie, die mit ihrem Aussehen ihr Glück würde machen können, wusste, dass die Wahrheit einer Person wie diejenige eines Buchs in dem steckt, was stumm bleibt; und geheim.

»Um halb vier am Eisenstrand. Weißt du, wo er ist?«

»Ja.«

Sie legte auf. Und ich, das Telefonkabel in der Hand, kehrte, auch wenn ich es nicht wollte, auch wenn ich misstrauisch und seit vier Monaten tot war, ins Leben zurück.

*

Der Eisenstrand ist zu weit entfernt, dachte ich, als ich mich in aller Eile anzog, Papa ohne weitere Erklärung ein »Ciao« zumurmelte und das Haus verließ.

Er wurde so genannt wegen des dunkeln Sands, der Überreste einer alten Mine, und er lag mit Sicherheit nicht im Stadtzentrum. Ich hatte ihn zufällig im Juli gefunden, an einem der zahlreichen Nachmittage, an denen ich allein ziellos auf meinem Motorroller herumgefahren war. Er war mir aufgefallen, weil auch im Hochsommer niemand dort war. Es handelte sich um eine Felsbucht, in der das Wasser sofort tief wurde, und er lag trostlos in seiner Verlassenheit da, ein kümmerlicher kleiner Strand, den die Touristen links liegen ließen, zu dem ich mich jedoch sofort hingezogen gefühlt hatte. Aber während an jenem Novembersamstag der Regen meine Hose und meine Jacke völlig durchnässte, konnte ich beim besten Willen nicht begreifen, warum Beatrice sich dort mit mir verabredet hatte.

Weil sie sich meiner schämt, ist doch klar. Oder es ist ein Scherz, und sie wird nicht auftauchen.

An diesem Küstenabschnitt gab es weder Häuser noch Geschäfte, erst recht keine vierhunderttausend Lire teuren Jeans. An jeder Ampel bremste ich, drehte mich um und wurde von der logischen Versuchung gepackt, umzukehren. Doch ich fuhr, unwiderstehlich vorwärtsgetrieben, weiter.

Ich war »die Fremde«. So nannten sie mich in der Schule hinter meinem Rücken, laut genug allerdings, dass ich es hörte. Als käme ich aus Argentinien oder Kenia statt nur aus einer anderen Region. Kaum betrat ich das Klassenzimmer, umringten sie mich schon und kritisierten meine Schuhe, meinen Schulranzen oder mein Haar. Jedes Mal, wenn ich ein e oder ein z anders aussprach als sie, kicherten sie. Auch Beatrice kicherte. Sie hatte mich nie verteidigt, war nie in der Pause zu mir gekommen. Und was will sie jetzt von mir? Dass ich für sie Schmiere stehe?

Wie blöd ich doch bin.

Ich schlängelte mich die Kurven zum Aussichtspunkt hinauf und ließ in gedrückter Stimmung und mit trüben Gedanken die Ortschaft hinter mir. Es begann zu regnen, stellenweise brach fahles Licht zwischen dicken schwarzen Wolken hervor. Die Straßen, die Häuser, die Strände: alles nass. Unmöglich, dass eine wie sie meine Freundin werden wollte.

Sie schminkte sich und schien jeden Tag direkt vom Friseur zu kommen. Und ich? Vergessen wir es. Jemand hätte mir beibringen müssen, auch auf mein Äußeres Wert zu legen, aber das war nicht geschehen.

Als ich die Kreuzung am Ortsende erreicht hatte, blieb ich am Stoppschild stehen und fühlte mich derart unsichtbar, sogar für meine Verhältnisse, dass ich mich verstohlen im Rückspiegel betrachtete. Mein Gesicht war blass, sommersprossig. Ich hätte ein bisschen Makeup auflegen können, wenn es denn in diesem Haus Schminke geben würde, wenn noch irgendetwas Weibliches vorhanden wäre, aber da war nichts. Ich bog in die Straße, die zur windigen Spitze des Vorgebirges führte, und war mir sicher: Es handelte sich um einen Scherz. Ich würde mich allein dort wiederfinden, einsamer denn je, und würde mich von den Klippen stürzen. Ich war ein Fehler, ich konnte nur Fehler machen.

Doch sie war da.

Auf ihrem neuen SR Replica. Sie wartete auf mich unter dem schweren anthrazitfarbenen Himmel, den Helm zwischen den Händen und in einem dunklen Regenmantel, der sie bis zu den Füßen verbarg und aus dem nur ein Paar Stiefel mit so hohen Pfennigabsätzen hervorschaute, dass kein anderer Sterblicher, welchen Alters auch immer, in der Lage gewesen wäre, an einem Regentag einen Motorroller damit zu fahren. Der Wind ließ die langen Haare, die bis zum Po reichten und im Jahr 2000 weder üppig noch braun, sondern kastanienbraun waren, mit aufgehellten Spitzen, wie es damals Mode war, und mit einem Glätteisen geglättet, wild flattern. Sie hatte mich nicht angelogen, sie hatte mich nicht verraten; sie wollte tatsächlich mit mir ausgehen.

Ich verringerte die Geschwindigkeit und bremste ein paar Zentimeter vor ihrem SR meinen gebrauchten Quartz ab, der so ziemlich das Schlimmste war, was mein Vater hatte auftreiben können, und obendrein noch verunstaltet von peinlichen Aufklebern: ein erhobener Mittelfinger über dem hinteren Scheinwerfer, verschiedene Bulldoggen mit Irokesenschnitt und A für Anarchie, Punk-Überbleibsel, die nicht auf meinem Mist gewachsen waren.

Mit stockendem Atem, unregelmäßigem Herzschlag, weichen Armen und Knien nahm ich den Helm ab und hob den Blick, und bis jetzt, fast zwanzig Jahre später, hat sich ihr Gesicht meinem Gedächtnis eingeprägt. Es ist nicht wie das von heute, auf den Millionen Werbebildern an den Häuserwänden, den Titelbildern von Zeitschriften oder im Internet. Sondern wie es an jenem fernen Tag meiner Jugend war, dem einzigen, an dem ich sie außer Haus ungeschminkt gesehen habe. Auf dem nicht asphaltierten Parkplatz des Eisenstrands, niemand um uns herum, nur ich und sie von Angesicht zu Angesicht.

Die Haut ihres Gesichts war blass, gerötet und pickelig. Vor allem auf Kinn und Stirn waren die Versuche, sie auszudrücken, und Konstellationen schwarzer Pünktchen zu erkennen. Nicht dass dies ihre offensichtliche Schönheit geschmälert hätte, es waren ihre Gesichtszüge, die ohne die gewohnte Make-up-Maske unvollkommen und rund, ja sogar traurig wirkten. Der leichte Schmollmund mit den von der Kälte aufgesprungenen Lippen war ohne Lippenstift ziemlich nichtssagend. Aber die Augen waren schon damals außergewöhnlich, von einem Smaragdgrün, wie man es in der Natur nicht findet, mit langen Wimpern, die keiner Wimperntusche bedurften, und einem stummen, in ihrem Geheimnis versiegelten Blick; diese Augen, die der ganze Planet kennt oder zu kennen glaubt.

»Dein Motorroller ist scheiße, aber weißt du was, die Aufkleber gefallen mir.« Sie schenkte mir ein strahlend weißes Lächeln, das die Grübchen auf ihren Wangen betonte, ein entwaffnendes Lächeln, mit dem sie jeden um den Finger zu wickeln verstand.

»Ich habe sie nicht draufgeklebt«, erwiderte ich aufrichtig. »Das war mein Bruder.« Was letztlich der einzige Grund war, warum ich sie nicht abgekratzt hatte.

»Ich habe dich vorhin angelogen, aber nur, weil du sonst nicht gekommen wärst. Wir fahren nicht in die Stadt, wir fahren nach Marina di S, und dein Quartz ist zu auffällig. Du musst ihn hierlassen.«

»Hier?« Ich blickte mich um. Um uns herum war nur eine öde Heide mit Erika und Wacholder, die vom Mistral zu Boden gedrückt wurden. Es gab nur das abweisende Meer.

»Ich komm nicht mit. Das sind mindestens zehn Kilometer.«

»Zwölf«, präzisierte sie.

»Das schaffen wir nicht mit einem zweizylindrigen Motorroller. Mein Vater ruft die Polizei, wenn ich vor dem Abendessen nicht zurück bin.«

Das stimmte nicht; wenn ich um Mitternacht nach Hause käme, würde Papa denken, ich sei eine normale Vierzehnjährige, und sich freuen.

»Mein SR schafft achtzig in der Stunde, was denkst du denn? Ich komme schließlich nicht aus Biella wie du. Wenn wir uns beeilen, sind wir um sieben wieder hier. Seit Tagen plane ich das schon. Warum vertraust du mir nicht?«

Weil du mit diesen Absätzen nicht zwölf Kilometer mit achtzig Stundenkilometern fahren kannst. Und weil du mir einmal die Hand auf die Schulter gelegt hast und dann verschwunden bist. Und als du wieder aufgetaucht bist, hast du mich ignoriert und über die Sticheleien der anderen gelacht.

Aber das Schlimmste war, dass ich ihr bereits verziehen hatte.

»Na los, steig auf«, befahl sie mir und rutschte an die Spitze des Sattels, um mir Platz zu machen.

Ich stieg zögerlich von meinem Quartz; er war zwar Schrott, aber auch der einzige Motorroller, den ich hatte, und Papa, so sehr legte er Wert auf Äußerlichkeiten, hätte mir mit Sicherheit keinen schöneren gekauft.

»Was ist, hast du Angst, dass er dir geklaut wird?«, sagte sie lachend. »Von wem, den Möwen?«

Ich stieg hinter ihr auf, Beatrice gab Vollgas, sie hatte nicht gelogen, ihr SR war getunt. Sie fuhr den Pfad hinunter, der voller Schlaglöcher war, an der Sternwarte und dem Leuchtturm vorbei und im Slalom durch die Macchia, die nach Salz, feuchter Erde und wilden, zwischen den Steineichen versteckten Tieren roch.

Ich überwand meine Verlegenheit, klammerte mich an ihr fest und drückte meinen Oberkörper an ihren Rücken. Bea ließ mich gewähren, weil sie spürte, dass ich Angst hatte. Eine solche Geschwindigkeit war neu für mich. Die Räder rutschten auf dem nassen Asphalt, aber sie beschleunigte. Es fühlte sich an, als wären wir immer kurz davor, hinzustürzen.

Wir kamen auf die Landstraße: eine gerade zweispurige Linie voller Lastwagen und Autos, aber nicht ein Motorroller. Wir brausten mit siebzig Stundenkilometern dahin und überholten alle, so wie der Regionalzug mit den erleuchteten Fenstern dort oben im Norden, wo mein Leben geblieben war.

Im Westen zerriss die Sonne jenseits des Pinienwaldes die Wolken und senkte sich glühend aufs Meer. Im Osten waren die von den Minen ausgehöhlten Hügel bereits dunkel. Wir fuhren im Gleichgewicht auf der ununterbrochenen Linie, die die Fahrbahnen trennt, und die Autofahrer blinkten und hupten, um uns darauf hinzuweisen, dass diese Geschwindigkeit sehr gefährlich und es verboten sei, zu zweit auf einem Motorroller zu fahren. Ich schloss die Augen, ich bereute bereits, ausgegangen zu sein, auf sie gehört zu haben. Da löste Bea eine Hand vom Lenker.

Mit ihrer Hand, die in einem Wollhandschuh steckte, nahm sie meine nackte. Drückte sie.

Wir wussten so gut wie nichts voneinander, ich kannte ihren Schmerz nicht, und sie kannte meinen nicht, aber irgendetwas musste sie geahnt haben, denn ihre Finger schoben sich in meine und streichelten sie, und ich streichelte ihre. Und vielleicht deswegen, oder wegen der Kälte, begannen meine Augen verstohlen zu tränen.

*

Die Boutique hieß Scarlet Rose. Ich bin sicher, dass sie mittlerweile seit Jahren geschlossen ist, aber in jenem Winter in Marina di S war sie unübersehbar, mit sieben leuchtenden Schaufenstern an der Hauptstraße, und alle waren sie bereits gefüllt mit Weihnachtsdekoration. Die Boutique wirkte wie ein Raumschiff, so sehr strahlte sie.

Beatrice und ich blieben eine Weile davor stehen, uns halb zu Tode frierend, und beobachteten die Touristen, die aus Florenz, ja sogar aus Rom gekommen waren, die Regenschirme ausschüttelten und mit Millionen Lire in der Tasche eintraten.

Um uns herum war Marina di S von Leuten überschwemmt wie sonst nur am Wochenende oder in der Hochsaison. Der Menschenstrom war so dicht, dass man nicht durchkam. Von überallher tauchten Popcornwagen, Luftballonverkäufer und Akkordeonspieler auf, denen die abgehetzten Leute, beladen mit ihren Einkäufen, ein paar Münzen in den Hut warfen.

Mich haben diese Badeorte immer deprimiert, die rein touristisch sind und sonst nichts, anziehend nur wegen ihrer Nähe zum Meer. Marina di S war genau das: eine Ansammlung von Häusern um eine Reihe von Geschäften, mit einem kleinen Hafen sowie einem großen Kaufhaus und ohne Geschichte; ein bedeutungsloser Ort, der sich von Zeit zu Zeit herausputzt und nach Brigidini, Krokant und Pizza riecht. Und doch kam es mir an jenem Nachmittag wunderschön vor.

Beatrice hatte mich fest im Griff und drückte sich an mich. Vielleicht fürchtete sie, ich könnte es mir im letzten Moment noch mal überlegen, aber wieso hätte ich das tun sollen. An einem Samstag hier mitten auf der Hauptstraße zu stehen versetzte mich in einen Rausch: Es war das erste Mal, ich Arm in Arm mit einer Gleichaltrigen, unter einer Decke mit ihr. Ich wusste, dass es nur hier möglich war, wo uns keiner kannte, und dass Beatrice vollkommen ungeschminkt war, verborgen unter einem langen schwarzen Umhang statt in eine Wolke aus Glitter gehüllt, denn das war ihr Ziel: inkognito bleiben, aus den Augen, aus dem Sinn. Sie hatte die Kapuze über ihren Kopf gezogen und den Regenmantel geschlossen. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, war es wunderbar: Nur wir beide wussten, was dieser Augenblick bedeutete.

Als sie sich entschlossen hatte, zog sie mich vor das dritte Schaufenster; genau in dessen Mitte funkelte, überflutet von Licht, was, wie sogar ich begriff, die Jeans sein musste. Auf jedem Quadratzentimeter mit Swarovski-Schmucksteinen besetzt, schmal und eng anliegend wie der Schwanz einer Meerjungfrau. Der Rest der Schaufensterpuppe war nackt, zwangsläufig: Was könnte man einer solchen Hose auch schon hinzufügen?

»Meine Mutter hat gesagt, dass sie sie mir nicht kauft«, erklärte sie, den Blick unverwandt auf sie gerichtet, »auch nicht zu Weihnachten, nicht einmal wenn sie das Einzige wäre, was ich mir wünsche. Sie ist ein gemeines Miststück.« Sie drehte sich zu mir. »Du hast keine Ahnung, was für ein gemeines Miststück meine Mutter ist, niemand weiß das.«

Ich schwieg, dieses Thema war tabu für mich. Ich begriff, dass es das auch für sie sein musste, denn sie fügte nichts mehr hinzu. Nachdem sie kurz überlegt hatte, blickte sie mir direkt in die Augen, mit einer Entschlossenheit, die ich nie vergessen habe.

»Eines Tages werde ich hineingehen und den ganzen Laden kaufen. Mit meinem Geld, das ich mir ganz allein verdient haben werde. Alles werde ich mir nehmen, den Laden plündern, leeren. Das schwör ich dir. Ich habe nie geklaut, und ich werde nie mehr klauen. Aber heute muss ich es tun, als Verteidigung. Verstehst du?«

»Ja«, erwiderte ich. Denn ich hatte tatsächlich das Gefühl, zu verstehen, dass der Jeansdiebstahl eine Frage von Leben und Tod war. Ich nahm mir fest vor, ihr zu helfen, die Jeans zu stehlen, auch auf die Gefahr hin, erwischt, identifiziert und aufs Polizeipräsidium gebracht zu werden. Dann würde mein Vater mich abholen, endlich einmal mich statt meines Bruders, und ich könnte ihn anschreien: »Hast du gesehen, wozu ich fähig bin? Wie schlecht es mir geht? Wie unglücklich ich hier bin? Bitte bring mich zurück nach Biella.«

Beatrice zog den Mantel aus, faltete ihn zusammen, steckte ihn in die Tasche und brachte ihr Haar in Ordnung. Und wie durch ein Wunder veränderte sich vollkommen ihr Aussehen.

Wir traten ein. Die Verkäuferinnen waren alle beschäftigt, was eine von ihnen aber nicht daran hinderte, uns zu bemerken, sich auf Beatrice zuzubewegen und einen überraschten und dann missmutigen Blick auf mich zu richten. Ich kann nicht mehr sagen, wie ich in diesem adrenalingeladenen Augenblick angezogen war. Nicht nur an dem Tag, sondern an jedem einzelnen versenkte ich meine Hände im Schrank und holte heraus, was da war, mit dem einzigen Ziel, mir was überzuziehen und unsichtbar zu werden. Nur dass in einem solchen Laden die Wirkung genau gegensätzlich war. Beatrice betrachtete mich ebenfalls und stellte mit Verspätung fest, dass auch ich, wie mein Quartz, eine Anomalie war.

Aber es gab jetzt kein Zurück mehr. Und niemand auf der Welt, niemand, kann eine Sache durchziehen wie Beatrice. Sie drückte ihre Lippen auf mein Ohr und flüsterte mir zu: »Tu so, als wärst du taubstumm.«

*

Als Erstes muss ich erzählen, wie Beatrice gekleidet war. Nicht nur weil ihre ganze Zukunft, ihr Ruhm und ihr Reichtum von ihrer hexenhaften Fähigkeit abhängen sollten, spurlos hinter ihrer Kleidung zu verschwinden. Sondern weil die Diebstahlsgeschichte und ihre Realisierbarkeit auf ebendieser Verkleidung beruhten.

Sie trug einen hellbeigen Mantel ihrer Mutter, der um die Taille mit einem prächtigen Elfenbeingürtel zusammengebunden war und ihr ein so vornehmes Aussehen verlieh, dass sie mindestens fünf Jahre älter wirkte.

Dazu die bereits erwähnten Stiefel aus weichem, schwarz glänzendem Leder.

Und zu guter Letzt einen bodenlangen Samtrock, ebenfalls schwarz, mit Rüschen und schillernden Einsätzen aus Organza; den Modedesigner weiß ich nicht mehr, aber die Verkäuferin, die uns erspäht hatte, wusste es, und sie ging uns in die Falle. Sie näherte sich Beatrice, sobald sie mit der anderen Kundin fertig war, um ihr zu sagen, der Rock sei wunderschön und wenn sie etwas suche, das sie damit kombinieren könne, sei sie am richtigen Ort. Beatrice schwindelte ihr sofort vor, sie habe ihn in Florenz gekauft, weil sie dort mit mir lebe, ihrer kleinen, bedauernswerten Schwester.

In Wahrheit waren wir damals beide vierzehn, nur dass sie wie zwanzig und ich wie zehn aussah. Von Anfang an stand ganz selbstverständlich fest, dass sie die Hauptperson sein würde, und dieses Gesetz bestimmte unsere ganze Zukunft. Auch den Ausgang unserer Geschichte, dem ich es zu verdanken habe, dass ich hier im Verborgenen schreibe, während sie dort im Mittelpunkt der Welt steht, in aller Munde.

Die Verkäuferin bahnte sich einen Weg zwischen den Ständern hindurch. Beatrice begann damit, dass sie eine Bluse brauchen könnte. Sie zog den Mantel aus und reichte ihn mir mit ihrer Tasche. Sie stützte die Hände auf den Tisch, auf dem Blusen, T-Shirts und Tops lagen. Ich bemerkte, dass ihre Augen ganz grün und begehrlich geworden waren, als wäre sie verzaubert.

»Ich probiere sie alle an«, sagte sie und ging in die Garderobe.

Ich folgte ihr gehorsam, blieb aber draußen. Ich sah undeutlich, wie sie sich entkleidete, einen Arm, eine Schulter. Die nach draußen gestreckte Hand: »Die nicht, die gefällt mir nicht!«, rief sie. »Jetzt die andere!« Gierig, gebieterisch. Dann kam sie heraus. Ging direkt zum Spiegel. Betrachtete sich. »Nein, die steht mir nicht.« Wütend.

Sie ließ sich andere Blusen, Pullover, Strickjacken bringen. »Ach!«, rief sie nach einer Weile hinter dem Vorhang. »Haben Sie auch etwas ausgefallenere Jeans, die ich anprobieren könnte?«

Die Verkäuferin war inzwischen wie benommen. Beatrice hatte vor und in der Garderobe Berge von Kleidungsstücken angehäuft und erzählte ohne Ende, dass ihr Vater ein berühmter Journalist sei, dass ihre Tante in Paris in einem Modeatelier arbeite und dass ich, nun ja, diese seltene Krankheit hätte, die dafür verantwortlich sei, dass ich nicht wachse und nicht spreche, und dass unsere Mutter beinahe depressiv geworden sei. Bea erfand, schmückte aus, sie war eine begnadete Erzählerin. Bis ihr aus dem Schaufenster die Jeans gebracht wurde.

»Das ist die letzte, die wir noch in Größe 38 haben.«

Beatrice schwieg und richtete den Blick auf die Arme der Verkäuferin, auf denen die Jeans lag, als wäre sie ein lebendiges Wesen. Ihr Blick war dunkel geworden wie die nächtliche Tiefe eines Waldes.

»Nein, die ist zu auffällig«, entschied sie.

»Glauben Sie mir, die wird Ihnen großartig stehen. Sie können sie an Neujahr anziehen, sogar mit einem einfachen T-Shirt machen Sie Eindruck.«

Ich war verblüfft, dass diese Frau sie siezte und sie als ebenbürtig behandelte. Mir war das in noch keinem einzigen Geschäft passiert.

Nach einer Weile sagte Beatrice, als müsste sie sich überwinden: »Na ja, wenn Sie wirklich drauf bestehen …«

Sie nahm sie und schloss den Vorhang hinter sich. Kaum war die Verkäuferin gegangen, streckte sie ihr Gesicht halb heraus, um mir zu bedeuten, zu ihr reinzukommen.

Sie war nackt. Sie trug nur einen BH und einen Tanga. Mich überkam ein starkes, verwirrendes Gefühl, eine Mischung aus Unbehagen und Anziehung. Doch sie bemerkte es nicht. Sie nahm das Preisschild, klemmte es zwischen Zeigefinger und Daumen und zeigte mir den Preis: vierhundertzweiunddreißigtausend Lire.

»Hast du gesehen?«, fragte sie, und ihre Augen waren vor Erregung geweitet. »Begreifst du?«

Ich war sprachlos, und das war nicht gespielt. Nicht weil der Gegenstand kostete, was er kostete, sondern weil Beatrices unbekleideter Körper ein so krasser, überwältigender Anblick war. Wie die Nike von Samothrake, die Daphne von Bernini, aber auch die Lava, die Erde, etwas Schmutziges. Ich hätte nie gedacht, dass Schönheit wehtun könnte.

Sie zog mit gesenktem Blick langsam die Jeans an und wartete. Wie mein Vater, bevor er die Polaroids umdrehte; er wartete ab, dass sie sich erschufen, dass aus dem Nichts eine Form erblühte und ihre Wahrheit enthüllte oder ihre Lüge. Sie schaffte es, zwanzig Sekunden mit geschlossenen Augen vor dem Spiegel zu stehen. Dann riss sie sie auf. Und ich las sie in ihrem Gesicht: die Freude.

Taghell erleuchtet vom weißen Spot, in der Heimlichkeit der Garderobe, war das gerade entstandene Bild, in Jeans und BH, ein Magnet.

Ich konnte den Blick nicht abwenden, als stünde ich unter Hypnose.

Eine wie sie konnte keine Ablehnung erfahren. Sie konnte weder verlassen noch ignoriert werden. Nur geliebt und vom Universum beneidet.

Als hätte Beatrice meine Gedanken erraten, sagte sie: »Ich gehe allen auf die Eier, hast du das bemerkt? Sie sind alle freundlich zu mir, aber sie hassen mich, fragen mich nie, ob ich mit ihnen ausgehen will. Aber stell dir vor, ich komme eines Morgens so in die Schule, wie das an ihnen nagen würde. Kannst du dir das vorstellen? Selbst meine Mutter würde schlucken, weil ich jung bin und sie nicht, weil ich schöner als sie bin. Verstehst du, warum ich es tun muss?«

In Wirklichkeit verstand ich es nach wie vor nicht, aber ich wollte ihre Freundin sein.

Beatrice nahm meine Hände, als wäre ich ihre Braut.

»Bist du bereit?«

»Ich bin bereit.«

Sie lächelte mir zu und blickte mir in die Augen.

»Dann muss es dir jetzt schlecht gehen.«

Ohne die Jeans auszuziehen, schlüpfte sie in den langen Rock, zog sich in aller Eile an und rief meinen Namen: »O Gott, Elisa!«

Was wusste sie von meiner Vergangenheit? Nichts. Und doch hatte sie mich gerade gebeten, das zu tun, was ich am besten konnte: die Luft nicht mehr in der Lunge und den Boden nicht mehr unter den Füßen spüren; das Herz, das wie verrückt schlägt, als würde es jeden Augenblick zerspringen. Man nennt es Panikattacken, aber für mich waren es immer Einsamkeitsattacken; sie begannen an einem bestimmten Morgen meiner Kindheit, von dem ich sogar erzählen könnte, wenn die Erinnerung daran mich nicht quälen würde.

Ich verließ nach Luft schnappend die Garderobe. Beatrice begann zu schreien und verbreitete Panik im Scarlet Rose. Ich zitterte. Alle umringten mich. Jemand eilte mit einem Glas Wasser herbei.

»Luft, Luft!«, flehte Beatrice und zog mich zum Ausgang. Sie weinte. Eine Stimme schlug vor, einen Krankenwagen zu rufen, und sie erwiderte verzweifelt: »Ja, sofort! Mama, Papa!« Sie rief nach unseren imaginären Eltern. Ich war blau durch das Luftanhalten. Sie zog heimlich die Schuhe aus und steckte sie in ihre Tasche. Sie riss die Tür auf. Dann weiß ich nur noch, dass wir losrannten.

Mit einem Affenzahn über den Corso rannten, wo kein Durchkommen war, aber wir drängelten uns voran, und dann hinunter durch die schlecht erleuchteten Gassen, hinter den eng geparkten Autos, dicht an den Mauern entlang. Kurz vor dem Herzinfarkt erreichten wir den Motorroller, den wir an der Auffahrt zur Aurelia stehen gelassen hatten.

Beatrice setzte ihren Helm auf, reichte mir meinen, klappte den Kippständer nach unten und lachte laut los.

»Du bist großartig gewesen, Eli, großartig!«

Eli hatte sie mich genannt. Es kam mir vor, als wären wir Töchter derselben Geschichte, eng vertraut wie siamesische Zwillinge. Ich war stolz auf mich, auf uns. Nicht einmal als ich die Grundschule mit lauter »Sehr gut« und später mit »Sehr gut und ehrenvolle Erwähnung« die Mittelschule beendet hatte, hatte ich mich so gut gefühlt.

Wir sausten durch die von den Scheinwerfern der Autos erhellte Dunkelheit, an diesem Samstagabend, der wie im Film zum exakten Mittelpunkt des Lebens geworden war. Ein kurzer Halt, um zu tanken, und dann weiter mit siebzig Stundenkilometern, wenn möglich noch schneller. Wir erreichten den Eisenstrand, als nur noch der Mond Küste und Meer beleuchtete. Der Himmel war so klar, dass man die Sternbilder des Stiers und der Zwillinge erkennen konnte.

Ich stieg von ihrem SR und setzte mich auf meinen Quartz.

»Es tut mir leid, dass ich nicht auch eine für dich klauen konnte«, sagte sie und schaltete den Motor aus. »Ich werde dir meine leihen.«

Sie hob den Rock, um sie mich sehen zu lassen. Im kalten Licht des Mondes flammten die Swarovski-Schmucksteine auf.

»Bea«, sagte ich – und nannte sie zum ersten Mal so –, »die kann ich nicht anziehen.«

»Warum?«

»Hast du mich mal angeschaut?« Ich lächelte, als wollte ich mich entschuldigen.

»Du hast keine Ahnung«, erwiderte sie ernst. »Komm am Montag nach dem Mittagessen zu mir, Via dei Lecci 17, und ich zeige dir was, das noch niemand gesehen hat.«

»Ich weiß nicht, ob ich kann …«

»Du kannst.«

Es war spät. Wir brausten den Abhang hinunter, ohne noch etwas hinzuzufügen, sie vorn und ich hinterher. So wie es für lange Zeit sein sollte: vor und hinter dem Spiegel, dem Fotoapparat, dem Computer, sie im Licht und ich im Schatten, sie, die redet, und ich, die ihr zuhöre, sie, die sich entfaltet, und ich, die sie anschaue.

Aber an jenem Abend verfolgten wir uns und spielten nur, uns zu überholen. Sie auf ihrem funkelnden SR, ich auf meiner Schrottkarre. Holpernd inmitten der Schlaglöcher, den Wurzeln der Pinien ausweichend, die die Straße aufbrachen, schreiend und kreischend. Wie zwei Verrückte.

Als wir wieder in der Stadt waren, war es nach neun. Am Kreisverkehr der Via degli Orti bog sie nach rechts, ich nach links. Wir verabschiedeten uns mit einem Hupen und dem Versprechen, uns wiederzusehen: am Montag, nach der Schule.

Dann endete der Traum. Ich spürte, wie der Kummer wieder meinen Magen füllte, während ich vor dem Haus parkte. Licht brannte in der Küche im Hochparterre, wo nur mein Vater auf mich wartete.

Bilder meiner besten Freundin

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