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5. Die (Wieder-)Entdeckung des homo culturalis als Errungenschaft der Kulturgeschichte

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Leistungen der Kulturgeschichte

Auf die Frage nach den Leistungen der Kulturgeschichte, die zum Abschluss dieser Einleitung zu stellen angemessen erscheint, erhält man üblicherweise unterschiedliche Antworten. Für Peter Burke ist ihr bleibendes Verdienst, gegenüber der „Buchstabengläubigkeit“ der „positivistischen Historiker“ die eigenständige Bedeutung und Wichtigkeit von Symbolen und Symbolik herausgearbeitet zu haben (12, S. 184). Andere Beobachter werden die von Lutz Raphael genannten Merkmale der Neuen Kulturgeschichte, insbesondere deren kritischen Umgang mit den rationalistischen Ansprüchen und Legitimitätskonzeptionen der Moderne, als Errungenschaften hervorheben (73, S. 228–246). Schließlich könnte überhaupt die Vermehrung der Betrachtungsweisen, Quellennutzungen, Methoden und Erkenntnisse als Verdienst gewertet werden, weil Pluralität in den Paradigmen für jede Wissenschaft besonders schnelle und tief greifende Innovationsfähigkeit zu garantieren scheint.

Aus einer weiteren, bisher noch weniger beachteten Perspektive liegt der Verdienst der Kulturgeschichte indessen auf einer grundsätzlicheren Ebene, nämlich derjenigen der oben bereits vorgestellten Anthropologie. Hauptsächlich dieser Ansatz hat, so könnte man argumentieren, zur Wiedergewinnung und Sicherung desjenigen vollständigen Menschenbildes beigetragen, das im gegenwärtigen Ansturm des ökonomistisch-neoliberalen Denkens einerseits und des Biologismus andererseits, die beide als reduktionistisch einzuschätzen sind, bereits verloren zu gehen drohte.

Homo culturalis als wichtigste Errungenschaft

Die Konzeption des homo oeconomicus wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts vor allem von US-amerikanischen Wirtschaftstheoretikern entwickelt; die derzeit verbreitete Variante beruht wesentlich auf den Vorstellungen des Wirtschaftsnobelpreisträgers von 1992 Gary S. Becker. „Alles menschliche Verhalten kann“ nach dieser Auffassung „so betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen, bezogen auf ein stabiles Präferenzsystem, maximieren und sich in verschiedenen Märkten eine optimale Ausstattung an Informationen und anderen Faktoren verschaffen“ (4, S. 15). Oder anders ausgedrückt: Der homo oeconomicus ist derjenige Mensch, der sein Verhalten allein am Ziel der Maximierung seines persönlichen, primär materiellen Nutzens ausrichtet und auf der Basis rationaler Zweck-Mittel-Überlegungen (rational choice) gestaltet, wodurch er mittels entsprechender äußere Anreize in seinem Verhalten gesteuert werden kann. Obwohl es an einschränkenden Äußerungen nicht fehlt, die insbesondere einerseits auf den Vereinfachungs- beziehungsweise Modellcharakter und die Notwendigkeit bestimmter Ergänzungen dieser Anthropologie, andererseits auf die Herausbildung des Typs homo oeconomicus erst nach langer Zeit und unter bestimmten Umständen in der westlichen Moderne verweisen, hat sich diese Vorstellung mittlerweile in breitem Maße durchgesetzt. Zahlreiche Anschlussstudien bemühen sich seither nachzuweisen, dass selbst Liebe und Ehe, Recht und Kriminalität, Religion und Moral, Krieg und Frieden, Egoismus und Altruismus mit diesem Ansatz erklärt werden könnten, obwohl sich zumindest die Moral bisher noch nicht als vollständig ,rational‘ auffassbar und begründbar erwiesen hat. Nicht zuletzt wurde das Modell auch auf den Bereich der Bildung und Wissenschaft übertragen, unter anderem mit der Folge, dass bisher angenommene und historisch nachweisbare intrinsische Motivationen für wissenschaftliche Spitzenleistungen, von der puren Leidenschaft für neue Erkenntnis bis zum Dienst am Menschheitsfortschritt, als unerheblich betrachtet und zunehmend durch extrinsische, also auf äußere Anreize abstellende, materielle Belohnung ersetzt werden.

Die gegenwärtig an unterschiedlichen Stellen vorgenommene Fortentwicklung dieses Ansatzes durch Zulassung von nicht materiellen beziehungsweise nicht egozentrischen ,Präferenzen‘, zum Beispiel im Sinne des Modells des homo oeconomicus reciprocans (Einbezug der Reaktionen der gesellschaftlichen Umgebung in das Verhalten), ändert an der rationalistischen Grundausrichtung dieser Anthropologie zumindest vorerst noch wenig. Dass die dennoch wachsende Erkenntnis nur eingeschränkt rationalen, sondern zumindest gleichgewichtig auch emotionalen Verhaltens der Menschen als eine Art Revolution oder gar ,Kopernikanische Wende‘ gefeiert wird und sogar nobelpreisträchtig erscheint, unterstreicht aus der Außenwahrnehmung vielmehr eher noch das Elend einer derartig reduktionistischen, selbstreferentiellen Anthropologie, die sich zudem zu Unrecht auf Adam Smith als den Begründer des modernen ökonomischen Denkens zurückführt (58). Auch ihre Grundlage, eine „Ökonomie, die mit quasi-naturwissenschaftlichem Exaktheitsanspruch auftritt, Irrationalität, Spontaneität, Kontingenz weitgehend außer Betracht lässt“, bleibt „als Wissenschaft vom wirklichen Menschen disqualifiziert“ (77, S. 451).

Von nochmals anderer Qualität ist die aktuell mächtig aufstrebende biologische Anthropologie. Sie unterstellt, dass bereits das menschliche Erkennen und Denken, aber auch Ethik und Moral, kurz das gesamte Spektrum menschlicher Lebensorientierung und -äußerung biologisch determiniert, auf die biologischen Prinzipien der Lebenserhaltung und Lebensförderung ausgerichtet und unter diesen Gesichtspunkten nicht nur zu verstehen, sondern gegebenenfalls auch zu optimieren seien. Welche Sprengkraft in diesen ohne großen Aufwand als eng mit Rassismus und Sozialdarwinismus verwandt ausweisbaren Annahmen steckt, macht die derzeit aktuelle Debatte um neuronale Determiniertheit oder Freiheit des menschlichen Willens deutlich (5, S. 111– 124; 39).

Biologische Anthropologie

Nach den Neuro- und Psychobiologen Wolfgang Prinz, Gerhard Roth und Wolf Singer gibt es keinen freien Willen, weil alle Entscheidungen gehirnbiologisch beziehungsweise neuronal determiniert seien. „Das Gefühl, dass unser Wille oder wir selbst unsere Handlungen entscheidend steuern – dieses Gefühl ist in ihren Augen eine Illusion.“ Vielmehr habe „die Hirnforschung zweifelsfrei erwiesen, dass unser Gehirn schon vor jeder bewussten Entscheidung zu einer Handlung anfängt, diese Handlung zu initiieren“. Eine Freiheit der Entscheidung zu einem bestimmten Handeln oder Verhalten, also eine Wahl zwischen Handlungs- oder Verhaltensalternativen, bestehe also in Wirklichkeit nicht (5,S. 111). Durch die biologische Festlegung schrumpfen die Prozesse der Wahrnehmung der Entscheidungs- beziehungsweise besser Handlungssituation, der Abwägung von Alternativen, der Reflexion von Handlungsfolgen zu vernachlässigbaren Größen. Das heißt, dass die je spezifischen Umstände und Bedingungen von Entscheidungen und Handlungen mehr oder weniger unerheblich werden, beziehungsweise, aus der Perspektive eines entschiedenen sozialen Biologismus, sogar weniger erheblich werden sollen, weil als entscheidend das an den Prinzipien der Lebensförderung und Lebenserhaltung ausgerichtete, quasi instinktive Reagieren anzusehen sei. Kulturelle Gestaltungen der Wahrnehmung, Entscheidungsfindung und Handlungsgestaltung müssen aus dieser Perspektive deshalb grundsätzlich eher als dysfunktionale Überwucherungen eingeschätzt werden, die allerdings dank der biologischen Determiniertheit des Erkennens, Denkens und Verhaltens ohnehin letztlich unwichtig sind.

Willensfreiheit und biologische Determiniertheit

Obwohl mittlerweile herausgearbeitet worden ist, dass von der Existenz auch neuronaler Prozesse ausgegangen werden muss, die auf „Bedeutung“ reagieren und „Prozesse des Überlegens sind, die für Gründe und Argumente empfänglich sind“,hält offenkundig eine Mehrheit gegenwärtiger Theoretiker an diesen biologistischen Maximen fest (5,S. 111). Hinsichtlich des weiteren Problems, wie zum Beispiel menschlicher Altruismus biologisch erklärt werden kann, hat sich mittlerweile das Erklärungsmodell durchgesetzt, dass als Träger des Lebensbedürfnisses nicht mehr allein oder bevorzugt das menschliche Individuum anzusprechen ist, sondern dessen Ziel maßgeblich darin besteht, den Genpool, dem er angehört, in seiner Existenz und Reproduktion zu fördern. Die Förderung der eigenen Gene kann und muss auch durch die Förderung der Verwandtschaft und möglicherweise selbst durch Kooperation mit Nichtverwandten erfolgen; aus diesem Sachverhalt erklärt sich die empirisch nachweisbare Selbstlosigkeit gegenüber Verwandten und dem Nachwuchs, dessen Erklärung jedoch schon hier ohne im weitesten Sinne kulturelle Annahmen nicht auskommt (33).

Gegenüber diesen reduktionistischen Ansätzen auf der zugleich emotionalen oder affektiven bis ,irrationalen‘, spontanen und rationalen Natur des Menschen zu beharren beziehungsweise diese in ihrer ganzen Bandbreite wieder erschlossen und bewusst gemacht, damit die Fülle der Gefühle, Auffassungen, Vorstellungen, Praktiken und Formen menschlicher Lebensgestaltung neu vor Augen geführt und legitimiert zu haben, in dieser Hinsicht eine ständige Herausforderung, einen Stachel im Fleisch neuerlicher funktionalistischer und rationalistischer Verirrungen der Zeit zu bilden – das erscheint mithin zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich der Kulturgeschichte als Verdienst zurechenbar.

Grundfragen der Kulturgeschichte

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