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1. Zur Aktualität und Kontroversität der Kulturgeschichte
ОглавлениеZunächst ist die Frage nach der Aktualität und damit Relevanz der Kulturgeschichte für eine Darstellung im avisierten Rahmen zu stellen. Sie liegen – im Gegensatz etwa zur menschheitsgeschichtlich durchgehenden Problematik von Krieg und Frieden – ja keineswegs ohne weiteres auf der Hand. Im Hinblick darauf, wie häufig und wie nachdrücklich die Kulturgeschichte sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch in der universitären Wissenschaft thematisiert wird, ist die Sache dennoch klar.
Aktualität des Themas
Von allen Arten wissenschaftlicher Geschichtsbefassung, die sich spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ausgebildet haben, zieht heute unzweifelhaft die Kulturgeschichte größte Aufmerksamkeit auf sich. Die Zahl der im Titel oder Untertitel entsprechend ausgewiesenen Sachbücher und Fachpublikationen ist seit zumindest zwei Jahrzehnten deutlich im Steigen begriffen. Auch Werke, deren tatsächliche kulturhistorische Qualität bestreitbar ist, eignen sich dieses Etikett zunehmend an. Mehr und mehr Bibliographien unterschiedlichsten Zuschnitts haben die Kulturgeschichte in ihre Gliederung aufgenommen; spezielle historische Bibliographien nehmen an Zahl und Umfang zu (vgl. z. B. 52). Die Eingabe des Stichworts in elektronische Suchmaschinen allgemeiner oder wissenschaftlich-akademischer Zielsetzung zeitigt kaum mehr zu bewältigende Ergebnismassen. Kommt es im nicht natur-, informations-, technik- oder wirtschaftswissenschaftlichen Bereich überhaupt noch zur Einrichtung neuer Professuren, ist in zunehmendem Maße in dieser oder jener Form die Kulturgeschichte daran beteiligt. Seit einer Empfehlung des Wissenschaftsrats von 1992 wird an den meisten deutschen Universitäten mit unterschiedlicher Bezeichnung das Fach Kulturgeschichte eingeführt; selbst die Errichtung ganzer Fakultäten für Kulturwissenschaften, von denen ein hoher Anteil historisch orientiert ist, hat begonnen.
Auch an einschlägigen intentionalen Aussagen fehlt es nicht. „Jetzt“ werde „also ,Kulturgeschichte‘ als oberster Bezug und methodisches Gebot historischen Forschens“ betrachtet, vermerkte bereits 1997 freilich nicht unkritisch Gangolf Hübinger, ein Kulturhistoriker der Neuzeit (46, S. 136). „Kultur“ sei „das neue Zauberwort“ konstatierte in gleicher Weise erst unlängst Thomas Fuchs (38, S. 244). Feuilletons rufen zur Hinwendung zur Kulturgeschichte auf, weil diese weit bessere historische Orientierung und Aufklärung biete als andere Arten der wissenschaftlichen Geschichtsbefassung. Die Rede vom ,cultural turn‘ in den Historischen Wissenschaften ist bereits zur Selbstverständlichkeit geworden (65).
Kontroversität der Kulturgeschichte
Aktualität ist indessen nicht unbedingt mit der in dieser Reihe gefragten Kontroversität identisch. Ist die Kulturgeschichte, deren zeitgenössische Relevanz wie gerade angedeutet außer Frage steht, also auch hinreichend strittig, um hier aufgenommen und dargestellt zu werden? Dafür liegen ebenfalls überzeugende Belege vor. An erster Stelle ist bereits das Problem der Definition dieses Fachgebiets zu nennen. Trotz erheblicher Bemühungen ist es bisher nicht gelungen, eine inhaltlich vollständige und belastungsfähige, allseits anerkannte Begriffsbestimmung zu finden, die den Ansatz von anderen Ansätzen trennscharf abzugrenzen in der Lage wäre. Stattdessen werden explizit und implizit, wie in diesem Band noch ausführlich demonstriert werden wird, sehr unterschiedliche Auffassungen verwendet und debattiert. Dieser Tatbestand fällt sowohl bei den Kritikern der Kulturgeschichte ins Gewicht, die sie letztlich rundweg ablehnen, als auch bei denjenigen, die ihre entweder traditionelle, also historistische, an den Vorstellungen der Gründer der klassischen Geschichtswissenschaft orientierte, oder sozialwissenschaftlich beziehungsweise sozialgeschichtlich ausgerichtete Betrachtungsweise mehr oder weniger deutlich entsprechend anzureichern bereit sind.
Definition und Positionierung als Fach
Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die Positionierung der Kulturgeschichte im etablierten Disziplinen- und Fakultätsgefüge kaum geklärt und entsprechend umstritten. Nicht wenige Vertreter des Faches Geschichtswissenschaft neigen dazu, die Kulturgeschichte als historisches Teilfach, vergleichbar beispielsweise mit der Wirtschaftsgeschichte, zu betrachten und damit unter die eigene fachliche Kontrolle zu bringen. Andere Vorstellungen laufen darauf hinaus, Kulturgeschichte als eine Disziplin eigener Art und damit mittel- und langfristig als nur noch vom eigenen Nachwuchs bewältig-und damit professionell vertretbar anzusehen. Eine dritte Auffassung postuliert Offenheit und wechselweise Zugänglichkeit für alle wie auch immer definierten historischen Kulturwissenschaften, also je nach Forschungs- und Lehrprogramm wechselnde Besetzung. Diese Lösung würde allerdings endgültig den bisherigen, an der deutschen Universität etablierten Prinzipien fachlicher Standardisierung und Kontinuitätsbildung widersprechen; sie stößt demzufolge auch auf mehr oder weniger heftige Ablehnung.
Methodische und inhaltliche Kontroversen
Nicht nur die Definition und disziplinäre Verortung, sondern auch zahlreiche Problemauffassungen, Erkenntnisziele, Methoden und Ergebnisse der Kulturgeschichte bieten unablässig Anlass zu fortlaufender Auseinandersetzung. In Rezensionen und kritischen Fußnoten wird bereits die Relevanz bestimmter Fragstellungen bestritten; ein wirklich breites Interesse zum Beispiel an Körpergeschichte sei mitnichten vorhanden. Andere kulturhistorische Arbeiten verfallen wegen angeblicher oder tatsächlicher methodischer Schwächen – Benutzung nicht sachgemäßer Methoden, fehlerhafte Anwendung bewährter Methoden, Unklarheit in der Methode insgesamt und so weiter – der Verdammung. Aus fachhistorischer Sicht wird insbesondere die Verwendung zu weniger oder zu wenig aussagekräftiger oder gar hinsichtlich ihrer Repräsentativität und Beweisfähigkeit grundsätzlich problematischer Quellen kritisiert; so wird etwa moniert, dass zum Beispiel ein bestimmtes Gemälde viel weniger Aussagen zu kulturellen Verhältnissen einer bestimmten Zeit zulasse als Erkenntnisse zur unter Umständen sehr individuellen oder sogar isolierten Weltwahrnehmung und Weltbetrachtung seines Künstlers. Vertretern von Philologien fehlt des Öfteren zumindest literatur- oder sprachwissenschaftliche Stringenz, wenn nicht sogar Kompetenz.
Konstruktivität als Herausforderung
Kontrovers diskutiert werden außerdem bestimmte zwar nicht unbedingt im Rahmen der Kulturgeschichte selbst entwickelte, aber dort verdichtete und verschärfte Ansätze, Grundüberzeugungen oder Erkenntnisprämissen. Als Beispiel sei das Prinzip der Konstruktivität oder des Konstruktivismus genannt (12, S. 111–133). Nach dem amerikanischen Literaturhistoriker Hayden White, dessen Werk im Zusammenhang mit dem ,linguistic turn‘ näher zu diskutieren sein wird (siehe das Kapitel: Die Quellen der Kulturgeschichte –,linguistic turn‘), konstruieren die Historiker nicht nur ihre Texte und Aussagen, indem sie ausgewählte Quellen anhand ausgewählter Methoden analysieren und ihre auf diese Weise eruierten Befunde nach bestimmten literarischen Darstellungsprinzipien in entsprechende Historiographie umsetzen. Sie konstruieren vielmehr nichts weniger als die Geschichte oder Vergangenheit selbst, weil alle Texte festen literarisch-poetischen beziehungsweise narrativen Formkategorien folgen, das heißt sie ihre materiale Beweisführung tatsächlich sprachlich nach bestimmten Modellen vororganisieren, statt sie empirisch aus dem Quellenbezug abzuleiten (97, S. 89–102). Mehr noch, alle Wirklichkeitsbeschreibung sei textgebunden und folge deshalb faktisch deren, also den textlich-literarischen Konstitutionsprinzipien und eben nicht einem empirischen Wirklichkeitsbezug. Wenn es aber richtig ist, dass alle ,Wirklichkeit‘ textlich oder übergreifend kulturell ,konstruiert‘ ist, eine unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung existierende ,Realität‘ also letztlich nicht mehr vorhanden ist, gibt es auch keine ,objektive‘, verbindlich gültige ,Wahrheit‘ mehr. Wissenschaft degeneriert zu einem Geschäft des Austauschs je subjektiv konstruierter ,Wahrheiten‘, das heißt aber letztlich: Meinungen (78, S. 105). Kulturhistoriker, die aus dieser Not eine Tugend zu machen versuchen, sich also ohne gesteigerte Rücksicht auf die Quellenlage auf die Produktion von Geschichten verlegen, die dem Erklärungsbedürfnis ihrer Adressaten entgegenkommen, müssen sich auf die Fundamentalkritik gefasst machen, nicht mehr zwischen Faktizität und Fiktionalität zu unterscheiden (60, S. 671 –691).
Von der Konstruktion zur Dekonstruktion
Es versteht sich, dass diese auch von bestimmten Richtungen der Wissenschaftstheorie (Philosophischer Konstruktivismus) vertretene Perspektive nicht widerspruchslos hingenommen werden konnte und kann. Bereits der Versuch, spezifische historische Phänomene wie Klasse oder Geschlecht, Gemeinschaften wie die Nation oder Institutionen wie die Monarchie, aber auch individuelle Biographien als (lediglich) konstruiert darzustellen und damit ihrer angenommenen historischen Vorgegebenheit und Unveränderlichkeit zu berauben, kann auf Widerspruch stoßen. Noch größer wird der Widerstand, wenn nicht Konstruktion, sondern dezidiert Dekonstruktion im Vordergrund einer kulturhistorischen Studie oder eines bedeutenden Ansatzes der Kulturgeschichte steht (12, S. 142 –146). Eine Nation oder ein nationales Selbstbild, das sich als von Akteuren bewusst konstruiert erweist, kann eingefleischte Nationalhistoriker bereits unangenehm berühren. Erst recht empört müssen sie sein, wenn Nation und nationales Selbstverständnis bewusst dekonstruiert werden. Dekonstruierende und insofern destruierende oder delegitimierende Geschichtswissenschaft ist nicht nur mit dem bislang als konstitutiv angesehenen angeblichen oder tatsächlichen historisch-politischen Bildungsauftrag der Historie unvereinbar, sondern auch deshalb umstritten, weil sie sich gegebenenfalls gegen die Geschichtswissenschaft selbst wenden könnte (76).
Internationalität und Pluralität
Schließlich ist nicht zu übersehen, dass die Verbindung derartiger interner und externer Probleme und Debatten mit einer deutlich stärker als anderswo ausgeprägten Internationalität des fachlichen Diskurses einen einzigartigen Informations-, Selbstvergewisserungs- und Koordinations-, das heißt aber auch Debattenbedarf mit sich bringt. Die Internationalität schließt gleichzeitig eine extreme Diversität der individuellen, gruppen- und richtungsspezifischen, sogar nationalen Herangehens-, Arbeits-, und Darstellungsstile ein. Kulturgeschichte erweist sich mithin als eine der diskussions- und kontroversenträchtigsten Formen wissenschaftlicher Befassung mit Geschichte überhaupt.