Читать книгу Grundfragen der Kulturgeschichte - Silvia Serena Tschopp - Страница 17
b) Dimensionen des Begriffs ,Kultur‘
ОглавлениеVier Bedeutungsfelder
So vielfältig die semantischen Konnotationen auch sein mögen, die sich seit der Antike mit ,Kultur‘ verbinden, so offenkundig ist deren Verbindung mit vier Bedeutungsfeldern, die Wilhelm Perpeet mit den Begriffen ,ergologisch‘, ,moralisch‘, ,soziativ-juristisch‘ und ,geschichtlich‘ einzugrenzen versucht hat (176, S. 24). Umfasst ,ergologisch‘ all jene nicht nur materiellen Artefakte, die sich menschlicher Schaffenskraft verdanken und aus denen sich Kultur beziehungsweise Kulturen konstituieren, so verweist ,moralisch‘ auf jene Normensysteme und Werthaltungen, denen menschliche Individuen und Kollektive verpflichtet sind. ,Soziativ-juristisch‘ wiederum steht für den sich seit dem 18. Jahrhundert abzeichnenden gesellschaftlichen Charakter von Kultur: Diese kann nunmehr einerseits als Menschheit oder aber als durch spezifische Merkmale definierte gesellschaftliche Gruppe und andererseits als eine den Zusammenhalt menschlicher Gemeinschaft fördernde Form der sozialen Kommunikation konzeptualisiert werden. ,Historisch‘ schließlich bezeichnet den temporalen Aspekt von Kultur. Nicht nur die universalhistorisch gedachte ,menschliche Kultur‘, auch die unterschiedlichen, die Menschheit als Ganzes konstituierenden Kulturen sind auf Dauer angelegt und können als eigenständige Formationen nur wahrgenommen werden, wenn sie über einen längeren Zeitraum bestehen und die vielfältigen – religiösen, ökonomischen, politischen oder wissenschaftlichen – Praktiken der ihnen zugehörigen Individuen prägen. Zugleich jedoch ist menschliche Kultur, sind durch Menschen gebildete Kulturen geschichtlichem Wandel unterworfen. Die in ihnen wirksamen intellektuellen Paradigmen, moralischen Normen, politischen und sozialen Interaktionsmuster haben keine überzeitliche Geltung, sie sind vielmehr durch mehr oder weniger kontinuierliche Veränderungsprozesse gekennzeichnet, die in ihrer Gesamtheit die je eigene Geschichte einer kulturellen Gemeinschaft determinieren.
Kultur und Natur
Perpeets jüngst wieder aufgegriffene und modifizierte (53, S. 11ff.) Unterscheidung zwischen einem ,ergologischen‘, einem ,moralischen‘, einem ,soziativ-juristischen‘ und einem ,historischen‘ Bedeutungsaspekt des Worts ,Kultur‘ ist insofern hilfreich, als sie nicht nur ermöglicht, die zahlreichen und bisweilen heterogen anmutenden Begriffsbestimmungen von ,Kultur‘ in einem semantischen Ordnungsraster zu verorten und dadurch deren Praktikabilität zu erhöhen, sondern auch den Blick schärft für eine Reihe grundlegender Oppositionen, die sich mit dem neuzeitlichen Kulturbegriff verbinden: Wer den ergologischen Charakter von Kultur hervorhebt, wer Kultur als Prozess und Ergebnis menschlicher Tätigkeit definiert, verweist implizit auf die Natur als das Andere der Kultur (168). Natur stellt in dieser Perspektive etwas Gegebenes dar und damit einen eigengesetzlichen Bereich, der sich menschlichem Einfluss entzieht. Bereits in der Antike wird denn auch unterschieden zwischen der Natur als dem, was aus sich selbst heraus existiert und gedeiht, und der Kultur als dem, das sich der Existenz und dem Tun des Menschen verdankt. Anders als die Natur, die durch die Gesetzmäßigkeiten organischer Entwicklung charakterisiert ist, erscheint Kultur als Ausdruck menschlichen Wirkens auch in späteren Zeiten als etwas bewusst Hervorgebrachtes, als zielgerichtete Tätigkeit und nicht als Automatismus. Sie ist Ausdruck und Ergebnis menschlichen Willens und menschlichen Handelns, sie bedarf spezifischer Eingriffe, um zur Entfaltung zu gelangen. Die Natur wird demgegenüber als jener Kosmos definiert, der sich unabhängig von menschlicher Einwirkung immer neu hervorbringt.
Es gehört zu den Verdiensten der neueren Kulturwissenschaft, mit überzeugenden Argumenten dargelegt zu haben, dass die Beziehung zwischen Natur und Kultur sich komplexer gestaltet, als deren radikale Entgegensetzung vermuten ließe. Die wiederholt postulierte Eigengesetzlichkeit der Natur sollte nicht den Blick verstellen für die Tatsache, dass Natur einen „raumzeitlich-dynamischen Zusammenhang“ bildet, der von Menschen gestaltet und wahrgenommen wird (118, S. 119). Natur entzieht sich demnach nicht dem Zugriff des Menschen, sie wird vielmehr, worauf bereits die Wortbedeutung von ,colere‘ und der daraus abgeleiteten Substantive hinweist, durch den Menschen bearbeitet, manipuliert, kultiviert. Zugleich wirken natürliche Gegebenheiten wie Klima, Bodenbeschaffenheit oder geographische Lage, aber auch Naturereignisse wie Überschwemmungen, Vulkanausbrüche oder Erdbeben auf die Menschen ein und beeinflussen deren kulturelle Entwicklung. Schließlich und drittens wird Natur von Menschen wahrgenommen und ist demnach nur als vorgestellte und gedeutete beschreibbar. Folgerichtig ist gerade in jüngerer Zeit verstärkt die Forderung nach einer Kulturgeschichte der Natur erhoben worden und damit nach einer Betrachtungsweise, welche die je verschiedenen wissenschaftlichen und ästhetischen Konzeptionalisierungen von Natur, die vielfältigen Befürchtungen und Hoffnungen, die sich historisch mit ihr verbinden, ins Zentrum rückt (53, S. 98–122).
Dynamik und Statik
Dem Begriff ,Kultur‘ ist nicht nur die zu relativierende Opposition Natur versus Kultur inhärent, sondern auch der Antagonismus von Dynamik und Statik. Kultur kann einerseits als Prozess beschrieben werden, als teleologisch, organologisch oder zyklisch konzipierte Entwicklung, die sich am Menschen und durch ihn vollzieht, und sie kann andererseits als Ergebnis eben dieses Kultivierungsprozesses beschrieben werden. Als dynamisches Konzept bezeichnet sie jene vielfältigen Praktiken, die dazu dienen, den Kultivierungsgrad eines Individuums oder eines Kollektivs zu erhöhen; als statisches Konzept steht sie für die Gesamtheit all jener Kulturleistungen beziehungsweise kulturellen Kompetenzen, welche die jeweilige Kulturstufe eines Individuums oder eines Kollektivs kennzeichnen. Wenn Johann Christoph Adelung in seinem Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1774–86/21793–1801) „Cultur“ definiert als „Veredlung oder Verfeinerung der gesammten Geistes- und Leibeskräfte eines Menschen oder eines Volkes, so dass dieses Wort so wohl die Aufklärung, die Veredelung des Verstandes durch Befreyung von Vorurtheilen, als auch die Politur, die Veredlung und Verfeinerung der Sitten, unter sich begreift“ (111, Sp. 1354f.), hebt er den prozessualen Charakter von Kultur hervor. Wenn hingegen Jacob Burckhardt in seinem berühmtesten Werk Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) in den Blick nimmt, steht der Begriff ,Kultur‘ für die politischen, ökonomischen und ästhetischen Errungenschaften einer als modellhaft dargestellten Kulturepoche.
Individuum und Kollektiv
Die Geschichte des Begriffs ,Kultur‘ macht nicht nur dessen dynamische und statische Implikationen deutlich, sie verweist zugleich auf eine weitere Antithese, nämlich diejenige von Individuum und Kollektiv. In seiner ursprünglichen Bedeutung zielt der Begriff ,Kultur‘ dort, wo er auf den Menschen bezogen wird, zunächst auf einzelne Individuen, deren körperliche, seelische und geistige Beschaffenheit veredelt werden soll. Seit dem 18. Jahrhundert etabliert sich ,Kultur‘ als Kollektivbegriff, der nun nicht mehr nur individuelle Bildung bezeichnet, sondern menschliche Gemeinschaft mitsamt den sie verbindenden Merkmalen umfasst. Im Rahmen eines zunächst universalhistorisch gedachten Konzepts von Menschheit verkörpert Kultur in umfassendem Sinne den Kulturzustand menschlicher Gemeinschaft, jene Kulturtechniken, Normensysteme und Wissensbestände, welche Menschen im Lauf der Geschichte hervorgebracht haben. Die im deutschsprachigen Raum vor allem von Herder postulierte Pluralität der Kulturen relativiert die Vorstellung einer universalen menschlichen Kultur und lenkt den Blick auf die Vielfalt menschlicher Kulturen. Neu steht ,Kultur‘ nun für eine kulturell tendenziell homogene, nach außen abgegrenzte und damit zumindest partiell autonome Gruppe, die sich von anderen Gruppen unterscheidet.
Materielle und immaterielle Kultur
Ein viertes Gegensatzpaar, dem in unserem Zusammenhang Bedeutung zukommt, ist dasjenige von ,materieller‘ und ,immaterieller‘ Kultur. Gemeint ist die ebenfalls aus der historischen Semantik des Begriffs ableitbare Differenzierung zwischen einer materiellen und einer immateriellen Dimension von ,Kultur‘. Die Materialität von ,Kultur‘ wird dort evident, wo der Terminus die Bearbeitung des Bodens, die Herstellung von veredelten Nahrungsmitteln, von landwirtschaftlichen oder technischen Geräten, die Schaffung kultischer und ästhetischer Artefakte meint. ,Kultur‘ steht dann für all jene materiellen Objekte, die sich menschlicher Tätigkeit verdanken. Zugleich bezieht sich ,Kultur‘ auf immaterielle Erzeugnisse, auf religiöse Überzeugungen, moralische Prinzipien, Konzepte politischen und ökonomischen Handelns, wissenschaftliche Paradigmen, philosophische Einsichten oder ästhetische Postulate. Der Begriff umfasst also die vielfältigen Möglichkeiten von Individuen und Kollektiven, sich selbst und der sie umgebenden Welt Bedeutung zuzuschreiben, sowie ihr Denken und Handeln als sinnvoll zu definieren.
Typologisierung von Kulturbegriffen
Die bisherigen Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, worin die Schwierigkeit liegt, den Begriff ,Kultur‘ schärfer zu fassen. Einer überzeitlich gültigen Definition entzieht er sich durch die permanenten Bedeutungsverschiebungen, die der Blick auf die historische Semantik von ,Kultur‘ offen gelegt hat; die Reduktion auf eine prägnante Formel wiederum wird erschwert durch die Vielfalt unterschiedlicher Deutungen, die er ermöglicht. ,Kultur‘ erscheint als kontingentes Phänomen, das gleichermaßen materielle und immaterielle Erscheinungen umfasst, das als Kollektivsingular und als Pluraletantum begegnet, das sowohl Individuen als auch Kollektiven eigen ist und das gleichzeitig durch Prozessualität und Statik gekennzeichnet ist. Es ist so gesehen wenig überraschend, dass noch in jüngster Zeit Versuche unternommen wurden, die geschichtlich bedingte Unschärfe des Terminus‘ ,Kultur‘ durch eine systematische Differenzierung zwischen verschiedenen Kulturbegriffen, die für das moderne Verständnis von Kultur leitend waren und sind, zu reduzieren. So hat kürzlich beispielsweise Andreas Reckwitz typologisch unterschieden zwischen einem normativen, einem totalitätsorientierten, einem differenzierungstheoretischen und einem bedeutungsorientierten Kulturbegriff (182, S. 64–90; 183, S. 4– 8; vgl. auch 151, S. 526–534). „Normativ“ meint hier einen im Kontext der Aufklärung ausgebildeten Begriff von Kultur, der Letztere als eine durch Modellhaftigkeit ausgezeichnete Lebensweise konzipiert, die jeder Mensch beziehungsweise jede menschliche Gemeinschaft erstreben sollte. Das aufgeklärt-bürgerliche Postulat eines universalen Maßstabs dessen, was für sich beanspruchen darf, ,Kultur‘ zu sein, impliziert ein System von Normen, deren Erfüllung kultiviertes Verhalten indiziert, während deren Nichterfüllung auf defizitäre Formen von Kultur, etwa ,Zivilisation‘, oder Unkultur schließen lässt. Anders der totalitätsorientierte Kulturbegriff, der Kultur historisiert beziehungsweise kontextualisiert und damit entuniversalisiert. Kultur heißt dann nicht mehr eine prinzipiell im Singular auftretende Bezeichnung für eine besonders hochwertige Form menschlicher Existenz, sondern steht, durchaus im Sinne Herders, für die spezifischen Denk- und Handlungsmodi einzelner Kollektive in der Geschichte und begegnet folgerichtig im Plural. Wie Reckwitz hervorhebt, ist es dieses totalitätsorientierte Konzept von Kultur, das für die Genese der anglo-amerikanischen Kulturanthropologie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konstitutive Bedeutung erlangte. Edward B. Tylors berühmte Definition „Culture or Civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society“ (200, S. 1) verweist denn auch auf jene Vorstellung von Kulturen als zur Homogenität tendierende, nach außen abgegrenzte gesellschaftliche Entitäten, welche für die ethnologische Forschung lange prägend war. Fasst der totalitätsorientierte Begriff Kultur beziehungsweise Kulturen als in sich mehr oder weniger geschlossene Lebensform(en), so begreift der differenzierungstheoretische Kulturbegriff Kultur als einen Teilbereich menschlicher Praxis, konkret die sich in Kunst und Wissenschaft manifestierenden geistigen Tätigkeiten von Menschen. Kultur in diesem Sinne bezieht sich auf hochkulturelle Phänomene, die scharf von popular- und massenkulturellen Erscheinungen geschieden werden. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert sozial konnotiert – Kultur gilt dann als Merkmal primär der bildungsbürgerlichen Schichten – wird ein differenzierungstheoretisch gedachter Kulturbegriff in der Soziologie Talcott Parsons funktionalistisch umgedeutet: Kunst und Wissenschaft erscheinen nicht mehr als Privileg einer sozialen Gruppe, sondern als eines jener vier Teilsysteme, denen moderne Gesellschaften ihre Funktionsfähigkeit verdanken (174, S. 326– 367; 175). Im Zentrum der aktuellen Debatte stehen nun allerdings weniger die vorgängig skizzierten Konzepte als vielmehr ein bedeutungsorientierter Kulturbegriff, der kulturelles Handeln als „symbolische Organisation der Wirklichkeit“ bestimmt (183, S. 7). Menschliche Erfahrung, so das Postulat, ist notwendigerweise gebunden an Akte der Sinnbildung, menschliche Wahrnehmung ist losgelöst von Bedeutungsstiftung nicht zu denken. Nach dieser Auffassung bildet Kultur ein Ensemble von Praktiken der Welt- beziehungsweise Wirklichkeitsdeutung oder, in anderen Worten, ein vernetztes System symbolischer Codes, die das Denken und Handeln von Individuen oder Kollektiven steuern.