Читать книгу Grundfragen der Kulturgeschichte - Silvia Serena Tschopp - Страница 16
a) Historische Semantik des Begriffs ,Kultur‘
ОглавлениеAntike
Die wortgeschichtlichen Wurzeln des in der Moderne zum Leitbegriff avancierten Terminus ,Kultur‘ reichen in die römische Antike zurück (117; 137). Grundlegende Bedeutung kommt dabei dem lateinischen Verb ,colere‘ und den daraus abgeleiteten Substantiven ,cultus‘ und ,cultura‘ zu. Das Wort ,colere‘ bezeichnet zum einen den Vorgang des ,Pflegens‘ beziehungsweise des ,Bebauens‘ und bedeutet zum anderen ,bewohnen‘ beziehungsweise ,ansässig sein‘. Es ist die erste Hauptbedeutung des Verbs ,colere‘, auf die sich der moderne Begriff der Kultur bezieht. Dabei ist von Belang, dass ,colere‘ im Sinne von ,pflegen‘ und ,bebauen‘ bereits früh eine semantische Erweiterung erfuhr. Das Verb beziehungsweise die aus dessen Partizip Perfekt abgeleiteten Begriffe ,cultus‘ und ,cultura‘ bezeichnen zwar weiterhin den Ackerbau und die Sorge um die Haustiere, stehen jedoch darüber hinaus auch für die Pflege des Menschen im Sinne physischer und geistiger Erziehung, für die Pflege von Wissenschaften und Künsten, aber auch von Tugenden und Lastern und schließlich für die Pflege und Verehrung von Gottheiten. So fordert der römische Schriftsteller Cicero in seinen Tusculanae disputationes [dt. Gespräche in Tusculum] eine „cultura […] animi“ (124, II 13), das heißt die Pflege der Seele und aller ihr innewohnender Kräfte, und bietet damit den berühmtesten Beleg für den bereits in der Antike erfolgten metaphorischen Gebrauch des Begriffs ,cultura‘.
Neuzeit
Es sind die hier genannten übertragenen Bedeutungen des Begriffs ,cultus‘ beziehungsweise ,cultura‘, die in der Neuzeit, seit dem 16. Jahrhundert, in die europäischen Sprachen Eingang fanden. Während das in der Antike häufigere Wort ,cultus‘ immer mehr zurückgedrängt wurde und nun in erster Linie für religiöse, eben kultische, Handlungen Verwendung fand, gewann der Begriff ,cultura‘, der im Sinne von ,cultura animi‘ vor allem eine geistig-intellektuelle und seelische Kultivierung und damit die Pflege von Anlagen und Tugenden an sich oder an einem anderen Menschen bezeichnet, stetig an Bedeutung und begegnet in der Folge in den Werken so berühmter Autoren wie Michel de Montaigne oder Francis Bacon (137, S. 700f.). In Deutschland ist es zunächst der Jurist Samuel Pufendorf, der den Begriff im Anschluss an Francis Bacon aufgreift und im Zusammenhang seiner Naturrechtslehre neu umreißt. Im Spannungsfeld von Naturzustand (status naturalis) und Kulturzustand (status civilis) kommt dem Menschen die Aufgabe zu, den Naturzustand durch einen sich selbst auferlegten Kultivierungsprozess zu überwinden. ,Cultura animi‘ beinhaltet dann jene umfassende Pflege der Anlagen, Fertigkeiten und Tugenden, die ein Individuum im naturrechtlichen Verständnis ,gesellschaftsfähig‘ machen, indem sie ihm eine Seinsform ermöglichen, die es über den Naturzustand erhebt (137, S. 702ff.).
Kulturbegriff in Deutschland
War Pufendorfs umfassender und erstmals politisch konnotierter Kulturbegriff noch kaum auf Resonanz gestoßen, entwickelt die Diskussion um den Begriff ,Kultur‘ seit der Mitte des 18. Jahrhunderts insbesondere in Deutschland eine bemerkenswerte Dynamik. Anders als in Frankreich und England, wo sich im Zuge einer aufgeklärten Kulturdebatte der Begriff ,civilisation‘ beziehungsweise ,civilization‘ durchzusetzen beginnt, ist es im deutschsprachigen Raum der Terminus ,Kultur‘, der einer zunehmend differenzierten Reflexion unterzogen wird (143).
Johann Gottfried Herder
Kaum zu überschätzen ist dabei Johann Gottfried Herders Beitrag zur Herausbildung des modernen Kulturbegriffs. Herder verdanken wir nicht nur die programmatische Ausweitung des Begriffs, der nun nicht mehr nur auf Individuen, sondern auch auf Kollektive bezogen wird, sondern auch die Einsicht in den fundamental historischen Charakter von Kultur: In der Antike und noch im 16. und 17. Jahrhundert richtet sich der Begriff ,Kultur‘ im Sinne von ,cultura animi‘ in erster Linie auf den einzelnen Menschen und dessen Kultivierung, verstanden als Ausbildung seiner leiblichen, seelischen und geistigen Fähigkeiten. Herder geht nun einen entscheidenden Schritt weiter, indem er Kultur nicht mehr in erster Linie als das versteht, was sich durch Menschen am Menschen vollzieht, sondern als Begriff für das, was die Eigenart und den Zusammenhalt menschlicher Kollektive ausmacht. Im Zuge seiner geschichtsphilosophisch fundierten Neubestimmung von Kultur, definiert er Kultur als eine menschliche Errungenschaft, die sich in unterschiedlichen Völkern je verschieden manifestiert. Damit ist nicht nur der Kollektivbegriff ,Kultur‘ gewonnen, sondern zugleich die Vorstellung einer Pluralität von Kulturen, die sich untereinander durch eine Reihe von Merkmalen unterscheiden. Konstitutiv für Herders Kulturbegriff ist allerdings nicht nur dessen Wendung ins Kollektive, sondern auch dessen Wendung ins Historische. Insbesondere in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) und den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784– 1791) stellt Herder den grundsätzlich historischen Charakter von Kulturen beziehungsweise Kultur heraus. Demnach sind einzelne Völker oder Kulturen, aber auch die menschliche Kultur als Ganzes spezifischen Gesetzmäßigkeiten historischen Wandels unterworfen: Kulturen im Sinne von Völkern folgen dem Prinzip einer Kulturentwicklung, die Herder in Anschluss an Giambattista Vicos Principj di scienza nuova d'intorno alla comune natura delle nazioni (1725/ 3 1744) (201; 202) als ein in Analogie zu den menschlichen Lebensaltern gedachtes organologisches Modell von Entfaltung, Blüte und Verfall entwickelt (siehe Kapitel II. 3.). Anders die Kultur im Sinne von Menschheit, der Herder einen universalhistorischen Bildungssinn unterstellt, als dessen Telos er die vollkommene Verwirklichung menschlicher Humanität bestimmt (119; 148).
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgen also im deutschsprachigen Raum die entscheidenden Weichenstellungen für das seit dem 19. Jahrhundert dominierende Verständnis von Kultur: Kultur bezeichnet nun gleichermaßen den Erziehungsprozess von Individuen, eine kollektive Entität in ihrer je spezifischen kulturellen Ausprägung und die Menschheit als Ganzes mitsamt deren universalhistorischer Dynamik. Zugleich steht Kultur nicht mehr nur für den Landbau, die Wissenschaften sowie moralische Prinzipien, sondern umfasst potentiell all das, was der Mensch hervorgebracht hat. Nicht weniger bedeutsam ist außerdem, dass sich der Fokus vom Prozess der Kultivierung zu den Ergebnissen kultureller Tätigkeit verschiebt. In den Blick rücken vermehrt kulturelle Artefakte als Ergebnis menschlicher Kulturpraxis beziehungsweise kultivierte Individuen und Kollektive. Schließlich und viertens wird ,Kultur‘ neu als geschichtliche Kategorie aufgefasst und damit zugleich das Fundament für jene kulturhistorische Betrachtungsweise gelegt, die im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewinnen sollte. Es ist so gesehen kein Zufall, dass ,Kulturgeschichte‘ zu den frühesten nachgewiesenen Komposita von Kultur zählt. Bereits 1782 erscheint Johann Christoph Adelungs Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts. 1788 (21800) folgt Dietrich Herrmann Hegewischs Allgemeine Uebersicht der deutschen Kulturgeschichte bis zu Maximilian dem Ersten und seit der Mitte des 19. Jahrhunderts häufen sich Publikationen zu Problemen der ,Kulturgeschichte‘ oder ,Kulturwissenschaft‘ (155, S. 47f.).
,Civilisation‘/,Civilization‘
Auch im französischen und angelsächsischen Sprachraum findet der Begriff ,culture‘ weiterhin Verwendung, als Leitkategorie setzt sich jedoch der Parallelbegriff ,civilisation‘ beziehungsweise ,civilization‘ durch, der ein ähnliches Bedeutungsspektrum abdeckt, wie der im deutschsprachigen Raum favorisierte Begriff ,Kultur‘. Zwar erfährt er in England eine politische Aufladung (137, S. 721f.) und gewinnt in Frankreich bereits früh nationale Konnotationen (137, S. 719 und 755), von einer systematischen Opposition zwischen ,Kultur‘ einerseits und ,Zivilisation‘ andererseits kann jedoch angesichts des inkonsequenten und grenzüberschreitenden Gebrauchs beider Termini noch bis ins frühe 20. Jahrhundert keine Rede sein.
,Kultur‘ versus ,Zivilisation‘
Dies ändert sich erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der eine signifikante Politisierung und Nationalisierung sowohl des Begriffs ,Kultur‘ als auch des Begriffs ,Zivilisation‘ bewirkte und vor allem in Deutschland zu einer – allerdings kurzfristigen – antithetischen Gegenüberstellung der beiden Konzepte führte (178). Oswald Spengler beschreibt in seinem berühmtesten Werk Der Untergang des Abendlandes (1918/1922) die tote, auf Äußerlichkeit bedachte, mechanische Zivilisation als letzte, aus dem Absterben der Kultur hervorgegangene Phase menschlicher Existenz und kontrastiert sie mit der lebendigen, auf Innerlichkeit zielenden, organischen Kultur. Unter seinem Einfluss wird der Antagonismus Kultur/Zivilisation noch einmal kontrovers diskutiert (137, S. 761ff.), um dann recht bald für obsolet erklärt zu werden. So wendet sich Thomas Mann, der 1914 Zivilisation und Kultur noch als Gegensätze definiert und in diesem Zusammenhang betont hatte: „Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, […] Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, – Geist“ (164, S. 1471), 1931 scharf gegen den „ins nationalistische Feuilleton heruntergekommenen Gegensatz“ von Zivilisation und Kultur (165, S. 327). Norbert Elias‘ Überlegungen zur Soziogenese von ,Zivilisation‘ und ,Kultur‘ in seinem Hauptwerk Über den Prozeß der Zivilisation (1936) (134), die den Antagonismus von Zivilisation und Kultur historisch zu begründen versuchen, erweisen sich unter dieser Prämisse als durchaus problematisch, projizieren sie doch einen erst im frühen 20. Jahrhundert auf breiterer Basis virulent gewordenen Gegensatz in frühere Epochen (134, Bd. I, S. 89–153). Die These, ,Kultur‘ habe sich bereits seit dem 17. Jahrhundert als Gegenbegriff zu ,Zivilisation‘ herausgebildet, indem in Deutschland einem engeren, den geistigen, künstlerischen, religiösen und moralischen Bereich menschlicher Erfahrung bezeichnenden Begriff der Kultur der Vorzug gegeben worden sei gegenüber einem weiteren, Wissenschaft, Weltanschauung, menschliches Verhalten, Technik und Ökonomie gleichermaßen umfassenden Begriff der Zivilisation, hält einer begriffsgeschichtlichen Analyse nicht stand. Wie Jörg Fisch hervorhebt, trifft weder Elias‘ Unterscheidung zwischen ,Zivilisation‘ als Terminus, der einen Prozess oder mindestens das Resultat eines Prozesses bezeichnet, und ,Kultur‘ als einem sich auf Produkte des Menschen beziehenden Begriff zu, noch Elias‘ Postulat, der Zivilisationsbegriff betone das Übernationale, während dem Kulturbegriff eine primär nationale Dimension eigne (137, S. 722). Der Blick auf die vielfältigen, durchaus heterogenen historischen Verwendungsweisen von ,Zivilisation‘ und ,Kultur‘ macht vielmehr deutlich, in welchem Maße sich die beiden Begriffe schon immer berührten und durchdrangen. Die sich insbesondere seit 1945 abzeichnende Konvergenzbewegung und schließlich der Geltungsgewinn des Begriffs ,Kultur‘ im französischen und angelsächsischen Sprachraum dürften denn auch nicht zuletzt der Tatsache geschuldet sein, dass es ungeachtet aller Abgrenzungsbemühungen einzelner Autoren nicht gelungen ist, ,Zivilisation‘ und ,Kultur‘ trennscharf voneinander zu scheiden. Dass der Antithese von Zivilisation und Kultur in der aktuellen Diskussion keine Bedeutung mehr zukommt, ergibt sich als logische Konsequenz aus diesem Befund.