Читать книгу Projekt Oblivion - Geister am Polarkreis - Simak Büchel - Страница 7
Оглавление1. Kapitel
Gut getarnt saß Jorin Flugbrand in einer Astgabel der uralten Ulme und ließ seine gletscherwasserblauen Augen über die Schrebergartensiedlung Zum kleinen Glück schweifen. Er gähnte, dass seine Kiefer knackten. Nein, so hatte er sich das Agentenleben wirklich nicht vorgestellt. Von wegen James Bond! Wer hätte ahnen können, dass A.KI.A.-Agent Samuel Smuts ein solcher Spießer war? Nicht, dass man ihn falsch verstand, Jorin war heilfroh, dass Smuts sich bereit erklärt hatte, ihn bei sich aufzunehmen, nachdem die Mimesis-Schule in die Luft gesprengt worden war. Aber irgendwie hatte Jorins Leben nach dem Abenteuer auf der Eidechseninsel eine Wendung genommen, die ihn allmählich verzweifeln ließ.
„He, Sam, wann kann ich denn endlich mit dem richtig coolen Zeug anfangen?“, hatte Jorin erst an diesem Morgen beim Frühstück nachgebohrt.
„Dem – was?“ Samuel verschluckte sich an seinem Croissant.
„Du weißt schon, dem echten Agentenkram: geheime Kampftechniken, Mandarin und der Umgang mit seltenen Giften! Dieses Zeug eben!“ Jorin war sich mit beiden Händen durch seine brandneue Frisur gefahren und hatte das strubbelige Deckhaar noch etwas wilder verwuschelt. An den Seiten und im Nacken waren die Haare nun raspelkurz und erinnerten nicht mehr im Entferntesten an einen mittelalterlichen Knappen. Vielmehr verlieh der Schnitt seinem pausbackigen Gesicht mit den strahlend blauen Augen etwas Verwegenes, das Jorin selbst ausnehmend gut an sich gefiel.
„Geduld, mein junger Freund, Geduld. Du hast dich bisher zwar ganz prächtig geschlagen, trotzdem hat man dir erst die niedrigste A.KI.A.-Sicherheitsfreigabe erteilt. Trainiere weiter deinen Blick, lerne genau hinzuschauen und Täuschung von Wahrheit zu unterscheiden. Du sollst die Füße bis auf Weiteres stillhalten, Jo, Anordnung von oben, von ganz oben.“ Damit hatte Smuts den Chef der Anti-KI-Allianz gemeint, jener streng geheimen Untergrundorganisation, der Jorin nun angehörte. „Vertrau mir, deine Zeit mit dem richtig coolen Zeug wird kommen, vielleicht früher, als dir lieb ist.“ Smuts hatte sich Marmelade vom Finger geleckt und war vom Frühstückstisch aufgestanden, ohne Jorin eines weiteren Blickes zu würdigen.
„Oh Mann, das Warten ist so was von ätzend!“, maulte Jorin.
„Du hättest ja mit Konrad und Nele ins Zeltlager fahren können“, sagte Smuts. „Das Angebot stand immerhin.“
„Pff, die ...“ Jorin hatte abgewunken. „Die turteln von morgens bis abends, was soll ich denn da? Nee, Smuts, echt nicht ... Vielen Dank!“ Sogar seine besten Freunde hatten ihn in jener faultierhaften Langeweile zurückgelassen, die vor sich hin gärte wie Brennnesseljauche. Jorin war es leid.
Dabei war Borax Dosch, der Mörder seiner Eltern, immer noch auf freiem Fuß. Allein bei dem Gedanken an den milliardenschweren Gründer von Projekt Mimesis verkrampfte sich etwas in Jorins Brust. Dieses verdammte Monster! Dosch hatte damals sogar angedeutet, dass Jorin selbst das Ergebnis einer Genmanipulation und seine Augen mit fremden Genen perfektioniert worden waren. So ein Schwachsinn! Borax Dosch hatte es einfach nicht verkraftet, von ein paar Kindern besiegt worden zu sein! So sah es aus. Hoch oben im Baum grollte Jorin vor sich hin.
Aus der Brusttasche seines Hemdes zog er ein knittriges, angesengtes Foto hervor, verpackt in eine Klarsichtfolie, auf dem seine Eltern, Cord und Edda, in einem Pulk von Labormitarbeitern standen. Doch bereits auf diesem Foto tauchte als Vorbote des Todes, zwei Reihen hinter seinen Eltern, der Glatzkopf von Camaphos auf, einem der gefährlichsten Handlanger von Borax Dosch.
Um das Aufwallen seiner Gefühle zu stoppen, sah Jorin vom Foto hoch und starrte in die Ferne. Von Dosch und seiner Organisation fehlte noch immer jede Spur. Selbst die Anti-KI-Allianz tappte völlig im Dunkeln. Dabei konnte es doch nicht so schwer sein, einen selbstverliebten Großkotz mit Hollywoodgebiss ausfindig zu machen! An irgendeinem Schickimicki-Strand musste sich Dosch schließlich unter Palmen lümmeln oder mit seiner Yacht anlegen. Und Camaphos, der im Gefängnis schmorte, schwieg beharrlich, vermutlich aus Angst vor seinem ehemaligen Boss. Nichts war aus dem Mimesis-Cheftechniker herauszubekommen. Nicht der zarteste Hinweis auf Doschs Geheimversteck, geschweige denn auf dessen Pläne. Jorin spürte, wie das dumpfe Grollen in seiner Brust weiter anschwoll. Mit zittrigen Fingern steckte er das Foto zurück in seine Brusttasche.
Hätte er die Zwischenzeit wenigstens für eine anständige Agentenausbildung nutzen dürfen! Doch nein, von Training keine Spur. „Null, nichts, nada.“ Alles, was neben der Schule auf dem Plan gestanden hatte, war groß und fett geschriebene Langeweile. Ätzende Langeweile.
„Hier passiert aber auch echt gar nichts“, stöhnte er und gähnte erneut. Anfang der Sommerferien waren Konrad und Nele zu einem Zeltlager auf eine friesische Insel gefahren. Von dort hatten sie Jorin eine Postkarte geschickt, mit Möwen, Sandstrand und einem Leuchtturm vorne drauf. Vielleicht hätte er doch besser mitfahren sollen?
Träge verlagerte Jorin sein Gewicht in der Astgabel, um die selbst geschnitzte Steinschleuder aus dem Hosenbund zu zerren. Sein Blick glitt über die Glasfassaden der Hochhaustürme, die ihre violetten Nachmittagsschatten bis zur Schrebergartensiedlung ausstreckten, über die Gemüse- und Blumenbeete, zwischen denen alte Leute herumdackelten, und landete schließlich bei seinem Mentor2, Samuel Smuts. Oder besser gesagt, seinem Nicht-Mentor, denn gelernt hatte er von Samuel tatsächlich ...
„Nüscht.“ Jorin verengte seine Augen zu Schlitzen und hielt nach einem Ziel Ausschau.
Wenn wenigstens Fenja da wäre. Das iKID mit den schwedenblonden Haaren und den Sommersprossen auf den Wangen hatte es ihm angetan. Dabei war es schon Monate her, dass er das Roboter-Mädchen getroffen hatte. Offenbar verfolgte die A.KI.A. andere Pläne mit ihr. Jorin versuchte, die Erinnerung an Fenjas schmales, fein geschnittenes Gesicht und ihre herrlich grauen Augen beiseite zu wischen, um sich auf ein Ziel für seine Schleuder zu konzentrieren. Er atmete tief durch, spürte, wie sich der Knoten in seiner Brust zu lösen begann.
Smuts kniete zwischen Tomatenpflanzen, kehrte Jorin den Rücken zu und zog sich gerade die rutschende Hose über dem Gesäß hoch.
„Hm, nee“, entschied Jorin und ließ seinen Blick über die angrenzenden Schrebergartenparzellen wandern, wo Herrschaften in Feinrippunterhemden vor ihrem Grill saßen und den Hochsommer genossen. Jorin seufzte. Obwohl er das Idyll unerträglich fand, erschien die Zeit bei Smuts immer noch besser, als all die Jahre, die er zuvor in einer Pflegefamilie verbracht hatte, ganz zu schweigen von seinem Nachtlager auf dem Alten Friedhof.
Entschlossen griff Jorin in seine Hosentasche, friemelte einen haselnussgroßen Kiesel hervor und spannte seine Schleuder. Das linke Auge zugekniffen, die Zungenspitze zwischen den Schneidezähnen vorgeschoben, zielte er, hielt den Atem an und ließ schließlich die Zwille flitschen. Der Kiesel raste über drei, vier penibel gestutzte Hecken hinweg, um dahinter einen Plastik-Gartenzwerg von seinem Sockel zu fegen.
„Yes, Volltreffer.“ Jorin grinste, klappte sein rostiges Taschenmesser auf und schnitt eine Kerbe in den Griff seiner Schleuder. Es war die achtundzwanzigste.