Читать книгу Schienengüterverkehr in der Schweiz - Simon Lieb - Страница 14

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9 Weiterentwicklung des Schienengüterverkehrs in der Fläche

Nachdem bekannt ist, im Hinblick auf welche Ziele der SGV in der Fläche weiterentwickelt werden soll, geht es nun in diesem Kapitel um die Weiterentwicklungsmöglichkeiten, die von den Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) umgesetzt werden können. Dies betrifft vor allem die SBB Cargo, da sie als grösster Anbieter alle Bereiche vom EWLV über die Ganzzugsverkehre bis zum KV abdeckt. Aus dem Ziel eines nachhaltigen Umgangs mit der Umwelt lässt sich für die EVUs folgende Zielsetzung ableiten:

Das Schienengüterverkehrssystem in der Fläche soll so weiterentwickelt und verbessert werden, dass möglichst viele Gütertransporte von der Strasse auf die Schiene verlagert werden.

Verlagerung wird grundsätzlich durch attraktivere Angebote erreicht, um gegenüber der Strasse konkurrenzfähiger zu werden. Dabei geht es um Faktoren wie Qualität (z. B. höhere Zuverlässigkeit), Preis, Serviceprofil, Flexibilität oder Zugang zur Schiene. Letztlich geht es darum, Hemmnisse abzubauen, die Kunden an der Verlagerung auf die Schiene hindern. Weiter ist es für einen langfristig erfolgreichen SGV notwendig, die im Kapitel 4.3 beschriebenen Probleme zu lösen und auf Herausforderungen wie den Wandel des Güterverkehrsmarkts zu reagieren. Dabei geht es insbesondere darum, Kosten zu senken und mehr Volumen auf die Schiene zu bringen.

Auch wenn der SGV viel effizienter als der Strassengüterverkehr ist, verursacht auch er negative Auswirkungen auf Mensch und Umwelt, wie etwa Lärmemissionen. Deshalb besteht ein weiteres Ziel darin, diese weiter zu reduzieren.

Attraktivere Angebote, geringere Probleme und weniger negative Auswirkungen erreicht man durch Innovationen. Doch was genau sind Innovationen? Es gibt verschiedene Definitionen, in dieser Arbeit wird folgende verwendet: «Innovation wird […] als Sammelbegriff für alles Neue und Verbesserte verwendet. Dabei kann das Spektrum […] von marginalen Detailänderung bis hin zu grundlegenden Neuerungen reichen.»85 Das heisst, bei Innovationen geht es nicht nur um komplette Veränderungen, sondern auch um kleinere Optimierungen. Dieses Kapitel behandelt also alles, was im SGV in der Fläche oder mit Auswirkungen auf diesen verbessert werden kann. Dabei erhebt dieses Kapitel nicht den Anspruch, genau zu sagen, was von den EVUs gemacht werden muss. Es geht nur darum, verschiedene Möglichkeiten aufzuzeigen, die zur Verbesserung in Frage kommen.

Die Innovationen sind in diesem Kapitel in verschiedene Bereiche unterteilt. Doch da sich Innovationen in einem Bereich auch auf die anderen auswirkt, kann eigentlich keine klare Abgrenzung gemacht werden. Zuerst geht es um Innovationen im Rollmaterial, dann um Verbesserungen der Produktionsformen wie dem EWLV und allgemein der SBB Cargo. Zum Schluss folgt ein kurzer Exkurs in den Strassengüterverkehr.

9.1 Innovationen im Bereich der Güterwagen86

«Der SGV wird heute immer noch wie vor hundert Jahren produziert», meint Peter Füglistaler. Der Fakt, dass heute immer noch die im 19. Jahrhundert entwickelte manuelle Schraubenkupplung eingesetzt wird, zeigt, dass die Güterwagen – im Gegensatz zum Personenverkehr – auf veralteten Technologien basieren. Als Folge sind die Rangiervorgänge sehr aufwändig, insbesondere im EWLV auf der letzten Meile, verbunden mit hohen Kosten und Zeitverlusten. Die geringe Produktivität ist mit ein Grund für die finanziellen Probleme und den Mengenrückgang bei der SBB Cargo. Doch es würden viele Innovationen bestehen, die nicht erst entwickelt, sondern nur noch umgesetzt werden müssten. Beim Güterwagen wird von den meisten Experten das grösste Innovationspotenzial verortet. Es besteht ein grosser Nachholbedarf an technischen Neuerungen. Nicolas Perrin meint: «Alles nachzuholen, was man in den letzten 50 Jahren nicht gemacht hat, ist zwar keine grosse Innovation, aber grosse Arbeit.» Doch während der SGV sehr lange wenig innovativ war, habe sich in den letzten Jahren etwas geändert, meint Fabio Gassmann.

Im Folgenden werden nun die wichtigsten Innovationen im Bereich der Güterwagen beschrieben, deren Nutzen aufgezeigt und danach deren Verlagerungspotenzial abgeschätzt. In der Abbildung 22 sind die einzelnen Komponenten eines Eisenbahngüterwagens beschriftet.


Abbildung 22: Aufbau eines konventionellen Eisenbahngüterwagens (hier ein Kesselwagen)87

9.1.1 Stromversorgung und Intrazugkommunikation

Für den Einsatz vieler Innovationen benötigen die Güterwagen als Grundvoraussetzung eine Stromversorgung und eine Intrazugkommunikation. Erstere kann mit der sogenannten Zugsammelschiene ermöglicht werden, bei der eine Stromkabel alle Wagen eines Zuges mit der Lokomotive verbindet. Dies wird bereits im PV verwendet und kann gemeinsam mit der automatischen Kupplung eingeführt werden (vgl. nächstes Kapitel). Die Intrazugkommunikation ist ein Kommunikationssystem, das den Informationsaustausch zwischen Eisenbahnwagen und Triebfahrzeug ermöglicht, um zum Beispiel Informationen über den Bremszustand auszutauschen. Dafür müssen alle Wagen eines Zuges mit entsprechender Sensorik und Kommunikationsmitteln ausgestattet werden.

9.1.2 Automatisierung der Rangiervorgänge

Mit der automatischen Mittelpufferkupplung kann der Kupplungsvorgang vereinfacht und die Arbeitssicherheit im Rangierbetrieb erhöht werden, indem manuelle Kupplungsarbeiten entfallen (vgl. Abbildung 23 und Abbildung 24).

Abbildung 23: Manuelle Schraubenkupplung88 Abbildung 24: Automatische Kupplung89

Bei der automatischen Bremsprobe werden die Bremsen aller Wagen durch den Lokführer vom Führerstand aus geprüft, wodurch das kontrollmässige Abschreiten des Zuges vor jeder Fahrt entfällt. Gemeinsam mit der automatischen Übermittlung von Zugsdaten wird die Abgangskontrolle vor jeder Fahrt vereinfacht. Bei einem 500 Meter langen Zug dauert die Bremsprobe heute 40 Minuten, automatisiert noch 10 Minuten. Abbildung 25 zeigt die heute anfallenden manuellen Tätigkeiten bei der Zugvorbereitung.


Abbildung 25: Manuelle Tätigkeiten in der Zugvorbereitung (Auswahl)90

Als dritter Bestandteil zur Teilautomatisierung der Nahzustellung kommt der Einsatz eines Kollisionswarnsystem mit Fernsteuerung der Rangierlokomotiven hinzu. Diese Elemente der Automatisierung sollen den Ein-Personen-Betrieb ermöglichen, statt der heute üblichen zwei oder gar drei Personen. Kosten und Zeitaufwand der Zugvorbereitung können damit stark verringert werden. Ausserdem kann laut der SBB Cargo das Berufsbild attraktiver gemacht werden, da für die schweren Rangierarbeiten kaum mehr Fachkräfte gefunden würden. Bis 2020 wurden alle Güterwagen im Binnen-KV mit der automatischen Kupplung und Bremsprobe ausgerüstet. Zudem ist in den nächsten Jahren mit finanzieller Unterstützung des Bundes die Umrüstung der gesamten Wagenflotte des EWLVs mit den genannten Komponenten geplant.

Des Weiteren meint Nicolas Perrin zum Rangierbetrieb: «Ich [kann] mir durchaus vorstellen, dass eine Person im Büro drei Lokomotiven bedient.» Von einem komplett automatisierten Betrieb gehe er hingegen - wie auch Philipp Hadorn - nicht aus. Einerseits ist es nicht sicher, ob dies technisch fehlerfrei, mit ausreichender Sicherheit und wirtschaftlich umsetzbar wäre und andererseits kann bei Fehlern nicht mehr direkt eingegriffen werden. Automatisierung ist letztlich Mittel zum Zweck: Wenn die Kosten den Nutzen übersteigen, lohnt sie sich nicht. Hingegen sehe ich - wie auch alle Interviewpartner - die Teilautomatisierung der Nahzustellung als eine der wichtigsten Schritte zur Steigerung der Produktivität des SGVs an.

Grosses Potenzial sieht Nicolas Perrin auch in selbstfahrenden Güterwagen, die die letzte Meile autonom zurücklegen könnten. Die Technologie stehe bereits zur Verfügung. Ich denke zudem, dass dies auf dem Hauptlauf erlauben würde, die Traktionsleistung der Triebfahrzeuge zu verringern. Doch letztlich müssen die eingesparten Kosten grösser als die Mehrkosten des Antriebs und Akkus sein, damit selbstfahrende Güterwagen eingesetzt werden. Ob und wann dies der Fall sein wird, kann ich nicht mit Sicherheit sagen.

9.1.3 Der intelligente Güterwagen

Mit dem Einsatz von Telematik und der entsprechenden Sensorik am Güterwagen können Daten erfasst und übermittelt werden. Damit können Ortungsdaten und der Zustand des Transportguts übertragen werden, wodurch die Kunden etwa auf Verspätungen reagieren können. Dies ist zudem eine Voraussetzung für eine verstärkte Einbindung des Transportes in die Logistikkette der Kunden (vgl. Kapitel 9.3.7). Weiter kann der Zustand des Rollmaterials erfasst und mit den Daten die Fahrzeuginstandhaltung automatisiert und verbessert werden, indem etwa Schäden frühzeitig erkannt werden. Auch können die EVUs die Daten zur Optimierung des Ressourceneinsatzes, sprich des Einsatzes des Rollmaterials, verwenden.

9.1.4 Verbesserte Laufwerke

Abbildung 26: Lärmemissionen von Eisenbahnwagen91

Durch verbesserte Drehgestelle mit radial einstellbaren Radsätzen können Lärm, Energieverbrauch und Verschleiss verringert werden, indem der Reibungswiderstand insbesondere in Kurven verringert wird. Auch mit neuen Radsätzen können die Lärmwirkung und die Wartungskosten reduziert sowie die Laufleistung vergrössert werden. Als weitere Innovation würden Scheibenbremsen zu geringerem Verschleiss führen und gemeinsam mit den anderen Innovationen am Laufwerk die Lärmemissionen von heute 83dB auf 75dB, das Niveau des Personenverkehrs verringern (vgl. Abbildung 26). Durch die erhöhte Bremsleistung der Scheibenbremsen und mit weiteren Anforderungen wie geringeren Achslasten werden kürzere Bremswege und somit höhere Geschwindigkeiten ermöglicht, was die Transportzeiten verringert.92 Zudem resultiert durch die Angleichung der Geschwindigkeit an den Personenverkehr eine Erhöhung der Trassenkapazität (vgl. Kapitel 10.10.3). Die genannten Komponenten werden seit 2018 im «5L-Demonstratorzug» getestet, wobei eine Lärmreduktion von 5dB gemessen wurde. Bei diesem Testzug wurden auch verschiedene Elemente der vorhin beschriebenen Automatisierung und Digitalisierung erprobt.

9.1.5 Innovatives Wagendesign

Das Gewicht der Güterwagen stellt eine wesentliche Begrenzung der Zuladung dar: Je geringer das Wagengewicht, desto grösser kann das Zuladungsgewicht sein. Das Eigengewicht der Güterwagen kann bereits durch den optimierten Einsatz von konventionellen Materialien um mehrere Tonnen reduziert werden. Eine weitere Reduktion ist durch den Einsatz von innovativen Materialien wie Kohlefaserverbundwerkstoffen zu erreichen, jedoch sind diese für den Betrieb noch nicht ausgereift. Zudem schreiben die Regularien hohe Mindestgewichte vor, bei denen sich die Frage stellt, ob sie ohne Sicherheitseinbussen reduziert werden könnten.

Neben der Leichtbauweise kann die modulare Bauweise der Güterwagen Vorteile mit sich bringen: Durch Trennung von Tragwagen und Behälter kann ersterer standardisiert in hohen Stückzahlen produziert werden, während weiterhin transportgutspezifische Behälter eingesetzt werden. Dadurch können die Güterwagen flexibler eingesetzt werden und die Behälter allenfalls auf geringere Lebensdauern optimiert werden, da die Innovationszyklen sehr kurz sind.

9.1.6 Verlagerungspotenzial

Nachdem die wichtigsten Innovationen im Bereich der Güterwagen beschrieben wurden, stellt sich die Frage, wie gross deren Verlagerungspotenzial ist: Alle Interviewpartner schätzen dieses als sehr gross oder sogar als grösstes aller Innovationsbereiche ein und erachten eine umfassende Modernisierung als notwendig. Dabei wird insbesondere die Automatisierung der Rangiervorgänge hervorgehoben, da dadurch die Produktivität massiv erhöht und der Zeitaufwand stark gesenkt werden könne. Weiter wird auch der Digitalisierung mit dem Einsatz von Informationstechnologien (Telematik) ein hohes Potenzial zugeschrieben. Innovationen am Laufwerk würden zudem die negativen Auswirkungen des SGVs stark verringern.

Ich teile diese Einschätzung und finde besonders spannend, dass viele Innovationen wie zu Beginn beschrieben nicht erst entwickelt werden müssen, sondern bereits in den nächsten Jahren umgesetzt werden können und damit den SGV in einem Schritt markant verbessern können. Der nächste Schritt muss nun eine umfassende Modernisierung des Rollmaterials sein, was auch geplant ist (vgl. oben). Durch die Kostensenkung kann die finanzielle Lage der SBB Cargo nachhaltig verbessert und zusammen mit neuen Funktionen für die Kunden – wie etwa der Sendungsverfolgung – mehr Volumen auf die Schiene gebracht werden.

Man sollte sich bei Innovationen indes bewusst sein, dass in der Praxis meist nicht vorhergesehene Schwierigkeiten auftreten, der Nutzen nie ganz dem Theoriewert entspricht und sie sich langsamer durchsetzen als erwartet. Dies spricht aber nicht grundsätzlich gegen Innovationen. Ein grosses Problem bei Innovationen im Rollmaterial ist, dass grosse Umsetzungshemmnisse bestehen, weshalb die Innovationstätigkeit sehr gering war. Welche das sind und wie diese überwunden werden können, wird in Kapitel 10.5.2 aufgezeigt.

Schienengüterverkehr in der Schweiz

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