Читать книгу Schienengüterverkehr in der Schweiz - Simon Lieb - Страница 8

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5 Der Schienengüterverkehr von den Anfängen bis heute

Um das heutige SGV-System zu verstehen, lohnt sich ein Blick zurück zu den Anfängen der Schweizer Eisenbahn. Denn die heutigen Probleme lassen sich nicht losgelöst von der Geschichte betrachten. Dieses Kapitel resümiert die Geschichte der Schweizer Eisenbahn, unterteilt in vier Zeitabschnitte: Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, die erste und die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie der Beginn des 21. Jahrhunderts. In jedem Zeitabschnitt wird jeweils die Entwicklung des Eisenbahnsystems, der Verkehrspolitik und des SGVs betrachtet. Dabei liegt der Fokus auf den Problemen und Schwierigkeiten sowie den Entwicklungen mit Auswirkungen auf den heutigen SGV.

5.1 Das 19. Jahrhundert – Die Zeit der Privatbahnen

5.1.1 Von der ersten Eisenbahn zur Verstaatlichung

Abbildung 13: Eine Lokomotive der Spanisch-Brötli-Bahn38

Das Eisenbahnzeitalter begann in der Schweiz im Jahr 1847 vergleichsweise spät, als mit der «Spanisch-Brötli-Bahn» von Baden nach Zürich die erste vollständig auf Schweizer Boden verlaufende Eisenbahn fuhr (vgl. Abbildung 13).39 Nebst Personen wurden auch damals Güter transportiert. Die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates 1848 verlieh dem Eisenbahnbau einen Schub. Dabei erfolgten Bau und Betrieb der Eisenbahnstrecken in den ersten 50 Jahren durch Privatunternehmen. In Folge ruinöser Konkurrenz, vieler Konkurse, Streiks und der Furcht vor ausländischen Spekulanten wurde 1898 die Verstaatlichung der fünf grossen Privatbahnen in einer Volksabstimmung hoch angenommen.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Bau des Eisenbahnnetzes, wie es auch heute noch besteht, Grossteils abgeschlossen. Bis 1913 folgt nur noch die Lötschberg-Simplon-Strecke. Neben dem Eisenbahnnetz existiert ein ausgebautes Poststrassennetz, welches die Feinverteilung der Güter an von Bahnstrecken abgelegene Orte übernimmt. Die dafür zuständige Post setzt Pferdefuhrwerke ein, die ihren Höhepunkt erst im 2. Weltkrieg erreichen.

Die in diesem Jahrhundert entstandene Eisenbahn hat die Schweizer Siedlungsstruktur bis heute wesentlich geprägt. Auch konnte sich die Industrialisierung erst durch die Eisenbahn in diesem Umfang vollziehen, da die Güter um ein Vielfaches billiger, in grossen Mengen und stark beschleunigt transportiert werden konnten.

5.1.2 Schienengüterverkehr zu den Anfängen der Eisenbahn

Der Güterverkehr war in den ersten 120 Jahren der Schweizer Eisenbahnen der dominierende Verkehr und generierte die meisten Einnahmen. So gab es vor dem ersten Weltkrieg 20`000 Güterwagen gegenüber 5`000 Personenwagen. Zudem wurden Industrie und Landwirtschaft zulasten des Personenverkehrs begünstigt. Zu Beginn dominierten Stückgutverkehre, die in Packwagen an Personenzüge angehängt wurden oder als separate Güterzüge wie im Personenverkehr an allen Bahnhöfen hielten. Weiter wurden Eilgutverkehre und für grössere Sendungen Wagenladungsverkehre betrieben. Die Organisation erfolgte dabei über Briefe und auch der Betrieb war sehr personalintensiv. Als Kupplung hatte sich europaweit ein System mit Schraubenkupplungen durchgesetzt, während in Amerika bereits vor 1900 eine viel einfacher zu handhabende automatische Kupplung eingeführt wurde.

5.2 Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts – Geprägt durch zwei Weltkriege

Mit der Verstaatlichung und Zusammenführung der fünf grössten Privatbahnkonzerne zur neuen Schweizerischen Bundesbahn wurde zwar die ruinöse Konkurrenz beendet, doch waren die Probleme keineswegs gelöst.40 Denn die neue SBB erbte alle Schulden und Verpflichtungen gegenüber privaten Kapitalgebern sowie die veraltete Infrastruktur und das uneinheitliche Rollmaterial. Zudem bestanden politisch bedingt nicht kostendeckende Tarife. Die SBB musste nun nur aus ihren Einnahmen neben den Betriebskosten auch alle Schuldzinsen und Erneuerungsinvestitionen zahlen. In Folge wuchs der Schuldenberg in den ersten 40 Jahren stark an.

Im ersten Weltkrieg zeigt sich erstmals die Abhängigkeit der Schweiz von teuren Kohleimporten. Um diese zu verringern, startet die Schweiz 1916 ein weltweit beispielloses Elektrifizierungsprogramm des Bahnnetzes. Bis 1928 wurden alle Hauptbahnen und bis 1960 praktisch das gesamte Bahnnetz elektrifiziert. Die umfangreichen Investitionen der SBB in die Elektrifizierung bewirkten eine starke Subventionierung und Umstrukturierung der Industrie.

Aufgrund der hohen Investitionen erhöhten sich die bereits angehäuften Schulden weiter. Die resultierenden hohen Kapitalkosten im Umfang von 30% der Jahreseinnahmen führten zu einer sinkenden Eigenwirtschaftlichkeit der SBB, sodass sie nach dem zweiten Weltkrieg saniert und entschuldet werden musste. Trotzdem hatte sie weiterhin hohe Schulden, was die nach dem zweiten Weltkrieg durch die Konkurrenz der Strasse entstehenden Probleme weiter verschärfte. Zudem wird 1935 mit dem Verkehrsteilungsgesetz eine Gesamtverkehrskoordination abgelehnt, welche verlangt hätte, den Güterfernverkehr vorab auf der Schiene durchzuführen, um eine ruinöse Konkurrenzierung zu verhindern.

Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb der Güterverkehr Haupteinnahmequelle der Eisenbahnen. Der WLV und Stückgutverkehr befanden sich in ihrer Blütezeit und nahmen stark zu. Um den SGV zu beschleunigen, wurde der Fernverkehr vom Stückgutverkehr getrennt, sodass dessen Wagen nicht mehr an jeder Haltestelle anhalten mussten. Zudem wurde 1926 der Nachtdienst eingeführt und 1933 der Rangierbahnhof in Muttenz eröffnet. Hingegen blieb der Aufbau der Güterwagen weitgehend konservativ und nur wenige Neuerungen fanden Einzug.

5.3 Die zweite Hälfte des 20. Jh. - Konkurrenz durch die Strasse41

5.3.1 Ausbau der Strasseninfrastruktur

Abbildung 14: Die parallel zur Eisenbahnstrecke verlaufende Gotthard-Autobahn42

Die Zeit zwischen dem zweiten Weltkrieg und der Jahrtausendwende war wesentlich von der Umwälzung des Verkehrssystems durch den Strassenverkehr geprägt. Der starke Ausbau des Strassennetzes zog einen starken Anstieg des Strassengüterverkehrs nach sich. Zum einen wurde das feinmaschige Gemeindestrassennetz für den motorisierten Verkehr verstärkt und verbreitert, zum anderen wurde das Kantons- und Nationalstrassennetz stark ausgebaut. Nach dem in einer Volksabstimmung angenommenen Treibstoffzollzuschlag begann der Bund in den 1960er-Jahren mit dem Bau eines schweizweiten, engmaschigen und parallel zum Schienennetz verlaufenden Autobahnnetzes (vgl. Abbildung 14). In den folgenden drei Jahrzehnten waren die Investitionen in den Strassenbau fünf- bis siebenmal höher als in die Schieneninfrastruktur. Erst vor der Jahrtausendwende wurde der Ausbau der Eisenbahninfrastruktur mit Bahn 2000 wieder forciert. Und während der Strassenverkehr durch den grossflächigen Ausbau eines leistungsfähigen Strassennetzes gefördert wurde, wurden die Kosten der negativen Auswirkungen auf die Allgemeinheit abgewälzt (vgl. Kapitel 6).

5.3.2 Höhepunkt und Abbau im Schienengüterverkehr

Trotz der zunehmenden Konkurrenz durch den Strassengüterverkehr erreichte der WLV in den 1970er-Jahren seinen Höhepunkt, insbesondere, da die Schweiz den zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überstand und die intakte Industrie vom Aufschwung profitieren konnte. So hatte die Schweiz bis in die 1960er-Jahre den höchsten Industrialisierungsgrad aller Länder. Auch ermöglichte das vollständig elektrifizierte Eisenbahnnetz, der Einsatz von abgeschriebenem Rollmaterial und Personenzügen mit Güterbeförderung ein attraktives Angebot zu geringen Betriebskosten. Die Erhaltung der hohen Dichte des Bahnnetzes in der Schweiz43 ist vor allem diesen Aspekten und der Subventionierung von Nebenbahnen zu verdanken. Zu dieser Zeit gab es 1`918 Güterbahnhöfe in der Schweiz und 2/3 aller Eisenbahnwagen waren Güterwagen.

Doch seit den 1970er-Jahren wurde der SGV zunehmend unrentabel. In Folge wurden viele Güterbahnhöfe und Anschlussgleise geschlossen und die Angebote des EWLVs und Stückgutverkehrs abgebaut. Während der Strassengüterverkehr in der Fläche von 1950 bis 2000 um das 13-fache zunahm, stieg die Verkehrsleistung des SGVs in der Fläche nur um das Dreifache an.44 Meiner Analyse nach sind dafür mehrere Ursachen verantwortlich.45 Erstens kam der Güterverkehr durch die Konkurrenz des Strassengüterverkehrs mit dem Autobahnbau zunehmend in Bedrängnis. Ein Lkw war flexibler und hatte aufgrund der schwächeren Arbeits- und Sicherheitsauflagen einen Konkurrenzvorteil. Zusätzlich wandelte sich auch die Raumstruktur zu Ungunsten des SGVs, da es den Unternehmen durch den Lkw zunehmend möglich wurde, auch abseits des Schienennetzes Standorte aufzubauen.

Neben der Konkurrenzierung kam hinzu, dass durch die Deregulierung des internationalen Güteraustausches zunehmend globalisierte Wertschöpfungsketten entstanden und grosse Teile der Industrieproduktion ins Ausland verlagert wurden. In Folge der Deindustrialisierung mussten weniger bahnaffine Güter, die durch regelmässige Transporte in grossen Mengen gekennzeichnet sind, transportiert werden. Hingegen erhöhte sich der Anteil kleiner, leichter und hochwertiger Konsumgüter. Dieser Trend zu kleineren Sendungsgrössen mit höherwertigen Gütern wird als Güterstruktureffekt bezeichnet.

Weiter wurde durch die Digitalisierung und das Aufkommen des flexiblen Lkws der Ausstieg aus der Lagerhaltung mit zunehmender Arbeitsteilung ermöglicht, was zudem eine Folge der Abnahme des Anteils der Transport- an den Produktionskosten war. Dies führte zu abnehmenden Sendungsgrössen, mehr Just-in-Time-Transporten, zur engeren Einbettung der Transporte in die Logistik der Kunden und zur Abnahme der für die Bahn sprechenden Bündelung. Aufgrund der gestiegenen Wertdichten und grösseren Abhängigkeit zwischen den einzelnen Produktionsschritten stiegen zudem die Kundenanforderungen betreffend Flexibilität, Zuverlässigkeit und Geschwindigkeit.

Einerseits mussten diese Entwicklungen zu Problemen und Anteilsrückgängen im SGV führen. Andererseits verpasste es die SBB aber, auf diese Veränderungen der Wirtschaftsstruktur zu reagieren, in neue Wachstumsmärkte einzusteigen (Konsumgüter) oder auf veränderte Kundenanforderungen zu reagieren. Zudem wurden wichtige Innovationen zur Steigerung der Produktivität wie der automatischen Kupplung nicht umgesetzt.

Ein Grund dafür war, dass der Güterverkehrsbereich der SBB gegenüber dem Personenverkehr (PV) vernachlässigt wurde. Peter Füglistaler beschreibt den SGV als «das etwas vernachlässigte Kind im ÖV». Und Philipp Hadorn meint, er sei «stiefmütterlich behandelt» worden, da er «innerhalb des SBB-Konzerns das Sorgenkind gewesen [ist], das nie auf einen grünen Zweig gekommen ist». Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass der SGV aufgrund des Aufkommens des Strassengüterverkehrs mit dem Autobahnbau zunehmend Verluste schrieb, an Gewicht verlor und entsprechend «als Last empfunden wurde».46 Zudem bekam er in der Politik wenig Aufmerksamkeit, da er kaum wahrgenommen wurde. So wurden wichtige Investitionen nicht getätigt und das steigende Angebot im PV hatte für den SGV qualitativ schlechtere Trassen zur Folge. Auch wurde der SGV in der Fläche beim Infrastrukturausbau, der ab den 1990er-Jahren mit Bahn 2000 wieder stärker vorangetrieben wurde, kaum berücksichtigt.

Zudem fehlte aufgrund der geringen Renditen Kapital, um in Innovationen zu investieren und somit den SGV zu verbessern. Man spricht auch von einem technologischen Patt und in Folge wurden wichtige technische Neuerungen nicht umgesetzt.

5.3.3 Das Verhältnis der Schweiz zur EU – Vom Alpenschutz zur Liberalisierung

Mit der Fertigstellung des Gotthardstrassentunnels im Jahr 1980 stieg der alpenquerende Strassengüterverkehr sprunghaft an und die negativen Folgen wie Lärm-, Stickoxid- und Feinstaubemissionen wurden vermehrt sichtbar. Auch nahm in dieser Zeit das Umweltbewusstsein zu. 1994 wurde der Alpenschutzartikel bei einer Volksabstimmung angenommen, mit dem Ziel den Strassentransitverkehr zu reduzieren (vgl. Kapitel 4.3.4).47

Nach dem Nein zum EWR-Beitritt 1992 schloss die Schweiz mehrere Bilaterale Abkommen ab, darunter das für den GV wichtigen Landverkehrsabkommen. Darin ist festgehalten, dass die EU die Schweizer Verkehrspolitik mit LSVA akzeptiert, aber als Gegenleistung musste die Schweiz die Lkw-Gewichtslimite von 28 auf 40 Tonnen erhöht und die Abgabenlast begrenzen.

In den 1990er-Jahren wandelte sich das Schweizerische Eisenbahnsystem rapide. Mit der Bahnreform I wurde die SBB aus der Bundesverwaltung herausgelöst, in eine Aktiengesellschaft in vollständigem Besitz des Bundes überführt und entschuldet.48 Die SBB wurde in die Divisionen Personenverkehr, Infrastruktur und Güterverkehr aufgeteilt. Weiter wurde die Infrastruktur und der Verkehr voneinander getrennt, der diskriminierungsfreie Netzzugang49 eingeführt und zur Überwachung wurde eine unabhängige Schiedskommission eingesetzt. Zudem wurde der Güterverkehr liberalisiert. Das Hauptziel dieser Reformen war eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Bahnen gegenüber der Strasse. Dies sollte dank einer privatrechtlich ausgerichteten Marktorganisation für mehr unternehmerisches Denken, mehr Wettbewerb und international einheitliche Normen erreicht werden. Der wichtigste Grund für die Liberalisierung lag meiner Auffassung nach im Druck der EU zur Angleichung der Regelwerke sowie dem allgemeinen Liberalisierungstrend50. Alle befragten Interviewpartner sehen die Bahnreform als positiv oder sogar notwendig an, da vorhin massive Probleme bestanden hätten.

5.4 Das 21. Jahrhundert – Das neue Jahrtausend51

5.4.1 Folgen der Liberalisierung auf den SGV

Die Bahnreform I im Jahr 1999, insbesondere die Liberalisierung des SGVs und die Öffnung des Netzzugangs, hat den SGV in der Fläche grundlegend verändert. Bis anhin waren die SBB als nationale Staatsbahn sowie zahlreiche mehrheitlich in Kantonsbesitz befindliche Privatbahnen auf ihrem jeweiligen Netz Monopolisten. Aufgrund des Territorialprinzips52 waren viele dieser Bahnen auch im SGV in der Fläche tätig und führten diesen gemeinsam durch. Die Einnahmen gingen aber nicht an die Bahn, die den Transport durchführte, sondern an die Bahn, auf deren Infrastruktur er stattfand, was zu Marktverzerrungen führte.

Mit der Bahnreform änderte sich dies und jedes EVU konnte auf dem Netz der anderen fahren. Da es effizienter ist, wenn das EWLV-Netz von nur einem Anbieter betrieben wird, übernahm die SBB Cargo auf dem gesamten Normalspurnetz die Transportaufgaben im EWLV.

Gleichzeitig nahmen aber mehrere Privatbahnen, insbesondere die BLS, einfach zu produzierende Ganzzugsverkehre als Nischenanbieter auf. Es wurden gewissermassen die profitablen Rosinen herausgepickt, was eine logische Konsequenz der Marktöffnung war. Durch diese Konkurrenzierung wurden die Gewinne im zuvor relativ profitablen Ganzzugverkehr der SBB, die den EWLV stützten, stark gedrückt, was deren finanziell bereits schwierige Lage weiter anspannte. Zudem wurden grössere ehemals im EWLV transportierte Güter durch Wettbewerber herausgenommen und neu als Ganzzugsverkehre gefahren, was dessen Auslastung senkte. In Folge gab es kaum Spielraum für Investitionen. Auf der anderen Seite führt Liberalisierung grundsätzlich zum Druck, sich von der Konkurrenz abzuheben und besser zu werden. Es ist meiner Meinung nach schwierig abzuschätzen, ob die Liberalisierung eher zu Leistungsabbau führte, oder damit unternehmerisches Denken, eine erhöhte Kundenorientierung sowie Innovationstätigkeit folgte und damit ein noch stärkerer Rückgang verhindert wurde (für eine genauere Analyse vgl. Kapitel 0).

5.4.2 Güterverkehrspolitik in der Fläche

Nach der Liberalisierung und den Bilateralen Abkommen mit der EU wurden bis 2008 die Trassenpreissubventionen vollständig abgebaut. Dies führte einerseits zum Druck, die Effizienz zu steigern, andererseits wurden meiner Meinung nach die finanziellen Probleme verschärft.

Zudem bestand eine unklare Zielsetzung zwischen Eigenwirtschaftlichkeit und Flächenbedienung und eine Vielzahl an unterschiedlichen Förderungen. Um dies zu klären, den SGV entsprechend gezielt zu fördern und die bestehenden Probleme zu lösen, wurde das GüTG zwischen 2011 und 2016 totalrevidiert (vgl. Kapitel 4.3.2). In Folge wurde die Subventionierung auf die Förderung der Infrastruktur wie Anschlussgleisen ausgerichtet, während die Betriebsabgeltungen im Umfang von etwa 30 Mio. Franken vollständig abgebaut wurden mit dem primären Ziel der Eigenwirtschaftlichkeit der SBB Cargo. Zudem wurde es neu möglich, Innovationen zu fördern. Auch wurde die lange geltende Priorisierung des Personenverkehrs bei der Trassenvergabe gestrichen.

Schliesslich hat sich 2020 die Swiss Combi, bestehend aus vier Schweizer Strassenverkehrsunternehmen, mit 35% an der SBB Cargo beteiligt. Dies mit dem Ziel, privates Risikokapital in das Unternehmen zu bringen, die Kundenorientierung zu erhöhen, mehr Mengen ins EWLV-System zu bringen und die SBB Cargo unternehmerischer auszurichten.

5.4.3 Mengenrückgang im SGV in der Fläche und Abbau von Bedienpunkten

Seit Mitte der 2000er-Jahre nehmen die im SGV in der Fläche transportierten Mengen nicht nur relativ zur Strasse, sondern auch absolut ab, besonders im EWLV (vgl. Abbildung 2 auf Seite 10 und Abbildung 15: Hellrot und hellblau entspricht dem EWLV). Was sind die Ursachen dafür? Zum einen haben sich die Trends der letzten Jahrzehnte in Richtung kleinerer Sendungsgrössen, kürzeren Lieferzeiten und mehr Flexibilität durch das Aufkommen des Online-Handels verstärkt fortgesetzt, wo die Eisenbahn tendenziell weniger stark ist. Zudem sind weitere bahnaffine Industriebetriebe, die schwere Güter in grossen Mengen regelmässig transportiert haben, aufgrund der hohen Produktionskosten in der Schweiz abgewandert. Nach Nicolas Perrin hat der erstarkte Franken und die Marktöffnung Europas diesen Prozess nochmals massiv beschleunigt. Auch die anderen Interviewpartner sehen die strukturelle Veränderung der Industrie als einen der wichtigsten Gründe für den Mengenrückgang an.


Abbildung 15: Nachfragerückgang seit 200953

Weiter machte die Konkurrenz des Strassengüterverkehrs den SGV unrentabler und die Prioritätenordnung bei der Trassenvergabe behinderte die Entwicklung des SGVs sowie dessen Zuverlässigkeit weiterhin. Auch hatte der personenverkehrsdominierte SBB-Konzern wenig Interesse am SGV.

Doch auch bei der SBB Cargo sind Ursachen für die Probleme zu verorten. Einerseits gewann sie zu wenig Marktanteile im wachsenden Konsumgütermarkt. Andererseits wurde immer noch veraltetes Rollmaterial eingesetzt und die Innovationstätigkeit war sehr gering. In Folge war und ist der Betrieb des SGVs sehr aufwändig und kostenintensiv. Da der SGV in der Fläche Marktanteile verlor und kaum Gewinne erwirtschaftet wurden, sank der Spielraum, aus eigener Kraft in grössere Innovationen zu investieren, die den SGV nachhaltig gebessert hätten. Diese Situation hält bis heute an. Ausserdem ist es eine Eigenheit des SGV-Marktes, dass für viele Innovationen grosse Hemmnisse bestehen (vgl. Kapitel 10.5.2). Ich bezweifle daher, dass die SBB Cargo aus eigener Kraft eine umfassende Modernisierung ihrer Flotte hätte umsetzen können, aber kleinere und kontinuierliche Verbesserungen wären durchaus möglich gewesen. Als weitere Gründe wurden oft, auch von Seiten der SBB, eine ineffiziente Organisation des EWLVs54 und eine mangelnde Kundenorientierung konstatiert. Doch muss hier angefügt werden, dass die SBB Cargo (und bei ersterem auch das Bundesamt für Verkehr) in den letzten Jahren Anstrengungen unternommen hat, um die Innovationstätigkeit und die Kundenorientierung zu erhöhen. So hat sie etwa das Netz im Binnen-KV als europaweit erste Bahn mit der automatischen Kupplung und Bremsprobe ausgerüstet (vgl. Kapitel 9).

Trotz dem beschriebenen schwierigen Umfeld wurden die politischen Rahmenbedingungen zuungunsten des SGVs verändert. Wie bereits weiter oben erwähnt wurde er vom Abbau der Subventionen unter Druck gesetzt. Auch führte die Liberalisierung wahrscheinlich zu negativen Auswirkungen für den EWLV. Eine besonders gewichtige Rolle kam der Erhöhung der Lkw-Gewichtsbegrenzung auf 40 Tonnen im Jahr 2004 zu, deren Effizienzsteigerung durch die LSVA nicht vollumfänglich kompensiert werden konnte.

All diese langfristigen und kurzfristigen Faktoren führten zu sehr schlechten Betriebsergebnissen. Mit dem Ziel, diese zu verbessern, baute die SBB Cargo ihr Angebot im EWLV in mehreren Schritten grossflächig stark ab und schloss Bedienpunkte, was zwar die Kosten reduzierte, aber auch zum Verlust von Volumen und zu einer Verunsicherung der Kunden führte.55 Philipp Hadorn meint: «Daher wollen die Kunden heute in vielen Fällen gar nicht mehr auf die Schiene.» Es fragt sich, ob der SGV in der Fläche aufgrund abnehmender Mengen und in Folge geringerer Auslastung im EWLV-Netz in eine Abwärtsspirale kam. Wie sinnvoll der grossflächige Abbau von Bedienpunkten zur Verbesserung des Betriebsergebnisses ist, was die Folgen waren und was hätte anders gemacht werden sollen, wird im Kapitel 9.3.4 analysiert. Im Jahr 2006 wurde das EWLV-Netz mit dem Projekt «Fokus» von insgesamt 650 auf 323 Bedienpunkte im Grundnetz und rund 200 Kundenlösungen reduziert. Auch wurde die Anzahl an Teambahnhöfen und Arbeitsplätzen verringert. Bereits auf den Fahrplanwechsel 2012/13 folgte der nächste grosse Abbauschritt, bei dem 130 der Bedienpunkte geschlossen wurden, auf dann 374. Danach konnten 2013 das erste Mal seit vier Jahrzehnten schwarze Zahlen ausgewiesen werden. Doch es folgten Rückschläge: Erstens führte der zum Euro erstarkte Franken zu geringeren Einnahmen. Zweitens hat sich die SBB Cargo mit der Einführung des Buchungssystems WLV 17 «zu viel vorgenommen»56. Ein weiterer Faktor für den Abbau dürfte die Totalrevision des GüTGs mit Abbau von Subventionen sein. Nur wenige Jahre später, 2018/19, kam ein erneuter Abbau auf die heutigen 154 Bedienpunkte im Grundnetz und 131 Kundenlösungen hinzu, inklusive Streichung von rund einem Drittel der Arbeitsplätze bis 2023.

5.5 Fazit zur historischen Entwicklung und den heutigen Problemen im SGV in der Fläche57

Wie in den letzten Kapiteln beschrieben, gibt es sehr unterschiedliche Probleme im SGV in der Fläche, die von finanziellen Schwierigkeiten über schlechte Trassen bis zur Verunsicherung der Kunden führen und alle mit dazu beitragen, dass der Marktanteil abnahm. Meiner Auffassung nach ist bei genauer Betrachtung des SGVs in der Fläche keine einzelne eindeutige Ursache für die heute bestehenden Probleme erkennbar, sondern vielmehr müssen die Ursachen differenzierter betrachtet werden. Erstens führte der Strukturwandel der Wirtschaft aufgrund der in den 1970er-Jahren einsetzenden Deindustrialisierung und technologischer Entwicklungen wie der Digitalisierung zur Abnahme bahnaffiner Massenguttransporte. Zweitens führte die Konkurrenzierung durch den Strassengüterverkehr, der durch den Aufbau eines Autobahnnetzes massiv gefördert wurde, zu Ertragseinbussen, Modalsplit-Verschiebungen, Entbündelung von Verkehrsströmen und Veränderung der Raumstruktur. Grosse Teile der Logistik haben sich auf den Strassengüterverkehr ausgerichtet. Auch sanken die Transportkosten, während die Kosten der negativen Auswirkungen auf die Allgemeinheit abgewälzt wurden und werden. Drittens unterstützt zwar das politische Regulativ der Schweiz den SGV stärker als in den Nachbarländern, doch hat sich auch dieses zuungunsten des SGVs in der Fläche entwickelt. Und schliesslich hat die SBB die strukturellen Entwicklungen hin zum Konsumgütermarkt verpasst und über Jahrzehnte zu wenige Innovationen (sowohl technische wie auch organisatorische) umgesetzt. Auch wurde der SGV in der Fläche der Auffassung aller Interviewpartner nach lange vernachlässigt. So hat etwa die lange Zeit geltende Prioritätenordnung bei der Trassenvergabe die Zuverlässigkeit des SGVs verschlechtert. Zuletzt haben auch die wiederholt grossen Abbauschritte zu einer Verunsicherung der Kunden geführt, was für die Weiterentwicklung äusserst gefährlich ist.58 Das Vertrauen wiederzugewinnen ist sehr schwierig und stellt eine grosse Herausforderung dar. Auch ist ein Wiederaufbau sehr aufwändig.

Diese Entwicklungen - besonders die Konkurrenz durch den aufkommenden Strassengüterverkehr ist meiner Meinung nach hervorzuheben - führten dazu, dass der Güterverkehrsbereich der SBB in finanzielle Probleme kam. Er verlor Marktanteile, seit Mitte der 2000er-Jahre nahmen die transportierten Mengen sogar absolut ab, während der Strassengüterverkehr zunahm. Folge der finanziellen Schwierigkeiten ist eine geschwächte Innovations- und Investitionskraft, was mit ein Grund für die technologische Rückständigkeit des SGVs ist. Wie der Abbau des EWLV-Netzes führt auch die geringe Innovationsfähigkeit wiederum zu geringeren transportierten Mengen und weniger Gewinnen: Die Gefahr einer Abwärtsspirale ist erkennbar. Doch hat sich dies in den letzten Jahren etwas geändert. «Es besteht eine grosse Dynamik»59, sowohl von Seiten der SBB Cargo als auch des Bundes und wichtige Innovationen sowie deren Förderung werden vorangetrieben.

Meiner Meinung nach bestehen heute grosse Probleme im SGV in der Fläche und er steht vor grossen Herausforderungen. Es lässt sich ein grosser Handlungsbedarf erkennen, sowohl von Seiten der EVUs (insbesondere der SBB Cargo als wichtigstem Akteur) als auch der Politik. Die Lösung der Probleme und das erfolgreiche Bewältigen der Herausforderungen ist von besonderer Bedeutung, da der SGV in der Fläche zur Minimierung der negativen Auswirkungen des Güterverkehrs eine wichtige Rolle einnimmt (vgl. nächstes Kapitel).

Schienengüterverkehr in der Schweiz

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