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Montag, 23. März

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Es ist Frühling geworden. Ich mag es, wenn draußen die Tulpen blühen und die Krokusse. Mel und ich sitzen im Zug, und ich beobachte, wie grüne Felder so schnell an uns vorbeirasen, dass mir ganz schwummrig wird.

Seit dem Tag, an dem ich versucht habe mit ihr zu sprechen, habe ich mich ganz doll zurückgehalten, um sie nicht wieder zu erschrecken. Ich bin natürlich immer noch da. Die meiste Zeit bin ich sogar direkt neben ihr. Aber ich halte mich zurück. Nur ab und zu streichle ich sie ganz leicht, und oft räkelt sie sich genau in dem Moment oder sie seufzt leise.

Mel liest einen Artikel in Nuclear Instruments and Methods. Ich weiß, dass das wichtig ist. Denn in der aktuellen Ausgabe ist die Veröffentlichung der ersten Messungen, die die Arbeitsgruppe von Enrico Roggero an ihrem neuen Apparat gemacht hat. Aber eigentlich möchte ich, dass Mel mit mir aus dem Fenster schaut und die Fahrt genießt. Wir haben fast den ganzen Winter in der Uni verbracht, jeden Tag, jedes Wochenende und auch einige Nächte. Mel ist zwischen Schreibtisch, Hörsaal und Labor hin und her gerannt, hat Vorlesungen vorbereitet und gehalten, diverse Verbesserungen für unser Experiment geplant, mit Olli und Tim einige Testmessungen gemacht und sogar zwei Vordiplomsprüfungen abgenommen. Weil ER gedrängt hat, hat sie sich noch einmal mit dieser Nina getroffen. Das war vielleicht gar nicht so dumm. Denn Nina hat auch gemeint, dass Mel auf jeden Fall ein paar dieser öffentlichen Vorträge annehmen sollte.

Deswegen reisen wir heute nach Frankfurt. Unser erster Vortrag wird vom Lions Club organisiert. Kommen dürfen wohl auch Nichtmitglieder. Aber der Club bezahlt uns und hat auch ein Hotel gebucht. Ich bin schon ganz aufgeregt, sodass ich kaum still sitzen kann.

Vor lauter Zappeln stupse ich versehentlich Mel an. Sie sieht sofort auf, lässt tatsächlich ihre Zeitschrift sinken und schaut an mir vorbei aus dem Fenster.

Bäume, Häuser, Felder und Hochspannungsleitungen ziehen an uns vorbei. Ihre Umrisse gehen wie die Farben eines Aquarells ineinander über, als würde ihre Form durch die Geschwindigkeit des Zuges aufgehoben. Auch ihre Abstände zueinander verschwimmen.

Man sagt doch, dass die Wahrheit im Auge des Betrachters liegt. Ich glaube, das ist genau das, was gerade passiert. Es ist fast wie ein echtes physikalisches Experiment. Beobachtung 1, denke ich und stelle mir vor, dass ich nicht im Zug sitze, sondern vor meinem Fenster auf dem Feld stehe. Ich sehe einzelne Häuser und Bäume neben einem mehr oder weniger rechteckigen Feld. Genau genommen ist es natürlich keine echte Beobachtung, denn ich tue es ja nicht wirklich, ich weiß nur, dass es so ist. Aber das macht nichts, es ist ja nur ein Spiel. Beobachtung 2, und die ist jetzt echt: Ich sitze im Zug, das Haus geht in den Baum über und ein Baum in den nächsten, und alles zusammen verschwimmt mit dem Feld. Schlussfolgerung: Es zeigt, dass einfach alles, was wir Realität nennen, immer vom Beobachter abhängt. Je nachdem, ob ich im Zug sitze oder draußen stehe, ist die Welt verschwommen oder klar und trotzdem genau dieselbe Welt.

Meine Realität ist eben nicht die der anderen, nicht einmal die gleiche wie die von Mel. Dass es mich gibt, ist mir selbst natürlich klar. In meiner Realität existiere ich genauso wie Mel, Kati oder Alfred Müller. In Mels Welt jedoch kann man mich nicht sehen. Mel sieht Kati und Alfred, aber von mir kennt sie nur die Stimme, und manchmal spürt sie meine Anwesenheit, ein bisschen wenigstens. Aber jemand wie Alfred sieht, hört und spürt mich nicht. Er kennt mich nicht und wird mich auch nie kennenlernen. In seiner Welt existiere ich überhaupt nicht und das, obwohl Mel und ich fast immer zusammen sind und ich Alfred jeden Tag sehe. Das ist spannend. Darüber möchte ich unbedingt weiter nachdenken. Deswegen kuschle ich mich an Mels Schulter und schließe die Augen. Ich glaube, ich finde Bahnfahren herrlich.

Als ich in Frankfurt aus dem Zug steige, steht mir ein gut gekleideter junger Mann gegenüber, der ein großes Schild mit der Aufschrift: „Dr. Melanie Glanz“ vor sich hochhält. Ich bin beeindruckt. Ich habe schon einige Vorträge auf diversen Fachkonferenzen überall auf der Welt gehalten. Wenn das Organisationsteam etwas taugte, gab es meist eine brauchbare Anreise-Beschreibung, abgeholt wurde ich noch nie.

„Wie war Ihre Fahrt, Frau Dr. Glanz?“, erkundigt sich der Mann, der sich als Nils vorstellt, und nimmt mir ohne zu fragen den Rollkoffer ab.

„Melanie“, sage ich.

Nils lächelt, zieht es aber vor, nicht darauf einzugehen. „Leider ist die Zeit etwas knapp, sodass ich Sie direkt zum Campus Riedberg bringe. Der Vortrag findet in der naturwissenschaftlichen Fakultät statt. Dr. Borsing wollte auch den Studenten die Möglichkeit geben, aus erster Hand von Ihren großartigen Versuchen zu erfahren.“

„Das ist sehr nett“, antworte ich höflich und hoffe, dass tatsächlich ein paar Studenten erscheinen, sonst wird es im großen Hörsaal ziemlich ungemütlich. „Kann ich meinen Koffer solange im Auto lassen?“

„Natürlich. Ich bringe Sie nach dem Vortrag sofort in Ihr Hotel, sodass Sie sich vor dem Abendessen noch frisch machen können.“ Nils leitet mich geschickt durch die Masse der Reisenden zum Ausgang.

„Wir gehen essen?“

„Selbstverständlich. Unser Vorsitzender, Herr Dr. Borsing, hat einen Tisch im Schlosshotel Kronberg reserviert. Ich hoffe, es gefällt Ihnen dort.“

„Es klingt wunderbar.“

„Das ist es. Der Speiseraum ist einer der schönsten Säle Hessens. Man fühlt sich zurückversetzt in die Kaiserzeit.“

„Gehen Sie öfters dorthin?“

„Nein, nein.“ Mittlerweile haben wir den Parkplatz erreicht, und Nils wirkt etwas verlegen, als er meine Sachen in den Kofferraum lädt. „Ich habe es im Guide Michelin gelesen.“

„Dann hoffe ich, dass Sie uns heute Abend begleiten.“

Nils lächelt, schließt die Beifahrertür und bleibt mir die Antwort schuldig.

Zwanzig Minuten später erreichen wir den Campus. Die Gebäude sind modern und sehr funktional, aber immerhin gibt es zwischen den schmucklosen Backsteinwänden große Wiesen und Rasenflächen, auf denen die ersten Studenten die Frühlingssonne genießen. Eine Gruppe Männer, alle in Anzügen, erwartet uns bereits neben der Eingangstür. Ich bin heilfroh, heute auf meinen üblichen Jeans-und-Turnschuh-Look verzichtet zu haben. Stattdessen trage ich einen schwarzen Rock und ein taubenblaues Twinset. Es ist mein einziges einigermaßen schickes Outfit, das ich bislang nur bei besonderen Anlässen aus dem Schrank gezogen habe. Vielleicht sollte ich morgen vor der Abfahrt noch einmal über die Zeil bummeln und meine Garderobe aufstocken.

Nachdem ich mindestens zehn Hände geschüttelt, ebenso viele Namen wiederholt und wieder vergessen habe, werde ich in den Hörsaal bugsiert, wo ich erleichtert feststelle, dass tatsächlich viele Studenten und Mitglieder der Fakultät erschienen sind. Ich erkenne Steffen Berg, der vor Kurzem die Astrophysik-Arbeitsgruppe übernommen hat. Ansonsten ist das Publikum bunt gemischt. Abgewetzte Jeans sitzen neben teuren Anzügen, in denen ich vor allem die Mitglieder des Lions Clubs vermute. Aber es gibt auch Männer in Cordhosen mit grauen Haaren oder Vollglatze, die mit langhaarigen Studenten diskutieren. Eine Frau im blauen Kostüm zieht sich in der dritten Reihe die Lippen nach. Ihre Sitznachbarin scheint sich nicht viel aus Make-up zu machen. Sie trägt ein unförmiges Strickkleid und gießt sich Tee aus einer Thermoskanne ein. Es sind offensichtlich nicht nur Physiker gekommen, aber damit habe ich zum Glück gerechnet. Borsing ist Anwalt. Laut Google hat er seine Doktorarbeit in Markenrecht gemacht. Von Physik wird er zuletzt in der Schule etwas gehört haben, und das dürfte, wenn ich ihn mir anschaue, eine Weile her sein. Wahrscheinlich geht es vielen Zuschauern ähnlich. Deswegen habe ich mich entschieden, möglichst wenig auf den Formeln herumzureiten und dafür kleine Anekdoten in meinen Vortrag aufzunehmen. Nun hoffe ich, dass sie beim Publikum ankommen.

Zu meiner eigenen Überraschung vergehen die nächsten 90 Minuten wie im Flug. Ich erzähle, wie Rüdiger während unserer ersten Wochen in Kanada ein Taschentuch in der Beamline, also der Vakuumröhre, durch die der Ionenstrahl geht, vergessen hat und sehe Steffen Bergs breites Grinsen, als ich erwähne, dass es uns geschlagene fünf Tage kostbarer Experimentierzeit gekostet hat herauszufinden, warum kein Ionenstrahl unsere Detektoren erreichte. Alles blieb in Rüdigers Taschentuch mit dem blauen Monogramm hängen. Auch die meisten Menschen im Publikum schmunzeln. Das macht mir Mut. Deswegen fahre ich wie geplant fort und berichte von langen Nachtschichten mit genialen Einfällen um drei Uhr in der Früh, die später gegen neun Uhr nicht mehr ganz so genial erschienen und umständlich zurückgebaut werden mussten. Wir lachen gemeinsam über meine Schusseligkeit, mit der ich den Alarm auslöste, sodass an einem denkwürdigen Vormittag, genau zur Frühstückspause des Direktors, die Feuerwehr anrückte und das gesamte Labor räumen wollte. Damals haben wir natürlich nicht gelacht, zumindest ich nicht.

Doch die Reaktion meines Publikums tut gut. Ich spüre, wie sich etwas in mir löst. Rückblickend ist alles nur noch halb so schlimm. Was bleibt, ist eine schöne Erinnerung. Deutlich entspannter zeige ich jetzt bunte Bilder von explodierenden Sternen und schummle ein Foto von einem angeschmorten 5.000-$-Detektor darunter. Immer freimütiger gestehe ich unsere Fehler und Pannen, ohne das Gefühl zu haben, mich oder meine Mentoren bloßzustellen. Die Gesichter, die mir entgegenschauen, sind amüsiert, viele schmunzeln, aber in keinem entdecke ich Hohn. Sie scheinen eher erleichtert darüber zu sein, dass in jedem Nobelpreisträger ein ganz normaler Mensch steckt. Schließlich komme ich zu der ersten erfolgreichen Schicht, mit der sich plötzlich alles änderte und unser Siegeszug begann.

Das Publikum lauscht gebannt, lacht, staunt und zieht mich mit seiner Freude mit. Es stimmt, es war ein großartiges Experiment. Und Rüdiger, George, John und ich hatten eine wundervolle Zeit.

Als ich meinen Vortrag mit Carl Sagans berühmten Worten „We are all made of star stuff“ beende, weiß ich, dass ich den richtigen Ton getroffen habe. Mein Publikum klopft laut und ausdauernd auf die Pulte. Nicht einmal Borsing, der zu mir ans Rednerpult tritt, schafft es auf Anhieb, sich Gehör zu verschaffen. Steffen Berg zwinkert mir zu und reckt seinen Daumen nach oben.

Nur mit halbem Ohr höre ich, dass sich Borsing neben mir für den Vortrag bedankt und das Publikum auffordert, Fragen zu stellen. Umgehend fliegen mindestens 30 Hände in die Höhe. Hoffentlich haben wenigstens einige unter ihnen dieselben Fragen, sonst sitzen wir morgen früh noch hier.

Es kommt tatsächlich schlimmer. Mit jeder Antwort, die ich gebe, heben sich weitere Hände. Ein paar fachlich sehr interessierte junge Leute verweise ich schließlich auf Steffens Vorlesung. Doch andere Fragen sind eher praktischer Natur: Wie haben wir die Schichten eingeteilt? Jeder hat sich selbst eingetragen. Gab es im Labor Schlafplätze? Ja, Luftmatratzen auf dem Boden! Wie hat sich die Arbeitsgruppe gebildet? Rüdiger Neuhaus und George Kinsley waren Doktorand und Postdoc in derselben Arbeitsgruppe am Caltech in Kalifornien, wo John Dalen gerade ein Sabbatical verbrachte. Seitdem waren sie befreundet. Irgendwann kam ich dazu. Wer ist auf die Idee gekommen, einen radioaktiven Ionenstrahl zu erzeugen? Ich antworte geduldig und nach bestem Wissen und Gewissen, wobei ich feststelle, dass meine Erinnerung Lücken aufweist. Haben wir damals schon im Labor gekocht? Oder haben wir diese Tradition erst später eingeführt? War es Rüdiger oder John, der die Idee mit dem radioaktiven Strahl zuerst aufbrachte? Jedenfalls nicht George, der erst einige Bedenken bezüglich der Sicherheit hatte und mühsam von den beiden anderen überzeugt werden musste.

Die Frau aus der dritten Reihe, die gerade wieder ihre Lippen nachziehen will, lässt blitzschnell den Lippenstift in ihrer Tasche verschwinden und hebt die Hand.

„Vielen Dank, dass Sie uns einen derart persönlichen Einblick in die Welt der Spitzenforschung gewährt haben. Man stellt sich nicht vor, dass auch Sie mit ganz gewöhnlichen Problemen und Pannen zu kämpfen hatten. Ich frage mich jedoch, was letztendlich den entscheidenden Durchbruch eingeleitet hat. Welcher Schritt oder welche Entscheidung, würden Sie sagen, hat am Ende zum Erfolg geführt?“

Das ist eine gute Frage. Ich könnte sie einfach abbügeln mit einer Phrase und darauf verweisen, dass es nicht ein Schritt oder die eine Entscheidung war, sondern viele kleine Beiträge, die in der Summe zum Erfolg geführt haben. Aber ich ahne, dass sie etwas anderes hören möchte. Wann also kam der entscheidende Durchbruch? Ab welchem Punkt, welcher Veränderung trafen die Ereignisse plötzlich mit voller Wucht in unseren Zählern ein, sodass kein Zweifel mehr bestand, dass wir genau den richtigen Aufbau und genau das richtige Energiefenster getroffen hatten? Was war der kleine, aber entscheidende Unterschied zu den Wochen voller Frust und Verzweiflung, durch die wir uns bis dahin gekämpft hatten?

„Ich glaube, es war die Entscheidung, entgegen den damals akzeptierten theoretischen Modellen und Kalkulationen, die Energie der radioaktiven Ionen nicht weiter zu senken, sondern zu erhöhen.“

„Also habt ihr euch subversiv gegen die von oben indoktrinierte Meinung gestellt?“, fragt ein Student mit leicht verfilzten Haaren und platziert ganz und gar nicht subversiv seine ausgetretenen Schuhe vor sich auf dem Pult.

„Nun, in den Naturwissenschaften geht es weniger um Meinungen als um Theorien“, erkläre ich vorsichtig, was von dem Studenten mit einer abfälligen Handbewegung quittiert wird.

„Jedenfalls müssen sich Theorien im Gegensatz zu Meinungen in der Praxis bewähren oder anderenfalls entsprechend angepasst werden.“

„Und jetzt sag bloß, dass die großen Meinungsmacher an den Schaltstellen der Macht ihre Theorien einfach ändern, weil du etwas anderes gemessen hast.“ Der Typ lehnt sich demonstrativ zurück und verschränkt die Arme.

Ein junger Mann mit gestreiftem Baumwollhemd und akkuratem Kurzhaarschnitt verdreht die Augen. Eine Gruppe älterer Herren schmunzelt, und ich kann sehen, dass Steffen Berg sich bemüht nicht zu lachen. Auch ich kann mir ein Grinsen kaum verkneifen. Denn ehrlich gesagt, hat der Fragesteller nicht ganz Unrecht. Die Bereitwilligkeit, eine bis dahin allgemein anerkannte Theorie um einen kleinen, aber sehr wichtigen Term zu ergänzen, war damals wirklich nicht überall zu spüren. John und vor allem George mussten sich auf diversen Konferenzen von Lauri Korhonen und seinen Mitstreitern einiges an Kritik gefallen lassen, auch wenn heute natürlich niemand mehr darüber spricht.

„War es Ihr Vater, der die Theoretiker am Ende überzeugen konnte?“, fragt ein bebrillter Student in frisch gebügeltem Hemd, der unsere Verwandtschaftsbeziehung wahrscheinlich gerade mithilfe seines neuen Tablets recherchiert hat.

„Auf jeden Fall hat mein Vater die bestehende Theorie entsprechend erweitert und eine mathematisch fundierte Grundlage dazu entwickelt“, antworte ich, als Borsing zu mir tritt.

Mit der Autorität eines Anwalts verkündet er, dass er sich sehr über das rege Interesse des Publikums freue, aber befürchte, wenn er jetzt nicht schließe, von mir wegen Vertragsbruchs verklagt zu werden. Denn er hätte für meine Verpflegung zu sorgen, und wenn wir nicht bald im Restaurant einträfen, würde unsere Tischreservierung gewiss storniert werden. „Ich glaube, Frau Doktor Glanz hat nun die meisten Fragen beantwortet.“ Er beginnt demonstrativ zu klatschen. Eine junge Frau drückt ihm einen Blumenstrauß in die Hand, den er mir strahlend überreicht. „Vielen Dank für diesen wunderbaren Vortrag und auch für ihre Geduld in der Fragestunde“, fügt er ohne Mikro hinzu und geleitet mich geschickt durch eine Hintertür hinaus zum wartenden Wagen.

Während Nils meine Blumen auf der Rückbank verstaut und den Wagen vom Campus steuert, stelle ich irritiert fest, dass ich mich gar nicht von Steffen verabschiedet habe.

Kurze Zeit später erreichen wir das Hotel, und mir stockt der Atem. Es ist wirklich ein Schloss, ein riesiges altes Anwesen umgeben von einem Park und einer Golfanlage. Fünf Sterne mindestens. Gut, dass die Kosten für die Unterkunft vom Veranstalter getragen werden.

Nachdem Nils sich persönlich davon überzeugt hat, dass es bei der Reservierung kein Missverständnis gegeben hat und ich schließlich meinen Zimmerschlüssel in der Hand halte, verabschiedet er sich formvollendet mit einer leichten Verbeugung und macht sich auf den Weg zu seinem Auto. Für einen Moment stehe ich unschlüssig in der Eingangshalle. Während ich die geschmackvollen Blumenarrangements bewundere, fällt mir ein, dass mein eigener Strauß immer noch in Nils Wagen liegt. Nun gut. Ich hätte die Blumen ohnehin nicht auf die weitere Reise mitnehmen können. Hoffentlich hat Nils eine bessere Verwendung für sie.

Endlich im Zimmer streife ich die Pumps ab, die ich für diesen Anlass extra aus der hintersten Ecke meines Schranks gekramt habe und springe übermütig auf das gigantische Bett. Meine Füße schmerzen von den engen Schuhen, und ich bin müde. Aber der Tag hat sich gelohnt. Und damit meine ich nicht nur den Vortrag. Mein Hotelzimmer ist umwerfend. Ich habe ein riesiges Himmelbett mit einem geblümten Überwurf, dessen Muster sowohl zum Stoff des Betthimmels als auch zu den Vorhängen passt. Der Teppich ist fast noch flauschiger als die Handtücher im Bad, und die Badewanne ist der Hammer. Während ich meine E-Mails checke, lasse ich Wasser ein. Bis zum Abendessen ist noch ein wenig Zeit.

Ich habe noch nie einen Raum gesehen, der so schön ist wie der Saal, den dieser Borsing für heute Abend für Mel und seinen Club reserviert hat. Ehrlich!

Aber der Typ ist echt komisch. Ich kann ihn nicht einordnen. Nils hat die ganze Fahrt vom Bahnhof zur Uni mit so viel Respekt von DOKTOR Borsing gesprochen, dass ich schon Angst hatte, wir würden gleich auf eine Art Gott treffen. Wenn man diesen Borsing dann sieht, ist er aber zum Glück doch nur ein ganz normaler Mensch, der etwas zu viel Rasierwasser verwendet und einen kleinen Bauch vor sich her schiebt. Er sieht auch gar nicht streng aus, sondern lächelt ständig, ich meine, permanent, so als käme er direkt aus einer Werbung für Zahnseide. Nur ist er der totale Kontrollfreak. Er hat alles von vorne bis hinten geplant. Eigentlich gruselig, aber egal. So ein Dinner, wie er es nennt, kann er gerne noch einmal für uns organisieren. Außerdem behandelt er Mel wie eine Königin. Und das finde ich dann doch nett an ihm.

Nils ist leider nicht dabei. Deswegen ist es jetzt Borsing, der Mel in Empfang nimmt, ihr den Stuhl zurechtrückt und dafür sorgt, dass ihr Glas gefüllt ist.

Wir sitzen auf alten, aber unglaublich bequemen Stühlen, die an einem langen Tisch stehen. Über uns baumelt ein glitzernder Kronleuchter, auf dem Tisch stehen echte Kerzen. Alle Geräusche sind gedämpft, denn der ganze Saal ist mit dunkelrotem Teppich ausgelegt. Sogar an der Wand hängt ein Teppich mit einem riesigen Bild. Ich komme mir vor wie eine Prinzessin. Das Essen ist super lecker. Dabei hätte ich nie gedacht, dass ich so etwas wie ,Entenleber auf Pflaumenjus an einem Gratin von jungen Bataten‘ oder ,Lachstartar im Teigmäntelchen in einem Nest von frischen Kräutern‘ mag. Wirklich, die Gerichte klingen, als hätte der Koch Literatur studiert. Aber wenn man sie probiert, weiß man, dass er zumindest nebenbei in einer guten Küche gejobbt haben muss. Unser Kontrollfreak hat das Menü schon vorab bestellt, sonst wären wir vor lauter Lesen und Auswählen wahrscheinlich verhungert. Denn auch wenn die Namen der Speisen ziemlich lang sind, sind die Teller eher leer. Zum Glück gibt es viele Gänge, sodass jetzt alle satt und zufrieden in die Runde schauen. Eigentlich gucken die meisten Mel an.

Sie hat ganz rote Wangen. Ich glaube, sie weiß schon gar nicht mehr, wie viel Wein sie getrunken hat, denn Borsing füllt ihr Glas immer wieder auf, sobald es nur halbleer ist. Mir ist schon ganz schwummrig. Bei dem ganzen Sekt zur Begrüßung, Aperitif am Tisch, Weißwein zum Fisch, Rotwein zum Wild und so weiter habe ich die Übersicht verloren. Als endlich der Nachtisch kommt, eine Variation aus weißer und brauner Mousse auf einem Fruchtspiegel von Beeren der Saison, da bin ich froh, dass Mel endlich einen Kaffee bestellt, also einen ganz normalen Kaffee meine ich, ohne Schnickschnack, nur mit Milch.

Das Gespräch dreht sich schon den ganzen Abend um Astrophysik. Borsing will alles wissen, wie Sterne Energie produzieren, wie die Elemente bis zum Eisen entstanden sind und auch die darüber. Kaum hört er mit dem Fragen auf, um vielleicht einen Löffel Schaumsüppchen von irgendwas zu essen, fällt jemand anderem garantiert eine neue Frage ein.

Mel ist glücklich. Ich glaube, sie freut sich über das Interesse an ihrem Fach. Mit leuchtenden Wangen erzählt sie vom CNO-Zyklus und der pp-Kette, mit deren Hilfe Sterne wie unsere Sonne Energie gewinnen. Sie zeigt mit den Händen, wie ein Roter Riese am Ende seines Sternenlebens pulsiert und schließlich explodiert. Ich glaube, die anderen Gäste, also die Mitglieder des Lions Clubs, sind alle total begeistert. Auch ihre Augen leuchten. Aber vielleicht liegt das nur an dem schönen Kerzenlicht, das sich in ihren Pupillen spiegelt, oder am Wein, von dem alle ganz schön viel getrunken haben.

Und das alles haben Sie herausgefunden?“, fragt die Dame mit dem blauen Kostüm, die eben schon im Hörsaal dabei war.

Oh nein, natürlich nicht. Nicht ich allein. Die Nukleosynthese, so nennt man diese Form der Energie- und Elementproduktion in der Fachsprache, ist schon seit den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts in der Theorie bekannt. Das heißt, Eddington hatte die Idee, dass Kernfusion, genau genommen die Fusion von Wasserstoff zu Helium, ein Energielieferant im Inneren eines Sterns sein könnte. Aber erst 1957 veröffentlichte Willy Fowler mit ein paar Kollegen erste quantitative und damit im Prinzip überprüfbare Berechnungen. 1983 bekam er dafür den Nobelpreis. Das Problem ist, dass wir die stabilen Brennphasen der Sterne ganz gut beschreiben können, doch in explodierenden Systemen sehr kurzlebige Isotope den Hauptanteil an den Reaktionsraten tragen. Das ließ sich bislang unter Laborbedingungen nur bedingt nachmessen.“

Die Frau lächelt Mel an. „Ich fürchte, jetzt haben Sie mich verloren“, sagt sie und winkt ab, als Mel sich dafür entschuldigen will. „Oh nein, das ist nicht schlimm. Ich habe heute so viel Neues gelernt. Vielen Dank dafür. Es war ein ganz wundervoller Abend.“

Das stimmt“, pflichtet Borsing ihr bei.

Auch die anderen am Tisch murmeln ihre Zustimmung. Nur ein Mann mit Hornbrille, der schon den ganzen Abend immer wieder so komisch zu Mel herüber geschaut hat, beugt sich vor.

Aber sagen Sie mal ehrlich, Frau Dr. Glanz. Ist es nicht ungewöhnlich, dass zwei der drei Nobelpreisträger innerhalb weniger Wochen sterben?“

Mel, die sich gerade einen Löffel Dessert in den Mund schiebt, starrt ihn an und sackt dann in sich zusammen wie die Mousse.

Was willst du denn damit sagen, Karl-Peter?“, fragt ein älterer Herr mit weißem Schnauzer und tiefer Stimme.

Ich verstehe auch nicht, was Sie meinen“, flüstert Mel.

Nun es ist auffällig. Da fragt man sich, ob es, sagen wir mal, mit rechten Dingen zugegangen ist.“

Nun ist aber gut, Karl-Peter“, brummt der Schnauzbart. „"Du willst doch wohl nicht sagen, dass die beiden ermordet wurden, oder?“

Nein“, ruft Mel mit aufgerissenen Augen.

Und ich weiß, dass sie über diesen Gedanken wirklich entsetzt ist. Mel ist so. Sie ist viel zu nett für diese Welt. Sie glaubt immer nur an das Gute in jedem. Sie ist vielleicht ein bisschen naiv. Und der ganze Wein heute Abend hilft auch nicht gerade.

Aber ich bin jetzt wirklich wütend. Nicht auf Mel natürlich, sondern auf diesen Karl-Peter. Was fällt ihm ein? Am liebsten würde ich ihm in seinen Fruchtspiegel spucken. Zum Glück muss ich das nicht, denn nun schaltet sich Borsing ein.

Ich bin mir sicher, dass die Polizei das bereits untersucht hat“, sagt er ganz ruhig. Sein Mund lächelt, aber seine Augen gucken Karl-Peter streng an.

Um ehrlich zu sein, wurde gar nichts untersucht“, unterbricht ihn Mel. Dabei wünschte ich, sie würde jetzt einfach mal nichts sagen. Stattdessen fährt sie fort: „Warum auch? Rüdiger starb an einem akuten Leberversagen. Und woran George gestorben ist“, Mel zögert und runzelt verunsichert die Stirn. „Offen gestanden, weiß ich es gar nicht. Ich nehme an, es hatte eine ganz natürliche Ursache. Sie waren zwar beide noch nicht sehr alt. Aber …“

Genau. Es gibt solche Zufälle“, springt die Frau im blauen Kostüm Mel zu Hilfe. „Meine Schwiegereltern sind beide innerhalb von nur einem Monat gestorben. Willst du mich jetzt auch des Mordes verdächtigen?“ Sie lacht laut und zwinkert Karl-Peter zu, als hätte sie einen Spaß gemacht.

Nein, nein, natürlich nicht“, winkt er ab.

Ich kann sehen, dass er am liebsten mit dem Teppich an der Wand verschmelzen würde. Von mir aus dürfte er das gerne tun oder sich in Luft auflösen. Das ist mir egal. Hauptsache, er lässt Mel in Ruhe.

Ich glaube, Borsing hat jetzt ebenfalls die Nase voll. Er schaut Mel an. „Ich denke, es war für uns alle ein langer und überaus faszinierender Tag. Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie stellvertretend für Ihren verstorbenen Chef unserer Einladung nachgekommen sind. Kann ich Ihnen zum Abschluss noch etwas anbieten? Die Auswahl an Digestifs ist außerordentlich. Es gibt hier einen 30 Jahre alten Tawny Port, den ich nur empfehlen kann, vorausgesetzt natürlich Sie mögen Portwein.“

Mel lächelt scheu. „Das klingt wirklich wunderbar. Aber ich glaube, für heute Abend habe ich genug getrunken.“

Die anderen Mitglieder des Clubs schließen sich ihr an, sodass sich Borsing erhebt und das Essen ganz offiziell beendet.

Auf dem Weg zum Ausgang drängt sich dieser Karl-Peter noch einmal an Mel heran. „Ich hoffe, Sie haben mich eben nicht missverstanden“, nuschelt er. „Ich wollte Sie natürlich nicht verdächtigen. Sie ganz gewiss nicht.“ Dabei betont er das Sie so, dass ich mich frage, wen er denn lieber verdächtigen würde. „Ich habe nur gemeint …“

Mel schaut ihn fragend an.

Ach, nichts.“ Er streckt Mel seine Hand hin. „Es war auch für mich ein sehr unterhaltsamer und interessanter Abend. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.“

Vielen Dank für die Einladung“, erwidert Mel sofort und nimmt die Hand an, als wäre damit alles vergessen. Sie ist eben zu nett.

Ich koche noch ein Weilchen vor mich hin. Karl-Peter soll sich schön vorsehen. Aber der geht mit den anderen nun hinaus zu den Autos.

Damit ist der Tag endlich vorbei. Nachdem Mel sich verabschiedet hat, nehmen wir den Fahrstuhl hoch zu unserem Zimmer und lassen uns wie echte Prinzessinnen auf das riesige Himmelbett fallen.

Neondunkel

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