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Mittwoch, 10. Dezember

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Aus dem alten Fernsehapparat spielt eine unbeschwerte Melodie von Wolfgang Amadeus Mozart. Ich weiß nicht, welches Stück es ist, aber es gefällt mir. Es unterstreicht die feierliche Atmosphäre im Stockholmer Konserthuset. Die Kamera fährt über die mit einem dicken, blauen Teppich ausgelegte Bühne, und ich erkenne die langen Stuhlreihen mit den Honoratioren, allesamt Mitglieder der schwedischen Akademie der Wissenschaften. Links von ihnen sitzen die Preisträger, und vorne rechts thront die schwedische Königsfamilie. Aber was mich am meisten beeindruckt, ist der üppige Blumenschmuck. Entlang des Podests, auf der Wand hinter der Bühne und an der Balustrade darüber hängen riesige, gerahmte Bilder aus frischen Blüten. Es müssen Zigtausende sein. Ich frage mich, wie sie riechen. Doch die Kamera schwenkt bereits von ihnen weg, über den Saal, wo nicht ich, sondern andere den Duft der Blumen einatmen und der Musik lauschen. Ich sehe Frauen in festlichen Kleidern mit funkelnden Diamanten im Haar und Männer in schwarzen Smokings. Trotz all des Prunks, oder gerade deswegen, bin ich froh, dass ich hiergeblieben bin.

Natürlich hat mich Rüdiger sofort gefragt, ob er mir eine Einladung zur Feier und auch für das große Bankett im Anschluss besorgen soll. Doch ich habe abgelehnt. Selbstverständlich bin ich stolz auf unsere Arbeit. Daran liegt es nicht. Nur mag ich dieses Spektakel nicht, die Show. Ich habe bei solchen Ehrungen das Gefühl, das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. Einige wenige werden ausgewählt, ihnen wird applaudiert, gratuliert, sie werden mit Medaillen und auch mit Geld überhäuft. Doch was ist mit den anderen? Ist ihre Arbeit weniger wert?

Der Fernsehkommentator erklärt für die Zuschauer noch einmal, welche herausragende Leistung unser Experiment darstellt. Unsere Ergebnisse hätten die Astrophysik neu geordnet. Das stimmt wahrscheinlich. Andererseits sind die Theorien, auf die wir uns damals beriefen, nicht vom Himmel gefallen. Sie waren das Resultat vieler kleiner Schritte, wie immer in den Naturwissenschaften. Yamakura in Japan hatte bereits ein ähnliches Modell zur Sternentstehung entwickelt. In Italien machten Roggero und Gialani fast identische Versuche. Allerdings hatten sie die Energie ihres Teilchenbeschleunigers etwas niedriger eingestellt, wodurch die natürliche Hintergrundstrahlung die Auswertung ihrer Ergebnisse erschwerte. Ist ihre Arbeit deswegen weniger wert? Die Tatsache, dass wir mit unserem Energiefenster genau eine Resonanz trafen, war reines Glück und lag letztendlich an den Eigenschaften der Ionenquelle, die ein begnadeter, aber namenloser Ingenieur entwickelt hatte, ohne die jedoch unsere Versuche undenkbar gewesen wären.

Das Orchester beendet die Darbietung, während sich der schwedische König von seinem Platz erhebt, um meinem Chef, Rüdiger Neuhaus, und unseren beiden Kollaborationspartnern, dem Kanadier George Kinsley und John Dalen aus den USA, den diesjährigen Nobelpreis für Physik zu überreichen.

Rüdiger tritt als Erster vor, um Urkunde und Medaille entgegenzunehmen. Im Frack kommt er mir beinahe fremd vor. Ich kenne ihn nur in verwaschenen Jeans und ausgetretenen Sandalen, in denen er durch das Labor streift, immer auf der Suche nach einer neuen Idee. Wie es scheint, kommt er sich in diesem Aufzug selbst komisch vor, dabei steht er ihm ganz gut. Offensichtlich hat seine Frau die Sachen maßschneidern lassen. Jedenfalls schmiegen sich das weiße Hemd, die helle Weste und der Frack sanft um seinen genussfreudigen Bauch. Nur die weiße Fliege hängt ein wenig schief.

Die Kamera zoomt heran, sodass ich das Gefühl habe, meinem Chef direkt ins Gesicht zu sehen. Seine Augen leuchten trotz seines Alters wie die eines Kindes. Er wirkt wie ein Lausbub, nicht wie ein renommierter Wissenschaftler. Ich glaube, am liebsten würde er dem schwedischen König zum Dank kumpelhaft auf die Schulter klopfen. Aber er beherrscht sich, schüttelt mit so viel Würde, wie er aufbringen kann, die königliche Hand und trottet nach kurzer Verbeugung zurück zu seinem Platz.

George, der als Nächster an der Reihe ist, sieht neben Rüdiger aus, als hätte er einen Stock verschluckt. Er ist kaum größer, allerdings deutlich sportlicher. Sein schmaler Frack sitzt wie angegossen. Natürlich ist seine Fliege perfekt ausgerichtet. Mit vor Stolz geschwellter Brust schreitet er zielstrebig auf den König zu, schüttelt ihm die Hand, verbeugt sich zackig in alle Richtungen und nimmt seinen Platz wieder ein.

John Dalen hingegen überstrahlt alle, einschließlich der Mitglieder des schwedischen Königshauses, mit seiner unglaublichen Würde. Obwohl er leicht gebeugt geht, überragt er jeden um mindestens einen halben Kopf. Sein volles, weißes Haar leuchtet im Licht der Scheinwerfer, um seinen Mund spielt ein Lächeln, und die blitzenden Augen verraten seinen Humor.

Ich merke, wie mir die Tränen in die Augen treten. Jetzt, wo ich meine drei Mentoren auf dieser besonderen Bühne sehe, ist alle Logik dahin. Ein Gefühl drängt sich in meinen Bauch, zieht sich darin zusammen und hinterlässt eine eigenartige Leere. Ist es Ehrfurcht? Alles erscheint plötzlich größer, bedeutsamer. Vielleicht ist dieser Preis doch wichtig, auch für mich und für uns alle, die wir nicht auf einer Bühne stehen. Vielleicht gibt er jedem von uns ein Stück Hoffnung. Hoffnung, dass unsere Arbeit anerkannt wird, dass alles einen Sinn ergibt, dass auch andere, Laien, den Wert unserer Anstrengungen zu schätzen wissen. Selbst wenn wir keine neue Energiequelle gefunden haben, nicht das Allheilmittel gegen Krebs oder die Weltformel, sondern man aufgrund unseres Experiments einfach nur ein bisschen besser versteht, wie alles begann, unser Sonnensystem, die Sterne und das gesamte Weltall. Dann war es all die Mühen wert, die durchwachten Nächte und die im Labor verbrachten Feiertage, den Frust und die Aufregung, den Kampf um die Geldmittel und gegen die allzeit drohenden Stellenstreichungen.

Die Kamera wendet sich wieder dem Publikum zu. Die meisten Gäste haben sich von ihren Plätzen erhoben und applaudieren Rüdiger, George und John, die strahlend, mit steifer Miene und einem leisen Lächeln auf den Lippen, jeder auf seine eigene Art, die heutige Ehrung genießen.

Ich kann nicht anders. Ich merke, dass mir die Nase läuft, meine Augen feucht werden und sich schließlich eine Träne löst. Zum Glück sieht mich niemand. Sonst müsste ich zugeben, dass ich tatsächlich gerührt bin.

Ich stehe direkt neben Mel, der in diesem Moment eine dicke Träne die Wange hinab kullert. Ich weiß nicht warum. Ich meine, natürlich weiß ich, dass Rüdiger, George und John gerade den Nobelpreis bekommen haben. Ich bin vielleicht erst acht Jahre alt, aber ich kriege trotzdem einiges mit. Nur warum Mel jetzt weint, das verstehe ich nicht. Es macht mich ganz unsicher. Ich kann sie ja nicht fragen. Normalerweise ist sie nicht so. Sie sagt immer, dass Preise nur Politik seien. Dass es viel zu viele gute Forscher und viel zu wenige Preise gibt. Ich finde, wenn jemand einen Preis, jeden Preis, selbst den Nobelpreis verdient hat, dann ist es Mel. Sie schuftet wie ein Esel. Wenn sie nicht wäre, würde hier alles drunter und drüber gehen. Das sagt sogar Rüdiger. Oft ist es nämlich Mel, die die Idee für ein neues Experiment oder eine Verbesserung des alten hat, obwohl Rüdiger der Chef ist. Mel ändert dann etwas am Aufbau, ohne groß darüber zu sprechen. Und wenn, dann tut sie so, als wäre es Rüdigers Idee gewesen.

Natürlich war es Mel, die zuerst den Einfall für das neue Experiment hatte. Sie hat einfach eine Skizze des Versuchsaufbaus mit ein paar mathematischen Berechnungen auf Rüdigers Schreibtisch vergessen. Am nächsten Tag hat Rüdiger den Zettel gefunden und war so begeistert, dass er allen davon erzählte. Irgendwann hat er vergessen, Mel zu erwähnen, sodass jetzt alle glauben, Rüdiger sei das Genie.

Was ich nicht verstehe, ist, dass es Mel egal ist. Manchmal glaube ich sogar, dass sie es extra macht. Denn sie schmunzelt nur, wenn Rüdiger ihr von ihrem eigenen Entwurf erzählt. So, als wäre genau das ihr Plan gewesen. Ich weiß, dass sie kein Rampenlicht mag. Sie will nur in Ruhe forschen, egal wer nachher die Lorbeeren einheimst. Sie ist glücklich, wenn das Experiment funktioniert und das Ergebnis stimmt. Aber warum weint sie dann jetzt?

Mel hat wohl genug gesehen, denn sie schaltet den Fernseher aus. Mir ist das egal. Die Preise für Chemie, Medizin und was es sonst noch so gibt, interessieren mich nicht. Ich lasse mich auf das Klappbett fallen, spiele an meinen Zöpfen und beobachte Mel. Hier, im Hinterzimmer unseres unterirdischen Labors, fühlen wir uns beide am wohlsten. Eigentlich ist diese Ecke mit dem abgetretenen Teppich und dem gelben Ohrensessel unser wahres Zuhause. Es gibt einen wackligen Tisch, ein paar alte Hocker, ein Regal mit Büchern und einer Sammlung bunter Kaffeebecher. In der Ecke balanciert ein alter Schreibtisch auf drei Beinen, das vierte ist etwas kürzer als die anderen und muss mit einem dicken Stück Kupferrohr gestützt werden. Das ist aber nicht schlimm. Es funktioniert ja und ist viel gemütlicher, als wenn alles neu und perfekt wäre. Ich liebe es, mit Mel in dem zerschlissenen Sessel zu sitzen und die neu erschienenen Fachartikel zu lesen oder bei einer Tasse Kaffee über einer neuen Idee zu brüten. Wenn besonders viel zu tun ist, schlafen wir sogar auf dem rostigen Klappbett unter dem Poster irgendeines Südseehotels, das ein ehemaliger Student einmal an die Betonwand geklebt hat, wie ein Fenster nach draußen.

Echte Fenster gibt es nämlich nicht. Die Wände und Stahltüren schirmen nicht nur die radioaktive Strahlung nach außen ab, sondern schützen uns umgekehrt auch vor der Welt da oben. Niemand, der nicht zur Forschungsgruppe gehört, kommt hier hinab. Ich glaube, die meisten Menschen wissen nicht einmal, dass unser Labor überhaupt existiert. Es liegt fern des üblichen Uni-Rummels. Handys funktionieren hinter den dicken Mauern nicht. Selbst unsere Sorgen und Probleme bleiben einfach zurück.

Wenn Mel und ich in den Fahrstuhl steigen und hinab in unsere Höhle fahren, ist es jedes Mal, als würden wir uns verwandeln. Oben ist Mel schüchtern und leise. Doch schon im Fahrstuhl blüht sie auf. Sie bewegt sich anders, aufrechter, und sie weiß genau, was sie will und was sie dafür tun muss. Denn im Labor ist alles einfach. Es gibt keinen Tag und keine Nacht. Keine Hitze, keine Kälte und keine Albträume. Die Neonröhren scheinen rund um die Uhr und erhellen jeden Winkel. Keine Nische bleibt im Dunkeln. Die vor sich hin surrenden Pumpen halten die Räume schön warm, egal ob draußen die Sonne brennt oder ein Eissturm wütet. Es gibt keine Überraschungen und nichts Böses, das hinter einer Ecke lauert. Alles ist warm und hell und freundlich und genauso, wie es sein soll.

Im Labor dreht sich die Welt nur um das Experiment. Ist der Ionenstrahl fokussiert? Sind die Detektoren gekühlt und eingestellt? Das ist alles, was zählt. Wenn das Experiment läuft, wird hier sogar gekocht, gegessen und im Wechsel geschlafen. Alle arbeiten zusammen, und jeder hat seine Aufgabe. Denn Mel ist da. Sie macht die Pläne, teilt die Schichten ein und bestimmt, wer wofür verantwortlich ist.

Mel und ich fühlen uns hier sicher. Denn hier unten ist unser Leben kontrollierbar.

Mel schält sich aus dem Sessel. Ich glaube, sie will ins Bad. Doch weil sie so traurig ist, mache ich mir Sorgen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Also folge ich ihr.

Der Weg zum Klo führt von unserer Ecke aus quer durch den Kontrollraum. Weil es immer etwas unordentlich ist, wirkt der Kontrollraum auf Fremde vielleicht nicht gemütlich. Aber das ist alles nur oberflächlich. Wer genauer hinschaut, erkennt die Ordnung darunter. An der einen Seite des Raumes steht eine Art übergroßer grün-beigefarbener Schrank. Es ist natürlich kein gewöhnlicher Schrank, sondern die Kontrolleinheit, mit der man den Teilchenbeschleuniger steuert. Sie sieht aus, als stamme sie direkt aus einem alten Scifi-Film, mit unzähligen Skalen und Zeigern. Irgendwelche Lämpchen blinken immer. Es kommt darauf an zu wissen, welche blinken sollen und welche nicht. Sonst muss man an den Rädchen und Schaltern nachsteuern und die schwarzen Zeiger mit Geduld und ein bisschen Geschick zurückbewegen, bis alles wieder seine Ordnung hat. Viele lernen das nie. Aber Mel ist echt gut darin.

Von der Kontrolleinheit aus winden sich lange Kabel wie schwarze Schlangen über den gesamten Boden, sie klettern die Tische hoch, wo sie unter Stapeln mit zerfledderten Büchern und vergilbten Blättern verschwinden, um zwischen halbvollen Kaffeetassen und staubigen Aktenordnern wiederaufzutauchen. Von dort schlängeln sie sich ein Tischbein hinab, wieder über den Boden und um einen klapprigen Bürostuhl herum, der völlig vergessen mitten im Raum steht. Schließlich enden sie hinter einem Pult mit vier Flachbildschirmen. Die Bildschirme sind die große Neuanschaffung des letzten Jahres und überragen das Durcheinander wie stolze Berggipfel. Sie thronen über Blöcken mit hektisch hingekritzelten Notizen, über achtlos liegengelassenen Laborhandschuhen und einer leeren grünen Blechdose, in der jemand vor ein paar Wochen Kekse mitgebracht hat. Wahrscheinlich müsste man mal aufräumen. Aber wenn gearbeitet wird, kommt das Chaos sowieso innerhalb weniger Stunden zurück. Und wenn hier nicht gearbeitet wird, stört es eh keinen.

Im Moment ist der Kontrollraum leer. Wahrscheinlich sind alle oben in ihren Büros. Mel öffnet die Glastür, die zum Gang führt, und ich muss mich beeilen, um sie nicht zu verlieren. Der Flur ist lang und schmal, er führt zwischen den Laborräumen entlang, in denen die eigentlichen Experimente aufgebaut sind, die dann vom Kontrollraum aus gesteuert werden. Am Ende geht es rechts in die Küche, aber Mel dreht sich nach links in den Vorraum, wo gegenüber dem Aufzug die Waschräume liegen. Sie betritt die Damentoilette, und ich schiebe mich hinter ihr durch die Tür.

Wie der Rest des Labors ist auch die Toilette nicht mehr ganz neu, aber es gibt alles, was man braucht: zwei Klos hinter dunkelblau gestrichenen Türen, einen angelaufenen Spiegel über einem großen Waschbecken, das schon seit Jahren einen Sprung hat, und sogar eine Dusche.

Mel lehnt sich gegen den Waschtisch und kühlt ihre Wangen. Bestimmt soll man nicht sehen, dass sie geweint hat. Als ich mich neben sie stelle und vorsichtig ihren Rücken streichle, schaut sie auf und betrachtet ihr Gesicht im Spiegel. Doch sie sieht wieder nur sich selbst. Mich beachtet sie nicht. Das tut sie nie. Mel hat keine Ahnung, dass es mich gibt, dass ich Anni heiße und sie begleite, ganz egal wohin sie auch geht. Denn ich bin unsichtbar.

Ich sitze da und starre wie betäubt auf den Monitor vor mir, auf dem sich ein unregelmäßiger Berg aus grünen Pixeln langsam, aber stetig über dem schwarzen Hintergrund erhebt. Ein etwas jüngerer und schlankerer Rüdiger Neuhaus wippt neben mir auf seinen Fußballen auf und ab.

Jetzt ist er dran“, jubelt er.

Ich bin mir nicht sicher, wen er meint. Den Punktehaufen auf dem Bildschirm? Lauri Korhonen, den alten Nörgler von der Universität in Uppsala? Oder den Fortschritt im Allgemeinen? Ich bin so müde, dass ich nicht mehr klar denken kann.

Es muss an der veränderten Energie liegen“, murmelt George neben mir. „Durch das Tunen hat sie sich verschoben. Hast du den aktuellen Wert gemessen, Mel?“

Ich nicke und schiebe ihm das Logbuch hinüber, in dem ich alle Änderungen seit gestern Morgen sorgfältig notiert habe.

Nur 12 keV mehr? Die Resonanz muss ungewöhnlich schmal sein“, überlegt er, und ich höre die unterdrückte Aufregung in seiner Stimme. Statt weiterzusprechen tippt er irgendetwas in seinen Taschenrechner.

Der Einzige, der wie immer Ruhe bewahrt, ist John. „Gut gemacht, Mel.“ Er schaut mich mit diesem väterlichen Blick an, einer Mischung aus Stolz und Zuneigung, und klopft mir sanft auf die Schulter. „Du hast den richtigen Instinkt, Mädchen. Ein guter Instinkt zählt mehr als alles Wissen der Welt.“

Dieser Peak könnte unsere Nadel im Heuhaufen sein“, zischt George.

Könnte sein? Sperr die Augen auf!“ Vor lauter Aufregung ignoriert mein Chef das Rauchverbot und reißt auch noch theatralisch beide Hände hoch, sodass die Asche seiner Zigarette erst durch den Raum wirbelt und schließlich in grauen Sprenkeln auf dem Tisch vor mir landet. „Nadel im Heuhaufen? Bist du blind? Das ist keine Nadel. Das ist ein Diamant. Ein Diamant im Sandkasten meinetwegen.“

Verdammt, Rüdiger!“ Georges Stimme klingt verärgert.

Vermutlich hat die Asche auch das Laborbuch beschmutzt. Jedenfalls wischt er vorsichtig die Seiten mit einem der Papiertücher ab, die er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit aus seiner Hosentasche zieht.

Aber Rüdiger lässt sich durch Georges Launen nie beirren, heute schon gar nicht. „Mel, du kannst einpacken. Damit haben wir deine Doktorarbeit sauber eingetütet. Wenn du das noch ordentlich auswertest, garantiere ich dir ein summa cum laude. Mindestens.“ Er strahlt über das ganze Gesicht. „Das ist mehr als eine Doktorarbeit. Diese Kurve wird die Welt verändern.“

Champagner für alle?“, fragt John lächelnd.

Wenn ich jetzt etwas trinke, klappe ich zusammen“, murmle ich. Auf einmal merke ich, wie müde ich bin. Seit wann bin ich im Labor? Seit gestern? Oder war es vorgestern? Ich weiß es nicht mehr. Ich bin so erschöpft, dass ich mich kaum noch auf dem Stuhl halten kann.

Es ist nur noch eine Dose Budweiser im Kühlschrank“, bemerkt eine Stimme hinter mir. Ich glaube, es ist George Kinsleys Techniker. „Das Mädchen gehört ins Bett. Ich schlage vor, dass die Herren Professoren die Tagschicht übernehmen. Dann fahre ich die junge Dame zum Guest House“, erklärt die Stimme entschieden. „Ist mir ein Rätsel, warum ihr dort ein Zimmer für sie gebucht habt, wenn ihr sie sowieso Tag und Nacht schuften lasst.“

Ich fühle mich plötzlich willenlos.

Mein Retter, ein junger, rothaariger Mann mit kurzem Zopf, streift die Handschuhe ab, die er für die Arbeit an den Vakuumpumpen getragen hat, und wirft sie in den Mülleimer. Er nickt George zu. „Bin gleich zurück“, sagt er und hilft mir, meine Sachen einzusammeln. „Sieht so aus, als würde deine Arbeit ein voller Erfolg werden. Habe die alten Herren lange nicht mehr so aufgeregt erlebt.“

Ich nicke und trotte dankbar hinter ihm her. Kaum bin ich in seinem Auto, fallen mir die Augen zu.

Pling! Ich muss eingeschlafen sein. Als ich aufwache, sitze ich im alten Ohrensessel unserer Leseecke. Ich habe geträumt. Rüdiger, George und John waren da. Und noch jemand. Ich weiß nicht mehr wer. Es ging um meine Doktorarbeit.

Was hat mich geweckt? Ein Geräusch? Pling! Da ist es wieder. Es kommt von meinem Laptop. Verschlafen hebe ich mich aus dem Sessel, tappe zum Schreibtisch hinüber und lasse mich auf den Drehstuhl fallen. Als ich den Bildschirm öffne, fällt mein Blick auf die Zeitanzeige. 19.35 Uhr! Es ist viel später, als ich dachte.

Pling! Das blaue Skype-Symbol leuchtet auf dem Display. Jemand versucht, mich zu kontaktieren. Es kann nur meine Schwester sein. Besser, ich nehme den Anruf an.

Kaum habe ich auf den grünen Button geklickt, als ihr Gesicht vor mir aufleuchtet. Sie sieht durchgefroren aus, mit roter Nase und ebenso roten Wangen. Ihre dicken Haare kräuseln sich zu braunen Korkenzieherlocken, in denen feine Wassertröpfchen leuchten. Ihre blauen Augen mit den langen, dunklen Wimpern strahlen. Jeder ist von diesen Augen begeistert. Auch ich habe blaue Augen und braune Haare. In der trockenen Laborluft hängen sie unspektakulär hinab, sodass ich sie meist zu einem Pferdeschwanz zusammenbinde, und ich bezweifle, dass meine Augen so leuchten.

„He, wie geht’s dir?“, frage ich und rechne kurz nach. „Müsstest du um diese Zeit nicht in der Praxis sein?“

Kati lacht. „Ich komme gerade von einem Hausbesuch. Rate mal, wer heute Morgen mein erster Patient war.“

Das ist typisch Kati. Woher soll ich wissen, bei wem sie gerade Hausbesuche macht?

„Justin Bieber?“, frage ich ohne große Hoffnung. Immerhin ist er Kanadier.

Zum Glück muss ich nicht lange raten, denn Kati hat ihr Spielchen schon satt. „Hamiltons Kuh! Ich habe gerade ihr Kalb auf die Welt gebracht!“ Sie schüttelt ihre Haare, sodass die Wassertropfen auf die Kamera ihres Rechners spritzen und ihr Bild vor mir verschwimmt.

„Ein Kälbchen?“

Kati wischt mit dem Ärmel über die Linse. Jetzt sehe ich sie in Streifen. „Jap, Jeff Thompson ist nicht da. Er besucht seine Eltern an der Westküste. Deswegen hat der alte Hamilton angerufen und gefragt, ob ich einspringen würde.“

„Jeff Thompson, der Tierarzt?“

„Genau. Das Kleine kam in Steißlage. Da brauchte die Mutter Hilfe.“

„Die Kuh?“

Kati grinst verschwommen. „Was bist du heute so schwer von Begriff? Natürlich die Kuh! Jedenfalls musste ich nach Hause und duschen, bevor ich mich um meine zweibeinigen Patienten kümmere. Und da dachte ich, ich könnte mich eben bei dir melden und zum Fast-Nobel-Preis gratulieren.“

„Das hast du schon.“

„Das war doch schon im Oktober. Wurde der Preis nicht heute verliehen?“

„Vor ein paar Stunden.“

„Dass du dir das entgehen lässt.“ Kati lacht wieder. „Es gab sogar einen Artikel im Northern Journal.“

„Wo?“

Kati fuchtelt mit der Hand. „Ach, das Northern Journal ist so was wie unsere Lokalpresse.“

„Ein Nest wie Fort Smith hat eine eigene Zeitung?“

„Okay, sie deckt den ganzen Norden ab. Aber das Büro ist tatsächlich ganz in der Nähe meiner Praxis.“

„In Fort Smith ist alles in der Nähe von irgendwas“, stelle ich sachlich fest.

„Das stimmt. Und wir interessieren uns in unserem Nest sogar für den Rest der Welt. Nur umgekehrt funktioniert das nicht.“

„Ich freue mich zu hören, dass man selbst in Fort Smith über die Verleihung der Nobelpreise berichtet.“

„Na ja, vielleicht nicht jedes Jahr“, lenkt Kati ein. „Aber wo doch auch ein Kanadier geehrt wurde …“

„George Kinsley.“

„Ja, genau der. Egal. Hauptsache, dir geht es gut.“

„Tut es“, brumme ich und muss nun auch lachen. „Du hast übrigens Streifen im Gesicht.“

Kati ignoriert meinen Hinweis und plappert weiter. „Ich wollte dir eigentlich erzählen, dass das Aurora College dringend einen neuen Lehrer für Naturwissenschaften sucht.“

„Ich dachte, du wolltest gratulieren.“

„Ja, auch. Also, wenn du magst, könnte ich der Leiterin der Education and Training Division mal von dir erzählen. Angela ist eine Freundin von mir …“ Kati lässt die Worte in der Luft hängen, während sie sich mit den Händen durchs Gesicht wischt. „Bin ich jetzt wieder streifenfrei?“

„Ich fürchte, du wirst die Kamera an deinem Computer reinigen müssen“, sage ich, ohne auf ihre eigentliche Frage einzugehen.

Nichts kann mich dazu bewegen, mein Leben und meine Forschung aufzugeben, um irgendwo in einem abgelegenen kanadischen Kaff verschlafenen Teenagern Mathe und die Hauptsätze der Thermodynamik beizubringen. Soll sie da oben glücklich sein. Ich gehöre in ein richtiges Labor.

„Wie geht es Papa?“, fragt Kati. Plötzlich ist das Strahlen in ihren Augen verschwunden.

Wahrscheinlich ist das die eigentliche Frage, die sie mir stellen wollte. Sie sitzt 6.500 Kilometer entfernt und kaut an ihren Fingernägeln wie früher, wenn sie Papa gestehen musste, dass sie nur eine Zwei in der Mathearbeit geschafft hatte, während ich wie immer eine Eins nach Hause brachte. Ich weiß, dass sie verletzt ist. Aber ich weiß nicht, wie ich sie trösten kann. Wenn ich ihr sage, dass Papa sie liebt und sich schon wieder einkriegt, irgendwann jedenfalls, glaubt sie mir sowieso nicht. Daher schweige ich und zucke nur mit den Schultern.

Als Mel die Tür zum Labor abschließt, ist es fast acht Uhr abends, eigentlich noch früh. Aber nächste Woche soll unser neues Experiment starten. Dann geht es wieder richtig los. Deshalb können wir heute ruhig etwas kürzertreten.

Auf der Straße zieht Mel ihre Schultern ein und klappt den Kragen ihres Wintermantels hoch. Dabei ist es gar nicht kalt. Es ist sogar ziemlich schön hier draußen, denn der erste Schnee wirbelt durch die Luft und weht um die hohen Häuserblöcke der Bochumer Ruhr-Uni. Er taucht das ganze Grau in eine wunderbar märchenhafte Welt. Die weißen Flocken schlucken alle Geräusche. Aber um diese Zeit ist sowieso niemand mehr unterwegs. Es gibt nur uns beide. Ich hüpfe neben Mel her und versuche, so viele Schneeflocken wie möglich mit meiner Zunge einzufangen. Dabei schaue ich mir die bunten Lämpchen an, die in einigen Fenstern des Physikgebäudes blinken. Es gibt rote Weihnachtssterne, weiße Lichterketten und grüne Tannenbäume. Hinter einer Scheibe springt ein blau schimmerndes Rentier mit roter Nase im Takt der Lämpchen auf und ab. Vermutlich ist das Tim und Ollis Büro. Auf jeden Fall passt die Deko zu ihnen. Ich mag die beiden. Sie sind Mels Doktoranden. Wenn sie nicht gerade arbeiten, hecken sie immer irgendeinen Blödsinn aus. Mel mag sie auch. Sie grinst, als ihr Blick auf das blinkende Rentier fällt.

Doch dann höre ich plötzlich eine Stimme, bei deren Klang es mir eiskalt den Rücken hinabläuft. Ich fühle, dass mein Körper erstarren will. Aber das hilft uns ja nicht. Die Stimme ist weit entfernt. Vielleicht hat Mel sie nicht gehört, denn sie hat gerade die Schlüssel zu unserem Wagen aus der Tasche gekramt. Vielleicht haben wir Glück. Also reiße ich mich zusammen und zwinge mich dazu, mich nicht umzudrehen, sondern schaue weiter hinauf in die Unendlichkeit der fallenden Flocken. Ich tue so, als wäre nichts gewesen, setze einen Fuß vor den anderen und hoffe mit aller Kraft, dass Mel mir folgt. Aber ich spüre, wie Mel neben mir zögert. Auch sie hört die Schritte hinter uns. Schnelle, schwere Schritte, unter denen der frische Schnee knirscht. Sie kommen näher. Und wieder ruft ER ihren Namen.

Ich versuche, Mel am Mantel vorwärts zu ziehen. Ich dränge sie weiterzugehen, sage ihr, dass mir kalt ist, dass wir doch zum Auto gehen wollten und uns beeilen müssen. Aber sie hört mich nicht. Natürlich nicht. Das tut sie ja nie. Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, bleibt Mel mitten auf der Straße stehen und dreht sich um.

Schnell grabe ich meinen Kopf tief in die Falten ihres Mantels und klammere mich ganz fest an sie. Ich mache mich klein, ganz klein, so klein, wie ich nur kann, und verstecke mich hinter ihrem Rücken. Doch seine Stimme ist da und lässt sich nicht ausschalten.

Kommst du zum Sektumtrunk?“

Ich werde mich wohl nicht drücken können“, höre ich Mel antworten.

Das solltest du auch nicht. Es ist dein Preis.“

Mels Mantel hebt sich leicht und senkt sich wieder, wahrscheinlich zuckt sie mit den Schultern. Ich weiß, dass sie keine Lust hat. Aber sie kann ihm nicht ausweichen. ER will, dass sie kommt, also wird sie gehen. So ist es immer.

Wir sehen uns übermorgen.“ Seine Worte klingen bestimmt, aber leiser, wie von weiter weg.

Vorsichtig blinzle ich um den Mantel herum, bis ich ihn sehe. ER steht ein Stück von uns entfernt, eine aufrechte, bedrohliche Gestalt. Als ER seine rechte Hand hebt, zucke ich zusammen. Aber ER winkt nur.

Neondunkel

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