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Freitag, 12. Dezember

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Der Empfang im Veranstaltungszentrum unter der Mensa ist schrecklich überlaufen. Wie ich erwartet habe, wollen alle dabei sein, wenn die Universität ihren frisch dekorierten Nobelpreisträger willkommen heißt. Ich erkenne mehrere Lokalpolitiker, zwei emeritierte Professoren, die sonst nur noch selten in ihren Büros auftauchen, und sogar eine Darstellerin vom Bochumer Schauspielhaus. Jeder, der auch nur entfernt mit der Hochschule zu tun hat, ist gekommen. Nur Rüdiger sehe ich nicht.

Unter den schwatzenden, lachenden und erregt diskutierenden Menschen fühle ich mich verloren und fehl am Platz. Ich zwänge mich an einem smarten Herrn in schwarzem Kaschmirpullover und einer stark geschminkten Dame in Kostüm und hohen Pumps vorbei, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Wahrscheinlich Geisteswissenschaftler. Es ist eng und fürchterlich heiß. Ich bin froh, eine einfache Hemdbluse zu tragen, die ich heute Morgen in aller Eile aus dem Schrank gefischt habe. In meinen üblichen Sweatshirts wäre ich völlig underdressed. Meine quietschgrünen Sneaker passen allerdings nicht zum restlichen Outfit. Aber sie sind bequem, und in dem Gedränge achtet hoffentlich niemand auf meine Füße.

Endlich entdecke ich zwei bekannte Gesichter. Olli und Tim haben auf der anderen Seite des Saals, direkt neben dem kalten Buffet, Stellung bezogen. Als er mich sieht, hebt Olli sein Bierglas zum Gruß und schiebt sich mit der anderen Hand ein Kanapee in den Mund. Tims blonde Haare sind wie immer etwas zerzaust. Ich frage mich, ob er sich morgens nicht bürstet oder seine Haare bewusst strubbelig föhnt. Ich vermute Letzteres. Jetzt winkt er mir begeistert zu und formt mit den Lippen das Wort Freibier. Ich muss unwillkürlich grinsen und will mich gerade zu den beiden durchkämpfen, als mich etwas Hartes in den Rücken trifft.

„Au!“, rufe ich, drehe mich um und stehe einem Mann mit strähnigen, halblangen Haaren und Lederjacke gegenüber.

„Ich darf mal“, schnarrt er und will sich und seine klobige Spiegelreflexkamera ohne irgendein Wort der Entschuldigung an mir vorbeischieben. Doch in diesem Moment landet eine Hand auf seiner Schulter.

„Ich muss doch bitten“, sagt eine Stimme mit so viel Autorität, dass der Reporter irritiert aufschaut.

„Und Sie sind …?“, fragt er.

„Jochen Glanz. Professor für Theoretische Astrophysik.“

Offenbar wittert der Mann eine Chance, denn er atmet anerkennend aus und zückt seinen Block. „Dann kennen Sie bestimmt diesen Neuhorst. Erzählen Sie mal. Wie ist der denn so unter Kollegen?“

„Neuhaus! Professor Rüdiger Neuhaus. N, E, U, H, A, U, S.“ Die Härte im Tonfall ist nicht zu überhören und erzielt sofort den gewünschten Effekt.

Der Pressemann räuspert sich verlegen. „Meine ich ja“, nuschelt er.

„Sie sollten diese Frage nicht mir, sondern der Dame stellen, die Sie gerade angerempelt haben.“

Meine anfängliche Erleichterung weicht einem spontanen Fluchtreflex. Aber bevor ich mich verdrücken kann, hat sich die Hand nun auf meine Schultern gelegt. „Darf ich vorstellen: Dr. Melanie Glanz.“

Der Reporter beäugt mich, als wäre ich eine überteuerte Ware, und ich spüre, wie sich die Härchen auf meinen Armen aufrichten.

„Sie sollten wissen, dass Frau Dr. Glanz diejenige ist, die den Nobelpreis eigentlich verdient hat.“

„Bitte nicht“, flüstere ich und spüre, wie meine Wangen aufglühen.

„Immerhin ist es ihre Doktorarbeit, um die sich heute alles dreht.“

Ich würde am liebsten im Erdboden versinken.

„So, dann erzählen Sie mal“, drängt der schmierige Typ und kritzelt bereits etwas auf seinen Block, bevor ich überhaupt den ersten Ton gesagt habe.

„Nun, ich … also … in den Naturwissenschaften arbeitet man natürlich zusammen … im Team“, stottere ich.

„Das heißt, die Studenten machen die Arbeit und die Professoren heimsen die Preise ein?“, hakt er deutlich desinteressierter nach. Seine Miene kann alles heißen. Vermutlich hält er mich für eine gewöhnliche Hochstaplerin.

Auch ich komme mir vor, als würde ich meinem eigenen Chef ein Messer in den Rücken rammen. Am liebsten würde ich unter einem Vorwand verschwinden. Mir fällt jedoch keine Ausrede ein, um mich der Hand, die meine Schultern umfasst, zu entwinden.

Zum Glück bittet die Assistentin des Uni-Rektors jetzt alle Vertreter der Presse in den Nachbarraum zum Fotoshooting mit dem Preisträger. Kaum ist der Reporter in der Masse verschwunden, sind auch meine Schultern wieder frei.

„Was soll das, Mel?“, fragt er.

„Was soll das, Papa?“, gebe ich trotzig zurück.

„Mein Gott! Darf wenigstens ich stolz auf dich sein? Es war dein Experiment. Du hattest den Riecher, du hast am Ende die Daten ausgewertet und richtig interpretiert. Es ist dein Preis.“

„Und du hast die theoretische Formel geliefert“, erwidere ich müde.

Mittlerweile hasse ich dieses Thema. Seit zwei Monaten, genau seit dem Tag, an dem die Preisträger offiziell bekannt gegeben wurden, vergeht kaum ein Gespräch, in dem wir nicht darüber streiten. Nobelpreise werden immer an die Professoren verliehen und das zu Recht. Rüdiger, John und George hatten lange vor mir die Idee für das Experiment. Sie haben es konstruiert und aufgebaut. Und später hat vor allem John mir bei der Auswertung der Daten sehr viele gute Tipps gegeben, ganz abgesehen von ihrer Interpretation.

„Ich verstehe dich nicht, Mel. Das ist deine Chance. Die Herren Professoren haben ihre Pferdchen längst ins Trockene gebracht. Sie haben ihre Stellen auf Lebenszeit. Du nicht. Du sitzt immer noch auf dieser zeitlich befristeten Sklavenposition, wo dein Talent skrupellos ausgebeutet wird. Wer kümmert sich um deine Zukunft? Rüdiger? Glaubst du das im Ernst?“

Ich betrachte einen Fleck auf meinem Turnschuh und hoffe, dass mein Vater das Thema fallen lässt, wenn ich nur lange genug nicht reagiere. Leider nützt es nicht. Er hat sich in Rage geredet.

„Du bist doch eine intelligente Frau. Im Labor lässt du dir nichts vormachen. Doch wenn es um deine Zukunft geht, verkriechst du dich hinter deiner Arbeit und hoffst auf ein Wunder. Wie oft wurde deine Stelle verlängert?“

„Dreimal“, flüstere ich.

Ich weiß, dass er recht hat. Wenn mein Vertrag das nächste Mal ausläuft, kann er nicht wieder verlängert werden.

„Dabei ist die Situation zu schön, um wahr zu sein“, zischt er. „Jetzt bist du am Zug. Streng dich ein bisschen an, spring endlich über deinen verdammten Schatten, solange der Preis frisch ist. Dann wirst du dich vor Stellenangeboten nicht mehr retten können.“

Verlegen spiele ich am Kragen meiner Bluse. Hoffentlich hört uns niemand. Zum Glück sind alle Umstehenden in ihre eigenen Gespräche verwickelt. Jedenfalls dreht sich niemand um.

„Mel, wenn du geschickt agierst, jetzt den richtigen Menschen dein Gesicht zeigst, wirst du garantiert auf die nächste freie Professur berufen“, fährt er sanfter fort. „Die Unis werden sich um dich reißen. Dann kannst du verhandeln, dir dein eigenes Labor aufbauen. Dafür würden andere morden.“

„Aber ich weiß nicht, ob ich das …“

„Natürlich hast du das Zeug dazu. Du bist meine Tochter“, er bleckt seine Zähne und nickt jemandem zu.

Im nächsten Moment spüre ich seine Hand auf meinem Rücken und den Druck, als er mich plötzlich entschlossen vor sich herschiebt.

„Da drüben steht der Rektor. Wir sollten ihn begrüßen.“

Weil ich weiß, dass ich mich aus dieser Situation nicht befreien kann, jedenfalls nicht ohne einen Skandal zu riskieren, füge ich mich. Immerhin schaffe ich es auf dem Weg, ein Glas Sekt zu ergattern, das ein verschwitzter Kellner auf einem Tablett an uns vorbei trägt. Dann schiebt mich mein Vater weiter. Brav einen Fuß vor den anderen setzend, ein freundliches Lächeln auf den Lippen, werfe ich einen Blick durch die großen Panoramafenster, hinter denen sich in der Ferne die trostlose, grau verwaschene Landschaft des winterlichen Ruhrtals erstreckt.

„Da bist du ja“, höre ich Rüdigers Stimme hinter mir. Mit seiner alten Jeans sticht er deutlich aus der Masse der Anzug- und Kostümträger hervor. Immerhin ist sein Hemd gebügelt.

Mein Vater hat mich gerade der Bildungsministerin vorgestellt. Sie ist nach dem Rektor, einem Professor für theoretische Festkörperphysik und irgendjemandem aus der Medizinischen Fakultät schon die vierte Person, der ich wie ein kleines Mädchen artig die Hand schüttle.

„Bitte entschuldigen Sie“, wendet sich mein Chef an die Ministerin, deren Augen bei seinem Anblick aufleuchten.

„Lieber Herr Professor Neuhaus, darf ich Ihnen ganz herzlich zu dieser besonderen Ehrung gratulieren?“, ruft sie.

„Das dürfen Sie. Aber jetzt muss ich Sie bitten uns zu entschuldigen. Wir sind mitten in einem neuen Experiment. Durch die Preisverleihung und das ganze Drumherum sind wir schon eine Woche im Rückstand. Eine ganze Woche! Und das bei der Konkurrenz.“ Er hat seinen treuen Hundeblick aufgesetzt. „Sie werden verstehen, dass ich mich dringend mit meiner Assistentin und unserem Team besprechen muss.“

Ich muss mich sehr beherrschen, um nicht zu kichern. Der ungewohnte Alkohol entfaltet langsam seine Wirkung.

„Nimm dein Glas mit, Mel“, flüstert er mir leutselig zu. „Ich glaube, Tim und Olli haben ein paar Flaschen für die richtige Feier sichergestellt, und ich weiß nicht, ob wir unten genug Gläser haben.“ Er grinst breit und richtet sich an meinen Vater. „Jochen, wir könnten deine Hilfe gut gebrauchen. Es gibt da noch ein paar theoretische Fragen. Du verstehst!“

Mit treuherzigem Augenaufschlag in Richtung der Ministerin dreht sich mein Chef um und marschiert zielstrebig auf den Ausgang zu. Schnell folge ich Rüdiger, bevor mein Vater mich daran hindern kann.

„Ich komme später nach“, höre ich ihn verärgert fauchen.

Ich bin froh, endlich wieder mit Mel im Labor zu sein. Die richtige Party steigt natürlich im Kontrollraum. Alois Schrödeler, der Ingenieur vom Teilchenbeschleuniger, und sein Techniker-Team sind schon da, als wir hereinkommen. Er steht am Rand und plaudert mit Tim, der stolz auf einen ganzen Karton mit Champagnerflaschen zeigt, die er zwischen einem Stapel Ordner und dem Gehäuse einer alten Stromquelle abgeladen hat. Ich glaube, Tim hat die Flaschen oben auf der anderen Party geklaut. Aber Rüdiger lacht darüber und klopft Tim auf die Schulter. Rüdigers Frau ist auch da. Sie hat Platten mit Frikadellen, Hähnchenspießen und selbstgebackenen Kuchen mitgebracht. Natürlich ist es hier nicht so schick wie auf dem offiziellen Empfang, aber dafür viel gemütlicher. Olli spielt Musik von seinem Rechner. Jazz oder so etwas. Alle lachen, plaudern und essen.

Ich klettere hoch auf die Kontrolleinheit und mache es mir über den Köpfen der anderen bequem. Wenn viel los ist, ist das mein Lieblingsplatz, denn von hier aus kann ich alles überblicken. Ich setze mich auf die Kante, lasse meine Beine baumeln und beobachte Olli, der unauffällig in seiner Nase bohrt. Neben ihm auf der Tischkante sitzt ein Mann mit roten, lockigen Haaren, die er zu einem coolen Zopf zusammengebunden hat, und kaut an einem Hähnchenspieß. Er kommt mir irgendwie bekannt vor.

Hi, Mel! Wie geht’s?“, fragt er auf Englisch.

Phil?“ Sie bleibt für einen Moment stocksteif stehen und ich merke, dass sie wirklich überrascht ist. „Was tust du hier?“, fragt sie auf Englisch zurück.

Jetzt fällt mir auch wieder ein, woher ich ihn kenne. Er ist einer der Techniker in Georges Arbeitsgruppe. Nur haben wir ihn bestimmt schon ein paar Jahre nicht mehr gesehen.

Ich bin auf dem Rückweg von Stockholm und schaue bei euch vorbei. Rüdiger hat uns ein paar von euren alten BGO-Detektoren und zwei Turbopumpen versprochen. Bevor ihr sie uns schickt, wollte ich sie mir mal ansehen.“

Ich wette, wenn Mel gewusst hätte, dass du in Stockholm warst, wäre sie mitgekommen“, lacht Rüdiger, der gerade im Raum die Runde macht. Er knufft Mel in die Seite.

Natürlich winkt sie ab und verdreht die Augen. Doch über ihre Wangen ist ein rosa Schimmer gelaufen. Das habe ich genau gesehen. Kann es sein, dass sie Phil mag? Warum weiß ich nichts davon? Ich merke, dass ich an meinen Zöpfen spiele, wie immer wenn ich nachdenken muss. Mel und ich sind nicht ständig einer Meinung. Trotzdem weiß ich meistens, was sie denkt. Es kann nicht sein, dass sie Geheimnisse vor mir hat. Das geht gar nicht. Oder doch?

Es klopft, und ich schaue überrascht auf. Gegenüber, auf der anderen Seite des Raumes, öffnet sich die breite Glastür und Alfred Müller schlendert mit einem breiten Grinsen herein. Er ist nicht allein. Erschrocken ziehe ich meine Beine hoch und umklammere meine Knie. Alle Gedanken über Mel und Phil und mögliche Geheimnisse sind auf einmal unwichtig. Denn hinter Alfred kommt ER. Mit einem Mal wird die warme Laborluft so frostig kalt, dass ich zittere. Aber außer mir scheint es niemand zu bemerken.

Rüdiger strahlt und winkt die beiden herein. „Dann kann die Party ja losgehen“, ruft er begeistert. „Jochen, wunderbar! Hast du dich loseisen können?“

ER lacht nicht, sondern verzieht das Gesicht. Wahrscheinlich hätte ER Mel lieber weiter über den Empfang geschleift, diesen ganzen wichtigen Personen vorgestellt und sie eine Hand nach der anderen schütteln lassen.

Na, kommt rein“, ruft Rüdiger. „Wir wollen endlich anstoßen. Hier unten, wo wir hingehören. Hast du dein Glas mitgebracht, Jochen? Nicht? Egal, irgendetwas finden wir schon. Hilf uns mal mit den Flaschen. Du siehst aus wie ein Mann, der weiß, wie man Champagner entkorkt.“

Rüdiger führt ihn hinüber, und ich beobachte aus sicherer Entfernung, wie ER Tims Karton mit einer hochgezogenen Augenbraue mustert, bevor er die erste Flasche herauszieht.

Hm, ein guter Tropfen“, brummt ER. „Den habe ich doch gerade schon getrunken. Welch ein Zufall!“

Rüdiger lacht, als hätte ER einen Witz gemacht. Dabei glaube ich nicht, dass es lustig gemeint war.

Obwohl Tim direkt neben ihm steht und auch helfen kann, dreht ER sich suchend um. „Mel, reich mir mal die Gläser“, sagt ER. Obwohl sie auf der ganz anderen Seite des Kontrollraums steht, winkt ER sie zu sich heran. Kaum ist sie da, redet ER auf sie ein, während ER geschickt den ersten Korken zieht: „Schade, dass du so schnell weg warst. Gerade habe ich noch Gustav Petermann getroffen. Bei ihm in München wird im Sommer eine feste Stelle ausgeschrieben.“

Mel antwortet nicht. Sie hat die Lippen zusammengepresst und reicht ihm stumm eine Kaffeetasse nach der anderen, die Tim für diejenigen aus der Küche geholt hat, die kein Glas mitgebracht haben.

Als endlich alle eine Tasse oder ein Glas in der Hand halten, ist es plötzlich ganz leise.

Hoch soll er leben, unser Herr Nobelpreisträger“, ruft Alfred in die Stille und beginnt zu singen.

Dann wird es laut, denn natürlich stimmen alle ein. Sogar Mel singt. Ich kann sehen, dass Rüdiger ganz verlegen wird. Ich glaube, ihm schimmert sogar eine Träne im Augenwinkel, als er den Gruß erwidert.

Ihr seid ein großartiges Team“, ruft er und hebt sein Glas. Mels Beitrag erwähnt er nicht.

Mel prostet ihm zu, dreht sich um, um ihr Glas in die andere Richtung zu heben und zuckt erschrocken zusammen. Denn dort, unmittelbar vor ihr, steht ER.

Auf dich“, zischt ER und schaut sie bedeutungsvoll an. „Darauf, dass jeder bekommt, was er verdient hat.“

Ich weiß nicht, was ER damit meint. Zum Glück muss Mel auch nicht antworten. Denn in diesem Moment beginnen einige Leute, die neben Rüdiger stehen, laut zu lachen, und Phil ruft: „Moment! Hier fehlt noch jemand.“

Er deutet auf Rüdigers Glas. Es ist tatsächlich noch leer.

Ja, so was. Habe ich doch glatt vergessen, mich anzustellen“, sagt Rüdiger.

Auch Mel schmunzelt. Sie geht hinüber, nimmt Rüdiger das Sektglas ab und reicht es an ihren Vater weiter, der den Rest aus der Flasche eingießt.

Das reicht nicht mehr“, stellt ER sachlich fest.

Im Kühlschrank steht noch eine ganze Kiste“, ruft Tim und springt sofort auf.

Doch Mel winkt ab. „Lass nur, ich gehe“, sagt sie. Mit dem halbvollen Glas in der Hand verschwindet sie hinter der Tür.

Natürlich begleite ich sie. Deshalb sehe ich, wie Mel mitten im Gang vor der Küche stehen bleibt und mit einer Miene in das Sektglas schaut, als hätte sie darin etwas Ekeliges entdeckt. Sie schwenkt das Glas vorsichtig hin und her und kneift die Augen zusammen, sodass auf ihrer Stirn zwei dicke Falten entstehen. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um ebenfalls in das Glas zu spähen. Aber ich kann echt nichts erkennen. Manchmal ist Mel auch ein bisschen zimperlich. Dann sieht sie Sachen, die andere nie bemerkt hätten. So wie jetzt. Zum Glück zuckt sie schließlich mit den Schultern und geht weiter.

Drei Stunden später ist die Invasion der Heuschrecken überstanden. Auf den Platten, auf denen sich vorhin noch Berge von Frikadellen und Hähnchenspießen türmten, welken nur noch ein paar gelbe Salatblätter. Vom Kuchen zeugen die Krümel, und über den ganzen Kontrollraum verteilt stehen leere Tassen und Gläser. Niemand stört sich daran. Denn alle, die nicht unmittelbar zu unserem Team gehören, haben sich wieder in ihre Werkstätten und Büros zurückgezogen.

„So, jetzt aber ran an die Arbeit“, ruft Rüdiger und klatscht in die Hände.

Ich kann kaum glauben, dass wir tatsächlich alle Flaschen, selbst die aus dem Kühlschrank, geleert haben. Andererseits erklärt es, warum ich mich ziemlich schwummrig fühle, seltsam leicht und schwer zugleich. Wahrscheinlich war es eine dumme Idee, mich zu betrinken. Denn dass Rüdiger jetzt darauf brennt, endlich weiterzuarbeiten, hätte ich mir denken können. Eine ganze Woche in Schweden bedeutet für meinen Chef eine ganze Woche kalten Entzug. Über diesen Gedanken muss ich schmunzeln und hoffe, dass es nicht wie ein dämliches Grinsen aussieht.

„Unser neues Projekt wartet. Neues Spiel, neues Glück, neue Preise“, skandiert Rüdiger gut gelaunt. Wahrscheinlich hat auch er ein oder zwei Gläser zu viel getrunken. „Wie seid ihr in der Zwischenzeit vorangekommen?“

Ich atme tief durch und reiße mich zusammen. „Olli hat die drei neuen Germanium-Detektoren probehalber an das automatische Kühlsystem angeschlossen. Soweit scheint es wunderbar zu funktionieren. Wir haben es die letzten 48 Stunden getestet. Wenn es gut geht, wäre das eine echte Arbeitserleichterung, denn der flüssige Stickstoff im Behälter reicht für eine ganze Woche, ohne dass jemand ihn nachfüllen muss.“

„Wunderbar!“, ruft Rüdiger begeistert.

„Herr Marsen sagte mir gerade, dass auch die Kammer mit dem Arm für die radioaktive Quelle so gut wie fertig ist. Ich werde sie morgen abholen, sodass wir alles zusammensetzen und nächste Woche schon abpumpen können. Ich habe allerdings eine kleine Änderung bei den Detektoren vorgenommen. Wir hatten ja vorletzte Woche darüber gesprochen, dass wir die Hintergrundstrahlung reduzieren können, wenn wir die Reaktion zeitgleich in den Gammadetektoren und in den Teilchenzählern messen.“

„Hatten wir?“ Rüdiger zögert kurz. Doch als sein Blick auf Phil fällt, setzt er ein entschlossenes Gesicht auf. „Richtig, Mel, richtig.“

„Ich habe also drei Teilchendetektoren bestellt. Sie müssten in der nächsten Woche ankommen.“

„Ich werde sie dann sofort mit der neuen Quelle testen“, wirft Tim ein.

„In die Computersimulation habe ich sie schon einprogrammiert“, erklärt Olli stolz.

Rüdiger macht ein zufriedenes Gesicht. „Siehst du, Phil, das ist mein Team. Im Grunde brauchen sie mich gar nicht. Sie sind nur viel zu höflich, um das zuzugeben.“

Er lacht, und auch Phil grinst und zwinkert mir zu. Hoffentlich werde ich nicht wieder rot. Ich weiß gar nicht, was heute mit mir los ist.

„Wunderbar“, sagt Rüdiger. Er ist offensichtlich froh, wieder da zu sein.

Und auch ich bin glücklich darüber. Sein Elan und seine überschwängliche Laune haben mir gefehlt. Gut, dass der Preis endlich verliehen ist und die Feiern überstanden sind. Denn ich freue mich auf den Alltag.

Neondunkel

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