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Donnerstag, 05. Februar

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Rüdiger ist jetzt seit drei Wochen tot. Ich fühle mich leer und ausgelaugt, als wäre mit ihm ein Stück von mir selbst gegangen. Sein Elan und seine Euphorie, die bislang das Labor gefüllt und uns alle beflügelt haben, haben ein schreckliches Loch hinterlassen. Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, mache ich weiter wie bisher und vertrete meinen Chef, so gut ich kann. Aber es ist nicht einfach. Ich wusste gar nicht, wie viele Verpflichtungen eine Professur mit sich bringt. Dass Rüdiger noch die Zeit zum Forschen gefunden hat, erscheint mir langsam wie ein Wunder. Allein die Vorbereitung seiner Vorlesung braucht Stunden. Und im Anschluss haben die Studenten immer Fragen. Gestern wollte einer von ihnen wissen, ob er seine mündliche Prüfung jetzt bei mir ablegen könne. Ich habe keine Ahnung. Ich werde mich darum kümmern müssen. Irgendwann. Nur nicht jetzt.

Auch die Gremienarbeit und Hochschulpolitik schiebe ich vor mir her und hoffe, dass es niemandem auffällt, wenn ich die Termine schwänze. In meinen wenigen freien Minuten flüchte ich mich lieber hinab ins Labor und arbeite mit Olli und Tim an unserem neuen Experiment.

Nach den ersten Tagen, die wir in einer Art Schockzustand verbracht haben, haben wir die Arbeit wieder aufgenommen. Der Magnet hat zwar eine dicke Schramme, und es fehlt eine Ecke, dort wo er in den Boden geschlagen ist. Doch wahrscheinlich funktioniert er noch. Um sicherzugehen, werden wir ein paar Testmessungen durchführen. Um die Pumpe mache ich mir mehr Sorgen. Ich finde, sie surrt irgendwie komisch, wie ein heiseres Walross, um es mit Ollis Worten zu sagen. Aber Tim meint, dass sie vorher schon eigenartig geklungen hat. Also benutzen wir sie weiter, Ersatz haben wir ohnehin nicht.

So geht der Aufbau langsam voran. Die kleineren Pumpen sind bereits an ihrem Platz. Bald muss die automatische Kühleinheit angeschlossen und die neuen Teilchendetektoren können getestet werden. Leider kann Tim die starke Alphaquelle nicht finden, die ich extra für diesen Zweck bestellt habe. Vermutlich hat Rüdiger sie irgendwo abgelegt und vergessen. Irgendwann werden wir sie suchen müssen. Doch nicht heute. Nicht diese Woche. Denn Phil ist da.

Er ist tatsächlich persönlich gekommen, um das Equipment abzuholen, das Rüdiger ihm vor seinem Tod versprochen hat. Und allein die Tatsache, dass ich ihn gleich wieder sehe, lässt für einen kurzen Moment das winterliche Grau verblassen, als hätte sich irgendwo ein feiner Sonnenstrahl durch den Irrgarten der tristen Gebäude gebahnt. Dabei weiß ich gar nicht, ob wir die Detektoren und Spezialpumpen nach Kanada verleihen dürfen. Unser Labor und die gesamte Einrichtung sind streng genommen Eigentum der Universität. Rüdiger hat das nicht besonders ernst genommen. Doch jetzt muss ich die Ausfuhrpapiere unterschreiben, und ich bin mir nicht sicher, ob ich das darf. Auf der anderen Seite habe ich im Moment keine Kraft, mich auch noch um bürokratische Schikanen zu kümmern.

Wenn Phil nicht wäre, wäre ich heute wohl zu Hause geblieben. Ich glaube, ich werde krank. Aber vielleicht ist es auch nur die Erschöpfung. Geschlafen habe ich in der letzten Nacht nicht viel, und in den wenigen Stunden habe ich verworrene Dinge geträumt, an die ich mich nicht erinnern kann. Was geblieben ist, ist eine seltsame Beklommenheit, eine Mischung aus Leere und vager Angst, die mich verfolgt, seitdem ich heute früh völlig verschwitzt aufgewacht bin, und mich selbst jetzt, wo ich längst meinen Wagen im Parkhaus abgestellt habe, nicht loslässt. Aber die Aussicht auf einen starken Kaffee und einen ganzen Tag im Labor zusammen mit Phil treibt mich vorwärts.

Bevor ich hinüber ins Labor gehe, muss ich allerdings noch einen Abstecher zum Büro meines Vaters machen. Er hat mich gestern Abend noch angerufen. Anscheinend hat er irgendein Geschenk für George besorgt, das Phil mitnehmen soll. Was daran so wichtig ist, habe ich nicht verstanden. Denn das TRIUMF Laboratory Advisory Committee tagt Mitte des Monats in Vancouver, sodass mein Vater George sowieso treffen wird.

Aber darum mache ich mir jetzt keine Gedanken, während ich den Treppen hinauf folge. Im Theorie-Flügel des Physikgebäudes ist um diese Zeit noch wenig los, sodass ich auf dem Gang niemanden treffe. Die meisten Türen sind geschlossen, auch die meines Vaters. Zum Glück habe ich einen Schlüssel.

Als ich den Raum betrete, fällt mir wieder einmal auf, wie steril das Büro meines Vaters ist, ein Muster an Ordentlichkeit. Ein einzelnes, in Silber gefasstes Foto auf einem Beistelltisch ist, soweit ich sehen kann, der einzige Hinweis darauf, dass Professor Jochen Glanz ein Privatleben hat. Der Rahmen ist exakt ausgerichtet, parallel zur Tischkante. Das Bild zeigt ihn und mich vorletztes Jahr Weihnachten, kurz nachdem Kati nach Kanada gezogen ist.

Abgesehen von dem Foto ist das Büro unpersönlich wie ein Möbelkatalog. Jedes Buch hat seinen festen Platz im Regal. Der Schreibtisch ist so leer, dass ich mich, wenn ich es nicht besser wüsste, fragen würde, ob mein Vater überhaupt arbeitet. Nicht einmal ein Stift oder ein Block liegen auf der Arbeitsplatte. Nur auf der altmodischen Tafel hinter der Tür stehen knappe Notizen, die jedes Mal sorgfältig ausgewischt werden, sobald sie ihr Soll erfüllt haben. An der Wand hinter dem Schreibtisch hängen in akkurater Reihe Urkunden und Zeugnisse, neben zwei sauber gerahmten Postern mit den chemischen Elementen und allen bislang bekannten Nukliden. Ich glaube, mein Vater würde am liebsten sogar den Müll ordnen. Jedenfalls ist das Altpapier auf der Ablage unter dem Fenster zu einem perfekten Stapel ausgerichtet. Mit einem Gefühl der Erleichterung stelle ich fest, dass zumindest im Abfalleimer neben dem Schreibtisch eine Andeutung von Chaos herrscht. Ein paar benutzte Papiertaschentücher liegen zerknüllt neben einer leeren Cola-Dose, die jemand, gewiss nicht mein Vater, hinterlassen hat. Und unter der Einladung zu einer Weihnachtsfeier, die originellerweise auf Stoff gedruckt und deshalb wohl nicht auf dem Altpapierstapel gelandet ist, lugt ein blauer Einweghandschuh heraus. Trotz meiner gedrückten Stimmung merke ich, dass sich meine Mundwinkel zu einem leichten Schmunzeln verziehen, als ich die große, eingeschweißte Salami entdecke, die im Ablagekorb liegt. Wie ein Relikt aus einer anderen Welt. Neben der Wurst befinden sich eine mit klarer Schrift verfasste Grußkarte an George und ein Notizzettel für mich: „Zoll! Bitte sorgfältig tarnen.“

Das ist also das Geschenk! Jeder weiß, dass George eine Schwäche für „German sausage“ hat und die Versorgung wegen der nordamerikanischen Zollbestimmungen ein Problem darstellt. Mein Vater hat am Telefon so ein Geheimnis aus seiner Überraschung gemacht, dass ich mir alles vorgestellt habe, nur nicht dieses Stück Blocksalami. Auf der anderen Seite ist die Situation natürlich günstig, denn zwischen dem ganzen technischen Equipment wird niemand eine einzelne geschmuggelte Wurst vermuten.

Ich packe sie also ein und mache mich auf den Weg ins Labor und zu Phil.

Mel, wo hast du gesteckt?“, ruft Phil, als Mel und ich den Kontrollraum betreten. „Ich hatte schon Sorge, dass … ach egal.“

Der Typ geht mir auf die Nerven. Seit vorgestern ist er da und tut so, als ob Mel es nicht selbst schafft, eine blöde Kiste für ihn zu packen und vom Kurierdienst abholen zu lassen. Nein, er musste unbedingt persönlich einfliegen, in unserem Labor aufkreuzen und das Zeug abholen. Angeblich sind die Zollformalitäten einfacher, wenn jemand mitreist. Ich frage mich, wen er damit täuschen will. So wie er die ganze Zeit meine Mel umsäuselt, ist vermutlich jedem klar, was seine wahren Absichten sind. Jedem außer Mel natürlich.

Sie wirft verwundert einen Blick auf die Uhr an der Wand. „Es ist doch gerade erst …“ Ich merke, dass sie stockt. „Oh“, murmelt sie dann. „Ist es tatsächlich schon halb zehn? Ich war nur kurz im Büro meines Vaters, um die Salami für George abzuholen.“

Phil strahlt wie ein blödes Honigkuchenpferd. „Salami? Da wird sich George freuen!“ Dabei zeigt er auf eine große Holzkiste, die mitten im Raum steht und in der schon zwei Vakuumpumpen liegen. „Schau mal, ob du ein Stück Stahlrohr oder so findest, in das du sie stecken kannst. Am besten klebst du irgendeinen technischen Aufkleber darauf. Dann finden die Jungs vom Zoll sie nie. So haben wir früher noch ganz andere Sachen über die Grenze geschafft.“ Er kichert in sich hinein, als hätte er etwas Lustiges gesagt.

Was soll das? Ich lasse ihn stehen und folge Mel, die begonnen hat, die Schränke im Kontrollraum und im Labor nach einer brauchbaren Verpackung zu durchwühlen. Als sie endlich einen geeigneten Metallkanister gefunden hat und die Salami hineinschieben will, hält sie inne. „Die Verpackung ist undicht“, murmelt sie, und ich frage mich, was sie meint.

Für mich sieht die Verpackung der Salami genau so aus, wie sie aussehen soll: eine Hülle aus einer dicken, durchsichtigen Plastikfolie, die an beiden Enden zugeschweißt ist.

Mel streicht mit dem Finger über das Plastik, dreht die Salami in ihren Händen hin und her und knibbelt ein bisschen am bunten Aufkleber des Herstellers.

Mel, da ist nichts“, flüstere ich, obwohl ich natürlich weiß, dass sie mich nicht hört.

Endlich kommt auch Mal zu diesem Ergebnis. Sie zuckt mit den Schultern und geht weiter.

Im Kontrollraum wartet Phil. „Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragt er und schaut Mel an, als wäre wer weiß was passiert.

Mel schüttelt den Kopf. „Doch, doch, alles gut. Wann musst du los?“

Mein Flieger geht heute Abend. Sobald wir das Zeug verpackt haben, fährt Alfred Müller mich mit dem Transporter zum Flughafen. Willst du mitkommen? Im Container ist noch Platz.“

Sehr lustig. Er schielt sie komisch an, und Mel wird tatsächlich rot. Was ist denn los mit ihr?

Nein, ich …“ Jetzt stottert sie auch noch. „Ach, die … diese Plastikhülle um die Salami ist beschädigt. Ich hätte George gerne eine neue besorgt. Das schaffe ich nicht mehr.“

Phil grinst blöd. „Eine neue Salami? Nur weil die Plastikverpackung einen Riss hat?“

Ein Riss ist es nicht einmal.“

Mel, du bist verrückt. George wird sich freuen und es gar nicht bemerken. Das Zeug wird doch nicht schlecht.“ Phil strahlt von einem Ohr zum anderen.

Ich kann fühlen, wie sich Mel entspannt. „Ja, du hast vermutlich recht“, gibt sie zu und lächelt vorsichtig.

Wenn die Salami und ich sicher in Kanada sind, werde ich die Hülle entfernen, bevor ich sie George überreiche“, verspricht er. „Dann sieht es aus, als käme die Wurst direkt vom Metzger.“

Gut, dann verschließe ich jetzt das Rohr und schreibe ein großes S darauf, damit du die Salami nicht mit den BGO-Zählern verwechselst“, entscheidet Mel.

Nö, die riechen anders.“

Die beiden kichern. Dabei ging es Mel gerade noch so schlecht, dass sie mir richtig leidtat.

Mit einem blöden Gefühl im Bauch hocke ich mich in die Ecke unter einen der Tische und warte. Komische Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Warum spricht Mel nicht mit mir so wie mit Phil? Warum lachen wir nicht zusammen? In meinem Magen zieht sich etwas zusammen und macht, dass ich mich ganz einsam fühle. Ich bin vielleicht unsichtbar. Aber ich bin doch kein Geist oder so. Ich bin ein Teil von ihr. Wenn die anderen mich nicht sehen, ist mir das egal. Eigentlich ist mir das sogar recht. Aber Mel soll mich endlich wahrnehmen. Sie soll wissen, dass ich da bin und mich um sie kümmere.

Zum Glück reist Phil heute ab. Und solange werde ich genau hier sitzen bleiben und darauf warten, dass dieser Kerl endlich wieder aus unserem Leben verschwindet.

Neondunkel

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