Читать книгу Neondunkel - Solveig Engel - Страница 6
Dienstag, 13. Januar
ОглавлениеDas neue Experiment geht voran. Jeden Tag treffen Mel und ich uns mit den anderen, um die Versuchsanordnung weiter aufzubauen und Abschnitte zu testen. Wenn ich neben Mel draußen durch den grauen Schneematsch laufe, der Winterwind uns eisig um die Nasen bläst und alles so trist und farblos aussieht, freue ich mich richtig darauf, wieder ins warme, helle Labor zu kommen.
Der neue Versuch wird in Raum 2 aufgebaut, von wo aus das Experiment durch ein schmales Loch in der dicken Betonwand direkt mit dem Teilchenbeschleuniger verbunden ist. Die Wand muss sein, denn der Beschleuniger erzeugt so viel radioaktive Strahlung, dass jeder stirbt, der ihm zu nahe kommt. Aber das macht natürlich keiner. Wenn der Beschleuniger läuft, sind die Tore fest verriegelt und mit einer elektronischen Sicherung blockiert. Selbst wenn er abgeschaltet ist, müssen Alois Schrödeler und seine Techniker ein paar Tage warten, bevor sie hineingehen und etwas reparieren können. So gefährlich ist er.
Wir bauen gerade die schweren Vakuumpumpen auf. Rüdiger steht am Rand. Mit einer Zigarette im Mundwinkel bedient er die klobige Fernbedienung und steuert den dunkelblauen Lastkran über die Schienen, die direkt unter der hohen Decke montiert sind. Im Neonlicht leuchtet sein Gesicht fast so gelb wie die Wand hinter ihm. Ich mag die bunten Farben im Labor. Am Kran baumelt die erste Pumpe. Sie ist flaschengrün und sieht aus wie ein vorsintflutliches Monster, eine gigantische Schildkröte aus lackiertem Eisen, von deren Panzer schon die Farbe blättert. Die langen Ketten, an denen sie hängt, rattern und ächzen unter ihrem Gewicht, während sich der Kran langsam über die Schienen schiebt.
Rüdiger ist in seinem Element. In seinen Augen leuchtet der Spaß, trotzdem sieht er irgendwie krank aus. Auf seiner Stirn glänzen Schweißtropfen, dabei ist es nicht wirklich heiß.
Ich folge dem Kran rückwärts durch den Raum. Mein Blick ist an die Decke geheftet, und ich versuche immer genau unter der Pumpe zu stehen. Olli und Tim laufen auch mit, um Rüdiger die Richtung anzugeben. Sie gehen natürlich seitlich neben der Pumpe, die jetzt sanft zwischen dem Verbindungsrohr zum Beschleuniger und einem hohen Schrank mit Messinstrumenten pendelt.
„Ein Stückchen höher!“
Rüdiger schiebt den Knopf am Steuerelement vor. Aber nicht nur ein bisschen. Er hört gar nicht mehr auf.
„Das reicht!“, brüllt Tim plötzlich. „Nicht zu viel!“
Rüdiger zuckt erschrocken zusammen und reibt sich mit der Hand über die Augen. Mel steht neben ihm. Sie wirft Tim einen beschwörenden Blick zu und beäugt dann Rüdiger. Ihr Mund ist schmal, sie scheint sich Sorgen zu machen.
„Jetzt weiter nach links, sonst stoßen wir an den Magneten“, sagt Olli und zeigt auf einen massiven lila Block, der etwas weiter vorne um das Rohr herum montiert ist. „Vorsichtig, nicht zu weit! Ja, gut so.“
„Sie können jetzt langsam runtergehen“, meint Tim wieder ruhiger.
Ich bin der Pumpe bis hierher gefolgt und liege nun flach auf dem Rücken, um zu beobachten, wie der tonnenschwere Klotz langsam auf mich zufährt. Ich stelle mir vor, wie die Glieder der Ketten reißen, eines nach dem anderen, und die schwere Pumpe auf mich herabstürzt. Diese Vorstellung lässt meinen Bauch kribbeln, und ich schließe für einen Moment die Augen. Als ich wieder nach oben schaue, ist tatsächlich etwas passiert. Die Pumpe hängt nicht mehr ruhig da. Durch die plötzliche Richtungsänderung ist sie in Schwingung geraten. Erschrocken drehe ich mich um und krabble zur Seite. Um mich herum springen alle auf.
Mel hastet zu uns herüber. „Sie schwankt zu sehr. Olli, Tim, versucht, die Pumpe mit den Händen zu stabilisieren“, ruft sie. „Seid vorsichtig. Das Biest ist schwer!“ Sie wirft Rüdiger einen Blick zu. „Alles okay?“, fragt sie leise und beobachtet, wie Tim und Olli sich mit erhobenen Händen dem schaukelnden Monster nähern.
Rüdiger ist erstaunlich schlecht gelaunt. „Geht schon!“, raunzt er Mel an. Dabei ist der ganze Schlamassel ja seine Schuld.
„Soll ich übernehmen? Dann kannst du dich einen Moment hinsetzen“, fragt Mel trotzdem freundlich und fügt sofort hinzu: „Es wäre gut, wenn du einen Blick auf die Berechnungen werfen könntest, die mein Vater eben per E-Mail geschickt hat.“
Mel ist einfach zu nett. Selbst in dieser Situation will sie ihrem Chef nicht das Gefühl geben, dass sie ihn wegschickt. Es nützt nur nichts. Rüdiger ist nämlich ein alter Sturkopf.
„Quatsch“, motzt er, und ich glaube, dass ich ihn noch nie so ruppig erlebt habe. „Das mache ich später! Jetzt bauen wir erst die Pumpe auf.“
Mel schweigt und schaut zu, wie Tim und Olli die Pumpe abfangen, sodass sie wieder zahm in ihren Seilen hängt. Eigentlich könnte es jetzt weitergehen. Alle schauen zu Rüdiger. Aber der starrt abwesend vor sich hin. Erst als Tim leise „Chef?“ sagt, reißt er sich zusammen.
Die anderen konzentrieren sich auf die Pumpe. Nur ich beobachte Rüdiger. Deswegen sehe ich, dass seine Hände zittern, erst nur ein bisschen. Aber dann wird das Zittern schlimmer und schlimmer. Sogar seine Arme zittern mit. Die Zigarette vibriert in seinem Mundwinkel, und das Steuergerät wackelt in seiner Hand. Dabei schwankt er, als hätte er Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten.
„Rüdiger!“, schreit Mel plötzlich. Ihr Rufen geht in dem Knall unter, mit dem die Pumpe gegen den Magneten kracht.
„Olli!“, brüllt Tim und springt gerade noch rechtzeitig zurück, bevor der massive Magnet zwischen ihm und Olli in den Boden schlägt.
Immer noch die Kransteuerung in der Hand taumelt Rüdiger rückwärts. Die Ketten an der Pumpe rasseln, als sie mit Schwung hinauf Richtung Decke fährt. Rüdiger reibt sich mit der freien Hand die Augen, als würde er gar nicht merken, dass der Daumen seiner anderen Hand weiter gegen den Steuerknopf drückt. Erst als Mel vorsprintet und ihm die Fernbedienung entreißt, schaut er überrascht auf.
Rüdigers Blick ist erst wirr, dann schweift er völlig ab. Er schnauft schwer. Seine Hände fuchteln blind in der Luft herum, als würden sie etwas suchen. Dann fasst er sich an den Kopf und stöhnt leise. Seine Knie knicken ein, und er sackt einfach in sich zusammen. Mit einem langen, tiefen Zug entweicht alle Luft aus seinem Körper, bis er völlig schlaff daliegt.
Ich kann sehen, wie Tim entsetzt und Olli verwundert hinüberstarren, beide unfähig sich zu bewegen.
Mel, die direkt vor Rüdiger steht, ist weiß wie Druckerpapier. Sie weicht zurück, ihre Augen sind vor Schreck weit aufgerissen. Auch ihre Knie scheinen nachzugeben, doch sie kann sich halten, bis sie rückwärts an die Wand stößt. Ich will ihr helfen und renne auf sie zu. Aber was soll ich tun? Ich kann nur dastehen und beobachten, wie sie mit dem Rücken an der Wand hinabrutscht, bis sie den Boden erreicht. Sie kauert sich hin und zieht die Knie an ihre Brust, genauso wie ich es mache, wenn ich Angst habe.
Ihre Augen starren auf Rüdigers leblosen Körper und die qualmende Zigarette, die an seinen toten Lippen klebt.
Ich verliere den Boden. Als würde sich die Wirklichkeit um mich herum auflösen und einem dichten Nebel weichen. Das Labor verschwimmt als Erstes. Ich spüre weder die Wand hinter mir, noch den kalten Estrich, auf dem ich sitze. Für einen letzten Moment höre ich das metallische Rasseln der Ketten, an denen die schwere Stahlpumpe bedrohlich über mir schwingt, und die gedämpften Stimmen von Olli und Tim. Sie klingen erregt. Doch dann verstummen auch sie. Nichts ist mehr da. Nicht einmal mehr ich selbst. Mein Körper hat sich aufgelöst. Ich bin nur noch ein Geist, ein Gedanke, eine vor sich hin treibende Seele, frei von Raum und Zeit.
Es ist weder schön noch unangenehm. Es ist einfach, wie es ist. Ich schwebe durch eine watteweiche Welt, ohne Richtung, ohne Ziel. Ich spüre nichts. Nichts ist mehr wichtig. Ich gleite dahin durch den Nebel der Verdrängung. Weiter und weiter. Hinein ins makellose Weiß.
Irgendwann werden die Schwaden durchlässig. Verschwommene Bilder ziehen an mir vorüber. Sie formen sich aus farblosen Schlieren, kommen, verschwinden und kehren zurück. Ich versuche, die Augen zu schließen. Ich möchte nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen. Ich möchte hier bleiben, in meiner behaglichen Wolkenwelt. Ich will nicht zurück. Doch ich spüre, dass ich falle. Der Nebel verweigert mir den Halt. Ich stürze durch einen weißen Tunnel, hinab in eine kalte, harte Wirklichkeit.
Meine Füße landen auf festem Grund, und vor meinen Augen formt sich eine Welt, eine neue Welt, löst sich aus dem Nebel wie eine alte Erinnerung.
Ein Mädchen mit langen braunen Zöpfen steht vor mir. Sie ist furchtbar blass. Ihre blauen Augen sind vor Schreck weit aufgerissen, und aus ihrem Mund dringt ein Schrei: „Mama!“
Vor dem Kind, auf dem schwarz-weiß gekachelten Boden liegen die Scherben eines zerbrochenen Glases in einer Pfütze aus Wasser. Jemand hat Tabletten wie bunte Bonbons über dem Boden verstreut.
Mein Magen zieht sich zusammen. Ich ahne, was kommt, und will es nicht sehen, es nicht noch einmal erleben. Doch ich kann nicht anders. Ich folge dem Blick des Mädchens, folge dem Muster der schwarz-weißen Kacheln, bis sich mein Blick an einer zarten Hand verfängt. Ich muss sie nicht anfassen. Ich weiß genau, wie sie sich anfühlt. Kalt und leblos und tot.
Ein Mann in weißem Kittel beugt sich über den Körper der jungen Frau, die vor uns auf dem Boden liegt. Er fühlt den Puls, leuchtet ihr mit einer Taschenlampe direkt in die Augen. Doch die Pupillen reagieren nicht auf den optischen Reiz. Nach einer Weile dreht er sich um und schüttelt bekümmert den Kopf.
Das Mädchen fällt auf die Knie. Es schluchzt leise. „Ich habe es nicht extra gemacht.“
Sie tut mir so leid. Sie kann nichts dafür. Es war ein Unfall. Ihr Vater wird es ihr später erklären. Unfälle geschehen. Niemand trägt daran die Schuld.
Die Kleine zittert. Ihr Körper bebt. Der Schmerz schnürt ihr die Kehle zu, sodass nicht einmal mehr ein Schluchzen zu hören ist. Ich versuche, zu ihr zu gehen. Ich möchte sie in den Arm nehmen. Ihr ein Lied ins Ohr singen, so wie ihre Mutter es früher getan hat. Ich muss ihr sagen, dass alles gut wird, dass das Leben weitergeht. Aber bevor ich sie erreichen kann, zieht jemand das Kind mit sich fort.
Ich bleibe allein zurück, während um mich herum wieder der Nebel aufzieht. Der weiße Kittel des Arztes vermischt sich mit den Schwaden, die bunten Pillen verblassen. Nur der tote Körper ist noch da. Dann löst auch er sich auf. Und das Bild meiner Mutter verschwindet im Strudel der Erinnerung.
„Akutes Leberversagen“, vermutet der Notarzt, den Olli gerufen hat. „Sie müssen sich keinen Vorwurf machen. In so einem Fall kommt jede Hilfe zu spät.“ Er setzt sich zu Mel, die jetzt im Kontrollraum auf einem Stuhl hockt und einen Kaffee schlürft. „Wie geht es Ihnen?“ Er hat eine freundliche Stimme.
Zwei Männer, die ich nicht kenne, kommen aus dem Labor. Der eine hält ein Notizbuch unter dem Arm und trägt eine braune Cordhose. Er ist ziemlich groß und knickt die Knie beim Laufen komisch ein. Der andere trägt Jeans und ein gestreiftes Hemd.
Der Jeans-Mann dreht sich nach hinten und sagt zu irgendjemandem, den ich nicht sehen kann: „Wir sind fertig, Sie können die Leiche jetzt mitnehmen.“
Er zieht ein Handy aus der Tasche und tippt irgendetwas ein, während sein Cordhosen-Kollege vor Mel in die Knie geht, bis sein Gesicht auf gleicher Höhe mit ihrem ist.
„Vielen Dank für Ihre Geduld.“
Ich glaube, das Gerede kann er sich sparen. Mel starrt nur stumm in ihren Kaffee und bekommt gar nichts mit, und dem Notarzt ist es sowieso egal.
Trotzdem redet er weiter. „Leider muss bei jedem Todesfall der KDD gerufen werden. Die StPO verlangt eine ordnungsgemäße Leichenschau.“
Dass Mel ihn nicht beachtet, scheint ihn nicht zu stören. Er richtet sich wieder auf, nickt Olli und Tim zu und folgt zusammen mit seinem Kollegen den beiden Rettungssanitätern, die Rüdigers Körper auf einer Bahre zum Fahrstuhl schieben.
Der Notarzt wendet sich wieder an Mel. „Sie haben einen leichten Schock. Am besten gehen Sie nach Hause und schlafen sich richtig aus“, sagt er sanft.
Doch Mel schüttelt den Kopf. „Ich habe viel zu tun.“
Der Arzt lächelt. „Das sollten Sie auf morgen verschieben. Kann ich jemanden für Sie anrufen, damit Sie abgeholt werden? Sie sollten nicht allein fahren.“
Mich stört das besorgte Getue des Arztes ein bisschen. Ich mache ihm ja keinen Vorwurf. Er kann nicht wissen, dass ich da bin und auf Mel aufpasse. Genau genommen, weiß ja nicht einmal Mel das. Aber ich wünsche mir, dass er jetzt geht. Tim und Olli sollen auch verschwinden. Mel braucht Ruhe. Zumindest das ist doch offensichtlich.
„Ich rufe ihren Vater an“, höre ich Tim hinter meinem Rücken sagen und fahre herum.
Nein, das will ich nicht. Alle, nur nicht ihn.