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Sonntag, 29. März

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Es ist Sonntagnachmittag. Sonnenstrahlen bahnen sich einen Weg durch die grünen Baumkronen, als ich aus der U-Bahn steige und die letzten Meter zu meiner Wohnung am Stadtpark laufe. Trotz aller Erfolge bin ich froh, endlich wieder zu Hause zu sein.

Erschöpft lasse ich den Koffer im Flur stehen, werfe die Briefe auf die Kommode, meine Schuhe in die Ecke und gehe auf direktem Weg in die Küche, um heißes Wasser für einen Kaffee aufzusetzen.

Ich habe insgesamt acht Vorträge in sechs Tagen gehalten. Ich habe Universitäten im ganzen Land besucht, von Gießen über München bis Berlin. Ich war im Radio, in einem Wissenschaftszentrum und sogar in einem Planetarium. So königlich wie in Frankfurt bin ich zwar nicht mehr empfangen worden, aber auch die übrigen Hotels waren nicht schlecht. Manchmal gab es ein gemeinsames Abendessen, dann wieder nur Wein und Käse. Ich habe vorgetragen, berichtet und erzählt, war ständig von neuen, freundlichen, aber fremden Menschen umgeben. Die einen waren leidenschaftlich, die anderen neugierig interessiert. Alle stellten Fragen über Fragen und wünschten mir am Ende das Beste. Doch jetzt merke ich, dass auch Wohlwollen ermüden kann. Ich bin froh, heute Abend in meinem eigenen Bett zu schlafen und für den Rest des Tages mit niemandem mehr zu sprechen.

Das Wasser kocht. Mit dem Messlöffel fülle ich eine Portion Pulver in die Kanne und gieße den Kaffee auf. Er riecht wunderbar. Auch das habe ich zwischen all den Cappuccinos, Macchiatos und Milchkaffees vermisst: meinen eigenen, ganz banal aufgebrühten Kaffee ohne Schnickschnack. Nachdem der braune Satz auf den Kannenboden gesunken ist, drücke ich langsam das Sieb hinunter und gieße mir eine große Tasse ein. Weil er noch viel zu heiß zum Trinken ist, nehme ich die Tasse mit auf den Balkon und lasse mich auf einen der Klappstühle fallen. Für einen Moment schließe ich die Augen, genieße den Kaffeeduft in meiner Nase und die Sonnenstrahlen auf meiner Haut.

Es ist eigenartig. Obwohl ich jeden Vortrag vor einem anderen Publikum gehalten habe, wurden am Ende jedes Mal mehr oder weniger dieselben Fragen gestellt. Es gab die Zuhörer mit Fachwissen, Kollegen aus verwandten Bereichen, die detaillierte Fragen zum Experiment stellten. Sie erkundigten sich nach dem Energiefenster oder dem Einfluss des radioaktiven Zerfalls auf die Fehleranalyse. Ihre Fragen zu beantworten, fiel mir leicht. Doch weil die meisten Vorträge öffentlich waren, mischten sich zwischen die Fachleute auch die naturwissenschaftlich bewandten Laien. Sie fragten nach den großen Zusammenhängen, vermischten wahllos Fachbegriffe wie Stringtheorie, Quantengravitation und Supersymmetrie und meinten, ich wüsste, wovon sie redeten. Meist waren es ältere Herren. Ihre Lesebrille saß entweder auf der Nase oder steckte irgendwo in ihrem ergrauten Haar, unter ihrem Arm klemmte die Ausgabe eines populärwissenschaftlichen Magazins. Erst habe ich mich bemüht, den Sinn hinter ihren Fragen zu entschlüsseln. Doch irgendwann habe ich festgestellt, dass die Mühe völlig vergeblich war und zum Glück auch nicht erwartet wurde. Im Grunde wollten sie bloß ihr sorgfältig angelesenes Halbwissen zur Schau stellen und begnügten sich mit einem nachdenklichen Nicken meinerseits anstelle einer fundierten Antwort.

Doch dann gab es auch immer mindestens einen Karl-Peter, der zwar keine Frage stellte, aber trotzdem auf eine Antwort lauerte. Wie zufällig machte er eine Bemerkung zu Rüdigers und Georges Tod, als wäre der Verlust meiner Mentoren eine schicksalhafte Fügung, die auf jeden Fall kommentiert werden musste, wobei am Ende beharrlich die eine unausgesprochene Frage in der Luft hing: Was, wenn es doch kein Zufall war? Bis zum Schluss meiner Reise ist mir keine passende Erwiderung eingefallen. Wie soll ich auch auf eine Frage antworten, die eigentlich gar nicht gestellt wird?

Während ich meinen Kaffee schlürfe, habe ich das Gefühl, die Antwort könnte in Georges Todesursache liegen. Wahrscheinlich gibt es eine völlig harmlose Erklärung, eine, die alle Anschuldigungen, vor allem auch die nicht ausgesprochenen, entkräftet und jeden Karl-Peter entwaffnet. Ich sollte Phil schreiben und ihn fragen. Aber nicht mehr heute. Heute habe ich frei.

Ich stelle die leere Tasse unter meinen Stuhl und schließe die Augen. Jetzt möchte ich nur die Stille genießen, mich von der Sonne wärmen lassen und spüren, wie ihre Strahlen meine Arme streicheln. Mit einem wohligen Seufzen lehne ich mich zurück und lausche dem Rauschen der Blätter, das wie Musik aus den alten Bäumen zu mir herüberweht.

Ich mag es, wenn Mel sich entspannt. Ich kraule ihren Arm und summe leise vor mich hin. So könnte ich ewig hier sitzen. Es gibt nur Mel und mich. Leider klingelt in diesem Moment das Telefon, und sie schreckt hoch, als würde sie aus einem schlechten Traum erwachen.

Wie war deine Reise?“, höre ich seine Stimme durch den Hörer schallen, und mir wird kalt, obwohl die Sonne scheint. „Oh, hallo Papa!“, murmelt Mel.

Ich glaube nicht, dass sie sich freut, ihn zu sprechen und frage mich, warum sie überhaupt ans Telefon gegangen ist. Sie hätte es einfach schellen lassen können. Es hätte schon wieder aufgehört.

Was machst du heute Abend?“

Ich weiß nicht. Wahrscheinlich gar nichts. Vielleicht bestelle ich eine Pizza und schaue mir einen Film an.“

Was hältst du davon, wenn ich dich zum Essen einlade? Dann kannst du mir Bericht erstatten.“

Mel seufzt, und ich hoffe, dass sie den Mut hat, einfach nein zu sagen. Das ist doch gar nicht schwer. Warum kann sie es nicht? Ich sehe, dass sie unglücklich die Augen zusammenkneift und die Nase krauszieht, als müsse sie sich entscheiden. ER oder sie. Dabei geht es nur um den einen Abend allein, ein paar Stunden für uns. Aber ich weiß, dass Mel ein schlechtes Gewissen hat, wenn sie an sich denkt. Als könnte sie für den Rest ihres Lebens immer nur seine Wünsche erfüllen und immer nur das tun, was ER will.

Mels Schultern hängen hinab. Sie windet sich mit ihrem ganzen Körper. Ich streichle sie weiter und versuche, ihr Mut zu machen.

Tatsächlich holt sie tief Luft und sagt: „Das ist lieb, aber die Reise war …“

Leider hat sie keine Chance. Natürlich nicht. Ich hätte es wissen können. ER hört nur, was ER hören möchte.

Gut, wenn du Pizza möchtest, reserviere ich einen Tisch in der Osteria. Dann sind wir heute Abend beide nicht allein.“

Mel beißt sich auf die Lippe und versucht tatsächlich, ihn umzustimmen. „Können wir das Essen nicht auf morgen verschieben?“, fragt sie.

Ich bin richtig stolz auf sie.

ER ignoriert es natürlich. „Ich bin um 19 Uhr da. Komm runter, ich warte im Auto. Dann brauche ich keinen Parkplatz zu suchen.“

Bevor Mel noch etwas sagen kann, hat ER aufgelegt.

Damit ist unser gemütlicher Nachmittag vorbei. Obwohl bis sieben Uhr noch Zeit ist, steht Mel auf und beginnt aufzuräumen. Sie bringt die Tasse in die Küche zurück und zerrt den Koffer aus dem Flur ins Schlafzimmer, um die Wäsche zu sortieren. Ein paar Minuten später läuft die Waschmaschine. Mel sitzt am Esstisch und sieht die Post durch.

„Es freut mich zu hören, dass deine Reise erfolgreich war.“

Die Osteria ist für einen Sonntagabend gut gefüllt. An den Tischen sitzen Paare jeden Alters, und hinten in der Ecke feiert eine Familie Omas 75. Geburtstag.

Die Hände meines Vaters sind über der Speisekarte verschränkt. Er hat noch nicht einmal hineingeschaut. Ohne Umschweife kommt er direkt zum Punkt. „Das wird sich herumsprechen. Darauf kannst du bei der nächsten Vortragsrunde aufbauen.“

„Oh, nein. Eine dieser Ochsentouren reicht mir“, murmle ich, während ich die Vorspeisen überfliege. Bruschetti – das klingt gut, nach Tomaten, frischen Kräutern und vor allem nach Sommer. „Ich denke, ich habe meinen Anteil an Vorträgen erfüllt.“

„Da liegst du …“

Zum Glück tritt in diesem Moment der Kellner an unseren Tisch. „Was möchten Sie trinken?“

„Eine Flasche von Ihrem Sangiovese“, bestellt mein Vater und wendet sich wieder an mich: „Du hast gerade erst angefangen.“

„Gran Sasso Sangiovese“, bestätigt der Ober und kritzelt etwas auf seinen Block. „Grazie.“

„Das passt zum Thema.“ Mein Vater wirft mir einen bedeutungsvollen Blick durch die Brillengläser zu. „Ich habe gehört, dass Enrico Roggero eine fachübergreifende Konferenz in L’Aquila am Gran Sasso organisiert.“

Ich nicke abwesend, und drehe mich auf der Suche nach dem Kellner auf meinem Stuhl um. „Ich hätte gerne ein Wasser“, rufe ich ihm hinterher und hoffe, dass er mich gehört hat, denn er ist bereits auf dem Weg zum nächsten Tisch.

„Soweit ich weiß, will er dich zu einem Vortrag einladen, wahrscheinlich ein Overview Talk.“

„Ich weiß. Seine Einladung liegt auf meinem Küchentisch, zusammen mit mindestens 20 anderen. Doreen hat sie alle an meine Privatadresse weitergeleitet.“

„Wieso das?“

„Frag nicht. Vermutlich wollte sie ihren Schreibtisch aufräumen. Jedenfalls hat sie alle Briefe, die an Rüdiger oder mich adressiert waren, in einen großen braunen Umschlag gesteckt und mir geschickt, einschließlich der Werbeprospekte.“

„Wusste sie nicht, dass du auf Vortragsreise bist?“

„Doch, natürlich.“

Ich seufze, denn ich habe mich längst damit abgefunden, dass Doreen ihre Aufgaben als Sekretärin sehr individuell auslegt. Rüdiger hatte vor ein paar Jahren einmal überlegt, sie zu entlassen, aber feststellen müssen, dass es quasi unmöglich ist, eine Angestellte des Öffentlichen Diensts loszuwerden, will man nicht gleich die ganze Stelle verlieren oder auf unbestimmte Zeit an einen anderen Lehrstuhl abtreten.

„Du musst dein Personal im Griff haben“, stellt mein Vater mit einem strengen Blick fest, als sei es meine Schuld, dass die faulste Sekretärin der Welt ausgerechnet eines unserer Büros besetzt hält.

„Personal? Doreen? Diese Bezeichnung verdient sie nicht“, entgegne ich trocken. Bevor ich mich bremsen kann, rutscht mir heraus: „Stell dir vor, die E-Mails hat sie mir auch alle nachgeschickt. Aber nicht etwa digital, sondern per Schneckenpost, ausgedruckt und in einem extra Briefumschlag.“

Mein Vater schüttelt missbilligend den Kopf, während der Kellner zwei Weingläser auf unseren Tisch stellt. Mit geübtem Griff entkorkt er die Flasche und schenkt ein.

„Gran Sasso Sangiovese, prego.“

„Entschuldigung, ich hatte ein Wasser bestellt“, werfe ich ein, werde jedoch nur mit einer hochgezogenen Augenbraue bedacht.

„Haben Sie gewählt?“, erkundigt sich unsere Servicekraft stattdessen.

„Eh, nein“, antworte ich verwirrt, während mein Vater seinerseits den Kellner übersieht, bis dieser freiwillig den Rückzug antritt.

„Mel, du hast den Lehrstuhl kommissarisch übernommen. Damit obliegt dir die gesamte Verantwortung, auch für das Personal.“

Ich höre nur mit halbem Ohr zu, während ich die Auswahl an Pizzas überfliege. Das Thema ist mir unangenehm. Kommissarische Leitung, das klingt viel zu groß. Und was heißt es schon? Ich versuche nur, meinen Job zu machen.

„Morgen rufst du Doreen in dein Büro und erklärst ihr klar und deutlich, dass sich gewisse Dinge ab sofort ändern.“

„Hast du schon mal die Pescatore probiert?“

„Mel!“

Ich merke, dass ich auf meinem Stuhl hin und her rutsche wie ein Schulmädchen. Im Grunde weiß ich, dass er recht hat. Personalverantwortung liegt mir gar nicht. Außerdem vermute ich stark, dass ein Gespräch mit Doreen keinerlei Aussicht auf Erfolg hat. Wenn Rüdiger das nicht geschafft hat, werde ich erst recht nichts ausrichten können. Der einzige Effekt wird eine längere Krankschreibung sein, was bedeutet, dass ich auch die wenigen Aufgaben übernehmen muss, die Doreen freiwillig erledigt, wie Kaffeepulver einkaufen oder das Büromaterial verwalten.

„Acqua minerale, prego.“ Die Stimme des Kellners reißt mich aus meinen Gedanken. Er stellt schwungvoll eine Flasche Wasser auf den Tisch. Das Eingießen vergisst er.

Ich hebe vorsichtig den Blick. Aber mein Vater studiert endlich die Hauptspeisen und sagt für einen Moment nichts. Ich gieße mir also Wasser ein und beobachte das ältere Pärchen am Nachbartisch. Sie sind beide weit über 60, aber offenbar frisch verliebt. Er streichelt ihre Hand, während sie gemeinsam überlegen, ob sie für den geplanten Kurztrip nach Brügge wohl ein Doppelzimmer buchen können, aus Kostengründen, versteht sich. Bei ihrem Anblick wird mir ganz warm ums Herz.

Leider brennt mein Vater darauf, sein Verhör fortzusetzen. Als der Kellner wieder an unserem Tisch erscheint, hat er bereits meine Besuche in Frankfurt und Gießen abgehakt und ist in München angekommen.

„Gustav meint, dass du dich auf die freie Stelle bewerben sollst."“

„Ich dachte, er will Tobi Neuer.“

„Mel! Natürlich hätte Gustav lieber seinen eigenen Mann. Aber er ist kein Dummkopf. Er weiß genau, dass die Frauenbeauftragte darauf spekuliert, ihm eine ihrer Kandidatinnen vor die Nase zu setzen. Daher bringt er lieber seine eigene weibliche Kandidatin ins Rennen.“

Ich schaue demonstrativ auf die Speisekarte, die immer noch aufgeschlagen vor mir liegt.

„Haben Sie gewählt?“, säuselt der Kellner, während er geschäftig Block und Kuli zückt.

„Bruschetta und eine Pizza mit Parmaschinken und Rucola“, entscheide ich.

„Saltimbocca alla romana.“ Mein Vater wirft dem Kellner einen Blick zu, der ihn abschwirren lässt, noch bevor er unsere Bestellungen auf seinen Block gekritzelt hat.

„Was war das eigentlich für eine Aktion im Radio? Einige Kollegen haben diesen Beitrag im Deutschlandfunk gehört und ihre Studenten in der Vorlesung auf den Podcast aufmerksam gemacht.“

„Oh, nein.“

Die Vorstellung, dass jetzt alle wieder und wieder hören können, was ich im Radiointerview live und spontan von mir gegeben habe, gefällt mir nicht.

„Keine Sorge. Du hast dich gut geschlagen. Auch wenn du dir den Witz über Otto Hahns Frau hättest sparen können.“

Ich merke, dass ich rot werde. Das Interview wurde abends live aus dem Studio gesendet. Der ganze Tag war schon voll gewesen mit einer öffentlichen Vorlesung an der Berliner TU und anschließendem Meet and Greet. Ich hatte die Einladung des Senders nur angenommen, weil das Studio nicht weit entfernt lag, und ich dachte, dass es eh niemand hören würde. Doch dann verlief der Abend überraschend angenehm. Die Redakteurin war sehr sympathisch, sodass sich das Interview zu einem netten Gespräch über die Naturwissenschaften im Allgemeinen, Frauen in der Forschung und unser aktuelles Experiment entwickelte. So kam es, dass ich am Ende in einem Anfall ungewohnter Redseligkeit einen Witz zum Besten gab, den ich am Tag zuvor aufgeschnappt hatte. Eigentlich war er harmlos: Wie spaltete Otto Hahn den ersten Atomkern? Antwort: Er gab ihn seiner Frau und bat sie, ihn nicht kaputt zu machen. Die Redakteurin und ich mussten darüber ziemlich lachen. Nachher habe ich erfahren, dass innerhalb der nächsten Stunde bereits fünf E-Mails und drei Anrufe beim Sender eingingen, die sich alle mit der offen zur Schau gestellten Frauenfeindlichkeit auseinandersetzten, wenn auch in unterschiedlicher Schärfe.

Mein Vater mustert mich über seine Brillengläser hinweg. „Ich hätte mir etwas mehr Ernsthaftigkeit erhofft“, stellt er fest. Doch als ich einigermaßen zerknirscht meinen Blick senke, fügt er versöhnlich hinzu: „Den Studenten hat es natürlich gefallen.“

„Keine Sorge, Papa. Es kommt nicht wieder vor. Das war mein erstes und letztes Radiointerview.“

„Wie kommst du darauf?“

„Weil ich mich jetzt endlich meiner Forschung widme. Doreen kann alle weiteren Anfragen ablehnen.“ Vorausgesetzt, dass das nicht unter ihrer Würde ist, denke ich im Stillen, spreche es aber lieber nicht laut aus. Zur Not werde ich die Absagen selbst übernehmen. Allein die Vorstellung, den Punkt Vortragsreise auf meiner To-do-Liste zu streichen, nimmt mir einen Stein von der Seele. Eine Reise habe ich erfolgreich hinter mich gebracht. Das reicht. Ich habe meine Pflicht erfüllt, mein Soll getan, alles Weitere wäre Kür.

Ich nehme mir eines der frischen Bruschetta, die gerade vor mir abgeladen werden, und beiße in das warme, knusprige Brot mit dem kühlen Belag. Es schmeckt wunderbar. Ein Tropfen Olivenöl rinnt an meinem Kinn hinab, und ich suche nach einer Serviette, um ihn unauffällig zu entfernen.

Mein Vater beobachtet mich. „Du solltest diese Entscheidung noch einmal überdenken. Du musst ja nicht sofort wieder losfahren. Aber in der vorlesungsfreien Zeit nach dem Sommersemester könntest du eine zweite Reise planen. Bis dahin hast du in der Tat anderes zu tun. Das wird man verstehen.“

„Wie meinst du das?“, frage ich verunsichert.

Statt zu antworten, nimmt mein Vater seine Brille ab und putzt sie umständlich. Es dauert eine Weile, bis er fertig ist. „Otto Mannström musste seinen Kopf durchsetzen“, erklärt er schließlich.

Da es offensichtlich ist, dass er auf eine Reaktion wartet, frage ich brav: „Und das bedeutet?“

„Wir mussten alles ändern.“ Er schaut mir direkt in die Augen. „Aber für dich ist es gut. Du wirst die Einführung in die Experimentalphysik von Otto übernehmen.“

„Was?“, frage ich entsetzt. Meine Stimme klingt belegt und das liegt nicht am Bruschetta. Die Einführung in die Experimentalphysik ist eine Vorlesung, die jede Woche mit mindestens fünf Stunden stattfindet, plus Übungen! „Wie soll ich das schaffen?“

„Ich habe mich in deiner Abwesenheit für dich eingesetzt.“

„Wenn das deine Art ist, dich für mich einzusetzen, dann vielen Dank!“ Ich merke, dass ich viel zu laut spreche. Das Paar am Nebentisch dreht sich irritiert zu uns um. Aber es ist mir egal. „Bist du wahnsinnig?“

„Nein, nur besorgt.“ Mein Vater lächelt mich an.

Seine Überlegenheit treibt mir die Tränen in die Augen. Ich bin so wütend, dass mir alle Worte fehlen. Deswegen starre ich ihn nur an. Doch er lächelt, völlig unbeirrt.

„Die Vorlesung wird sich sehr gut in deinem Lebenslauf machen, wenn du dich auf die W3-Professur in München bewirbst. Und auch hier in Bochum wird dein Einsatz nicht unbemerkt bleiben.“

„Wofür du natürlich sorgen wirst!“, stoße ich hervor und lege das letzte Bruschetta wieder zurück auf den Teller. Mir ist der Appetit vergangen. Dafür habe ich umso größeren Durst.

„Natürlich unterstütze ich dich“, fügt er hinzu. „Bochum ist längst nicht mehr die Universität der Arbeiterkinder. Wir haben einen guten Ruf. Nicht zu vergleichen mit CalTech oder dem MIT natürlich. Aber anständig.“ Mein Vater verzieht seinen Mund zu einem leicht zynischen Lächeln, wie immer wenn er die Ruhr-Uni mit den großen amerikanischen Universitäten vergleicht.

Obwohl ich mir fest vorgenommen habe, nach der Reise mit dem Alkohol kürzerzutreten, stürze ich das Glas Wein in einem Zug hinunter. Der Alkohol erfüllt seine Bestimmung. Er steigt von der Speiseröhre direkt in meinen Kopf, wo er umgehend seine Wirkung entfaltet.

„Wie konntest du nur?“, rufe ich und fühle, wie der Zorn meine Wangen erhitzt.

„Mel!“ Mein Vater greift nach meiner Hand.

Am liebsten würde ich sie wegziehen. Doch er ist stärker, viel stärker. Ich hasse ihn. Aber ich kann nicht verhindern, was seine Berührung in mir auslöst. Mein Widerstand schmilzt dahin. Obwohl ich es nicht möchte, obwohl sich etwas in meinem Inneren mit aller Kraft dagegen sträubt, übertönt die Stimme meines Gewissens jeden Widerstand in mir. Laut durchdringen mich die alten Gedanken: Mein Vater meint es nur gut mit mir. Ich bin alles, was er hat. Ich darf ihn nicht enttäuschen.

Und mein Zorn weicht dem schlechten Gewissen. Wieso bin ich eine derart undankbare Tochter? Das hat er nicht verdient. Nicht auch noch von mir. Ich sollte tun, was er von mir erwartet. Es ist nur zu meinem Besten.

„Du hättest damals den Ruf zum CalTech annehmen sollen“, flüstere ich.

Ich spüre die Hand meines Vaters auf meiner geballten Faust. Ich spüre seine Zärtlichkeit und seine Unnachgiebigkeit.

„Deine Mutter hätte die fremde Umgebung nicht vertragen. Das weißt du.“

Damals ahnte ich es nicht. Ich war noch ein Kind. Heute weiß ich, dass die Berufung an die renommierte kalifornische Universität seine große Chance gewesen wäre. Vielleicht hat er abgesagt in der Hoffnung, dass sich noch eine zweite Chance finden würde, irgendwann. Doch die gab es nicht mehr.

Mein Vater schaut mich an. „Jetzt geht es um dich. Es ist deine Karriere, dein Labor und deine Arbeit, die auf dem Spiel steht, Kleines. Es geht mir nur um das, was dir wichtig ist.“

Ich merke, wie sich langsam, ganz langsam meine Hand in der meines Vaters entkrampft und endlich die ihr entgegengebrachte Zärtlichkeit annimmt. Er war immer da, wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Ich konnte mich immer auf ihn verlassen, ihm vertrauen. Als meine Mutter tot war, hat mein Vater uns allein großgezogen. Er war es, der mich darin bestärkt hat, Physikerin zu werden und seinen großen Fußstapfen zu folgen. Ohne seinen Zuspruch wäre ich verloren gewesen. Er wusste immer, was gut für mich war. Seinem Urteil konnte ich vertrauen – und das kann ich heute noch. Er würde mich nie enttäuschen.

Oder doch? Der Zweifel ist plötzlich da, hat sich in meine Gedanken geschlichen, bevor ich ihn aufhalten und den mentalen Verrat verhindern konnte. Wo kommt er her?

„Ist etwas, Mel?“

Ich schüttle den Kopf. Nein, dieser Zweifel ist völlig absurd. Mein Vater ist ein guter Mensch. Mit aller Kraft dränge ich ihn zurück. Ich will ihn nicht hören. Er ist unangebracht, ungerecht. Undankbar und kindisch.

Zuversicht, das ist das Gefühl, das ich jetzt brauche. Ich will es schaffen. Ich kann und ich werde mein Labor retten. Alles ist möglich, solange mein Vater zu mir steht. Eine Vorlesung mehr werde ich auch noch packen.

„Danke, dass du für mich da bist“, sage ich, so fest ich kann.

Mein Vater winkt ab. „Die Vorlesung hört sich schlimmer an, als sie ist.“

„Wie soll ich das schaffen?“

Er lächelt. „Genauso wie alle anderen vor dir es auch geschafft haben. Es ist seit Jahrzehnten dasselbe. Die Themen für die einzelnen Stunden liegen fest. Du musst den Stoff nur vortragen.“

„Und die ganzen Experimente?“

„Um die kümmert sich Herr Homann. Du bist die Showmasterin. Du schreibst die Formeln aus dem Skript an die Tafel, stellst dich für den einen oder anderen Versuch zur Verfügung und überlässt ihm den Rest. Es ist eine Show. Mehr nicht.“

„Und was, wenn …? Wenn wegen mir und meiner miserablen Vorlesung die Studenten scharenweise die Uni verlassen?“

Mein Vater schüttelt den Kopf. Doch er lächelt. „Mel, wenn jemand die Studenten fesseln, motivieren und zum Lernen bewegen kann, dann du!“ Weil ich nicht darauf anspringe, fährt er fort: „Wenn du ein bisschen von deiner eigenen Begeisterung vermittelst, von deiner Faszination für die Physik, werden sie dich lieben.“

„Ehrlich?“

Der eben noch aufbrausend wirkende Wein verteilt sich langsam in meinen Adern. Er durchströmt meinen Körper und hinterlässt ein wundervoll beruhigendes Gefühl. Die Erinnerung an die Vorträge der letzten Woche schleicht sich in mein Gedächtnis. An den Applaus und das gebannte Interesse des Publikums. Wie zur Bestätigung nickt mein Vater. Vielleicht hat er ja recht. Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm. Andere schaffen es auch.

Unauffällig tupfe ich mir die Augen mit einem Taschentuch ab, während der Kellner das angebissene Bruschetta abräumt und unsere Hauptspeisen aufträgt.

„Was hältst du davon, wenn du dir Unterstützung ins Team holst?“ Mein Vater breitet eine Serviette über seinem Schoß aus.

„Wie meinst du das?“, frage ich, während ich nach dem ersten Stück Pizza greife.

„Nun, John Dalen ist pensioniert. Im Grunde gibt es nichts, was ihn in den USA hält. Vielleicht würde er sich freuen, dir bei deinen aktuellen Versuchen unter die Arme zu greifen. Nicht, dass du das nötig hättest.“

Für einen Moment beobachte ich meinen Vater, der gelassen unsere Weingläser nachfüllt.

„Meinst du, er würde das tun?“ Allein die Vorstellung, John in meiner Nähe zu haben, hebt meine Stimmung. Er wäre mir im Labor eine große Hilfe. Aber viel mehr noch sehne ich mich nach seinem moralischen Beistand, nach seiner Ruhe. Vielleicht könnte ich auch Phil bitten zu kommen.

„Wieso nicht?“ Mein Vater lächelt und hebt sein Glas. „Auf dich, meine Kleine, und deine goldene Zukunft. Du weißt ja, sie liegt im Inneren der Sterne.“

Ich hebe ebenfalls mein Glas und merke, dass ich lächle. „Und das Innere der Sterne kenne ich besser als die meisten anderen, oder?“

Mein Vater lacht laut auf. „Das ist mein Mädchen!“

Neondunkel

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