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Entscheidungen

Zweiter Tag Intensivstation.

Ich dachte nichts, tat nichts, konnte nicht denken, war irgendwie verkabelt, war überall angeschlossen, nur nicht am richtigen, dem unbeschwerten Leben. Das Aufstehen war unmöglich und mir war es vor aller Welt peinlich, besonders vor meiner Familie, dort einfach so rumzuliegen. Auf andere angewiesen zu sein, und nicht selbst, als Motor die Welt das Ummichherum zu motivieren, war eine neue Erfahrung, keine gute.

Die Maschinen summten, der Brustkorb tat bei geringster Bewegung höllisch weh, husten oder aufrichten im Bett waren mit großen Schmerzen verbunden. Also lag ich da, rührte mich kaum, sah den Zahlen zu, die auf den Geräten am Bett aufflackerten, schnappte ein paar Gesprächsfetzen der Schwestern auf und dachte, wenn ich allein und ohne Besuch war, über mein Leben nach.

Jetzt, wo ich das alles aufschreibe, erinnere ich mich an den Morgen des zweiten Tages auf der Intensivstation. In der vorangegangenen Nacht hatte ich kaum geschlafen, war erst gegen Morgen eingenickt. Ob ich zu jener Zeit geträumt hatte, weiß ich nicht mehr. Und wenn es so war, will ich die Träume von einst gar nicht kennen. Fremd war mir alles, als ich die Augen aufschlug. Sogar mir selbst war ich fremd.

In meiner Nähe klapperte etwas. Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen. Hellwach im Bett liegend überlegte ich, dass das alles um mich herum vielleicht doch nur ein Märchen war, ein Traum, ein Ausflug meiner Fantasie, mit der ich ja reichlich gesegnet war und bin. Ich wollte die Augen nicht öffnen, stellte mir vor, dass ich zuhause liege und wunschdachte, dass all das, was ich so hörte, all das Unwirkliche, Fremde, Schreckliche aus unserem Fernseher in den heimischen vier Wänden herausquoll. Ich wollte, dass das so ist, und kniff die Augen noch fester zusammen. So sollte es sein, ich wünschte es mir, sehnte Geräusche aus dem TV herbei, jeden anderen Gedanken schob ich beiseite. Illusion. Ich dachte und dachte und hoffte und hoffte. Dennoch musste ich mich entscheiden. So viele Möglichkeiten gab es ja nicht. Aufwachen war eine Option, mich der Realität stellen oder schlafen, schlafen, schlafen? Auf jeden Fall entscheiden!

Ich schwächle von Zeit zu Zeit, weiß nicht, wo ich hingehöre. Vertrau mir selbst nicht. Aber ich ahne oft, spüre nicht am rechten Ort zu sein. Ich weiß zu wenig von der richtigen Welt, von den Flecken auf der Erde, die besser zu mir passen würden. Hab mich nie so recht gekümmert. Doch jener Ort, jener weiße, kalte Ort, an dem ich mich befand, an dem man ausgeliefert ist und kaum noch etwas selbst entscheiden kann, ist der unrechteste, den ich mir für mich vorstellen konnte und kann.

Nun ja, in meinem Inneren wird ein nie endendes Theaterstück aufgeführt. Auch damals. Es aktualisiert sich unermüdlich, kriegt neue Farben, neue Ereignisse. Und ich lebte und lebe das alles mit. Es ist wie das Aufziehen eines Vorhanges, hinter dem sich eine andere Zeit verbirgt. Hoch und runter, auf und nieder. Da will ich hin, immer, in jene Welt, weil es dort schöner ist, denke ich, hoffe ich.

Kopfmenschen, wie ich einer bin, haben’s sowieso nicht leicht in den Gesellschaften, in denen heute so gelebt wird. Sie sind oft unverstanden. Diese Kopftypen werden still, hadern mit ihrem Ego, mit ihrer Lebensleistung, fragen alles nach und fetzen sich mit sich selbst, weil ihnen ihr Wissen nicht genügt.

Manchmal glaube ich, dass ich ein König bin. Der König der Kopfmenschen und Selbstzweifler, ihr Anführer. Na das ist doch mal was. Kann man sich ändern? Kann der Mensch sein Naturell verlassen und eine andere Identität leben, ohne sich vor dem Spiegel womöglich zu übergeben, weil man seine Prinzipien aufgegeben hat? Kann man seine Sicht auf die Welt, die Sicht auf sich selbst einfach so ablegen und sich neu orientieren? Ob das geht? Mit Hilfe geht das bestimmt. Jemand muss Stupsen, den Kopf drehen, zuhören, Augen erzählen lassen. Händehalten.

Irgendwann werde ich ja wohl endgültig mal mit dem Typen zu tun haben, der uns alle gebastelt hat. Den werde ich dann fragen, was er sich dabei gedacht hat uns/mich manchmal so leiden zu lassen. Und all die Fragen der Menschheit werde ich dem auch stellen. Wenn es »DEN« denn gibt, was ich ja, wenn ich ehrlich bin, gar nicht glaube. Allein deswegen, dass man ihm solche Fragen stellen würde, wäre wahrscheinlich Grund genug für ihn, sich niemals mit uns menschlichen Knallnasen auf kommunikativer Ebene einzulassen.

Manchmal will ich Wolke sein. Weiße Wolke. Von allen bewundert. Das wäre was! Ich könnte um die Welt düsen, würde mal größer und mal kleiner sein, wäre nah der Sonne, würde in Flugzeuge reingucken, die durch mich hindurchfliegen, würde es mal regnen lassen, würde Schatten spenden, würde lustige Formen annehmen und müsste keine Fragen beantworten nach warum und wieso. Ist Wolke sein auch eine Option bei der Reinkarnation? Ich glaub nicht. Wahrscheinlich wird mein Seelchen in einem Tannenzäpfchen verortet werden. Später werden es Liebespaare aufsammeln und an Bäume hängen, zur Kennzeichnung der Wege, um sie später wiederzufinden. Schön. Da denk ich doch sofort an Waldwiesen, daran, wie in beruhigender Stille die Liebenden Händchen haltend den Augenblick genießen. Auch denk ich daran, wie sie den Himmel beobachten, an dem ein Wölkchen vorbeisaust. Eine Wolke wird es sein, die ein paar feuchte Tröpfchen versprüht, die die beiden blinzeln lassen und dafür sorgt, dass sie sich gegenseitig das Wasser wegküssen. Und wenn sie dann schon mal dabei sind, auch das salzige, falls auch sie ein kleiner Kummer begleitet. Wolke wäre wirklich besser als Tannenzapfen.

Nein, ich wollte die Augen nicht öffnen. Ich wollte diese Welt nicht sehen. Ich war wie ein Vogel Strauß. Kopf in den Sand.

Ich war so allein.

Herzinfarkt - Eine wahre Geschichte von Ohnmacht, Hoffnung und Weiterleben

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