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Aufwachen auf der Intensivstation

Ein weißes Plastikteil, aus dem es rot herausleuchtete, steckte auf meinem rechten Zeigefinger.

Was ist denn das für ein Ding?

Ich hob die Hand an und drehte sie vor meinem Gesicht. Ist das wirklich meine Hand? Ich war verkabelt, auch das noch. Das Kunststoffteil, was da so leuchtete, hatte ein Kabel und das Kabel – ich folgte ihm mit meinen Blicken – endete in einem Gerät, das wechselnde Zahlen und Kurven anzeigte. Wo war ich? Ich lag in einem Bett, aber nicht zuhause. Ringsherum Apparate, Stromleitungen, Schläuche, Töne und Gerüche. Ich sah an mir mehr Schläuche und Drähte baumeln als an einem Geschirrspüler. Hinter einem weißen Paravent, rechts neben mir, röchelte ein Tier oder war es ein Mensch? Furchtbare Geräusche. Ich konnte es nicht sehen, nicht einordnen. Ich dachte an mich, und zwar hoch und runter, weil ich etwas an mir spürte, was nicht zu mir gehörte. Das Teil auf der Fingerkuppe war ja schon mal das Erste, aber da war noch viel mehr. Auch die linke Hand war verbunden. Aus dem Verband heraus wand sich ein transparenter Schlauch mit roter Flüssigkeit. Blut? Ja. Auf der Position, wo normalerweise meine Armbanduhr meinen Künstlerarm schmückte, klebte ein blauer Knopf, der auch ein Kabel hatte, das irgendwohin führte. Ich musste an einen elektrischen Stuhl denken. Hatte ich etwas angestellt? War ich im Vorhof zur Hölle gelandet und würde ich gleich gesprengt werden? Ich wusste nichts mehr.

Laut war es dort gewesen. Irgendetwas piepte, auch gluckerte es in naher Umgebung, dann überall Schritte. Ein Dauerton aus einer Maschine heraus, die mit zig flackernden Lämpchen bestückt war, bohrte sich in meine Ohren. Und dann auch noch der Mensch hinter dem Vorhang. Inzwischen hatte ich für mich festgelegt, wahrscheinlich aus Angst vor irgendwas Gefährlichem, dass es nur ein Mensch sein konnte. Er stöhnte und schrie und wurde von mehreren Personen gerade versorgt. Es klang, als ginge es um alles. Nicht zum Aushalten war das. Hinzu kam meine Unsicherheit, nicht zu wissen, wo ich mich befand, auch ahnte ich noch nicht, was passiert war, mir passiert war. Eine schreckliche Lage.

Vorsichtig hob ich die linke Hand und tastete meinen Hals ab. Auch der war verbunden, ein Schlauch schlängelte sich aus dem Verband. Ich hatte am Oberkörper, durch die Decke hindurch konnte ich das ertasten, überall Knöpfe und Kabel aufgeklebt. Im Schritt, oberhalb des rechten Oberschenkels, spürte ich einen Verband oder Ähnliches. Das fühlte sich überhaupt nicht cool an. Als ich die Decke beiseiteschob, sah ich die Bescherung: Ein Druckverband am Bein. Aber das war noch nicht alles. Vom Bauchnabel an, war der komplette Unterbauch bis fast herunter bis zum rechten Knie schwarz, blutunterlaufen. Ich hab mich schrecklich erschrocken, denn niemand war gerade anwesend, der mir das erklären konnte. Außerdem bin ich mir heute gar nicht so sicher, ob ich überhaupt gefragt hätte. Da waren derzeit so viele Sachen passiert, dass ich die Reihenfolge der Fragen sicher nicht nach Wichtigkeit hätte sortieren können.

Mit Lungenkrebs hatte das blutunterlaufene Bein wohl nichts zu tun. Hatte ich vielleicht ein Raucherbein gekriegt? Oder einen Raucherbauch? Gab es so was?

Eine wirklich schwere Zeit. Ich war so allein, dass es gruselig war und dieser Gemütszustand sollte für ein paar Tage, Wochen, Monate, Jahre auch noch anhalten. Bei bestimmten Themen versteht sich.

Aus meinem Bett heraus, ich lag auf der Intensivstation, wie ich später mitkriegte, konnte ich den Bereich sehen, in welchem die Schwestern unterwegs waren. Das war das Areal der gesunden Zeitgenossen. Das war die Welt, in der gearbeitet wurde, wo versorgt wurde, wo sich gekümmert wurde. Frauen taten das, soweit ich das erkennen konnte. Hinter einem Tresen, den ich vom Bett aus erkennen konnte, bewegten sich Menschenköpfe, die hin und her waberten. Ab und an tauchte ein Gesicht auf, sortierte die Gesamtlage mit Blicken und tauchte wieder ab. Das war ein bisschen wie Kaspertheater. Hätte jemand »Seid ihr alle da?«, gerufen, hätte ich nicht geantwortet, denn ich wollte dort nicht sein. Ich dachte ständig daran, dass ich doch mal aufwachen müsste, dass ich zuhause aufwachen müsste, ich wünschte mir, dass dieser Albtraum endlich zu Ende ist. Doch nein, ich wachte nicht auf. Ich lag da, verkabelt, und wusste immer noch nicht warum. Schwach war ich, antriebslos und irritiert. Von meiner Souveränität war nichts mehr übrig geblieben. Ich hatte mich abgefunden, aufgegeben. Furchtbar.

Ich musste mal. Gott war mir das blöd. Über mir, fast vor meiner Nase, baumelte ein Druckschalter, der aussah, als wenn man sich damit bemerkbar machen könnte. Als ich es nicht mehr aushielt, drückte ich drauf.

Nach einer gefühlten Millisekunde stand eine Krankenschwester neben meinem Bett und sah mich mit großen Augen fragend an. Ich glaube, ich hatte noch nicht einmal den Finger vom Knopf genommen. Mit einer Stimme, ganz leise und gar nicht zu mir gehörend, erklärte ich meinen Zustand und flüsterte auch, dass es mir höchst unangenehm sei, mich diesbezüglich in die Hände anderer Menschen begeben zu müssen und sie mir das bitte, bitte nicht übel nehmen solle. Dann wurde es menschlich. Die Dame strich mir über die Hand und sagte sinngemäß: »Junger Mann, dafür müssen Sie sich nicht schämen. In eine solche Situation kann jeder kommen. Wer weiß schon, ob nicht auch ich in ein paar Minuten neben ihnen liege und das Schicksal mit Ihnen teile.« Sprach’s und sauste los, um mir zur helfen. Die Dame übrigens, also die Frau, die mir den schönen Satz mit dem Schicksal gesagt hatte, würde ich gern noch einmal treffen, um mich zu bedanken.

All das, also das im Krankenhaus, war spät am Abend gewesen. Dass ich eine Herzoperation hinter mir hatte, wusste ich nicht. Am Morgen desselben Tages war ich bei IKEA gewesen und hab eingekauft. Am Nachmittag gleichen Tages hatte ich im Baumarkt noch Farbe besorgt. Und am frühen Abend hab ich in meiner Garage noch ein Teil für mein Motorrad lackiert. Jetzt war es abends, ich lag halb tot in einem Krankenhaus und wusste immer noch nicht warum. Eines jedoch ahnte ich damals bereits: Mein altes Leben, sofern die Ärzte und ich es dauerhaft festhalten konnten, war vorbei!

Alles um mich herum erinnerte mich. Der Geruch, die Leute, der Blickwinkel an die Decke, die Hilflosigkeit. Hatte ich das nicht schon einmal? War nicht der Krankenhausaufenthalt schon einmal lebensbestimmend für mich gewesen? Ja, war er. Das war 1970.

Ein Haufen Blech

Alle arbeiteten in den großen Ferien. Die meisten meiner Mitschüler in der achten Klasse verdienten ihr Urlaubsgeld mit Ferienjobs in den Betrieben ihrer Eltern. Das wollte ich auch. Selbstverständlich nicht wegen der Arbeiterei, nein, Geld verdienen wollte ich, und zwar möglichst viel davon. Wofür ich es brauchte, ist mir jetzt gerade entfallen. Aber ich mutmaße mal, ich war ja in der achten Klasse, da wird die Kohle wohl für Kino, Bücher und den allsonntäglichen Jugendtanz gedacht gewesen sein.

Es waren die großen Ferien im Jahre 1970, nur noch ein einziger Monat fehlte zu meinem fünfzehnten Geburtstag. Die DDR hatte inzwischen schon einundzwanzig Jahre auf dem Rücken und schwächelte überhaupt nicht. Das ist eine wichtige Information, denn all dies spielte sich in der kleinen, sozialistischen, von den Russen besetzten DDR ab.

Ein Schulkamerad hatte ein schönes Angebot. Sein Vater arbeitete in einem Betrieb, der: »Molkereitechnik und Bedarf« hieß. Dieser Laden hatte ein großes Lager mitten in meiner Heimatstadt und das Beste war, es war nur zehn Schritte von meiner Haustür entfernt, ja ich konnte aus unserem Küchenfenster sogar auf das Pappdach der Firma gucken. Ich bewarb mich also und wurde auch genommen. Drei Wochen sollte der Job dauern und danach hätte es Geld gegeben. Viel Geld, das war das Wichtigste. Aber solange ging der Spaß dann doch nicht, schade, es hat nur neun Tage gedauert.

Am ersten Tag bei der Ferienarbeit war die Welt vollkommen in Ordnung. Wir wurden eingewiesen und sollten die üblichen Aufräumarbeiten übernehmen. Ausfegen, ordnen und so weiter. Aber wir waren Jungs, natürlich sind wir erst einmal durch die Regale gesaust und haben nachgeschaut, was dort alles zu erforschen ist und was wir eventuell klauen könnten. Vieles von dem, was dort eingelagert war, brauchte kein Mensch unter 15.

Das Schönste waren die Pausen. Einer der Angestellten war Kettenraucher, der rauchte immer und überall, und zwar die Marke »Rote Salem«. In der Zeit, als ich dort arbeitete, habe ich ihn nicht ein einziges Mal ohne einen Zigarettenstummel im Mundwinkel gesehen. Wenn wir den Kerl mal suchten, sind wir einfach immer dem Qualm hinterhergelaufen. Gefunden haben wir ihn meistens, irgendwo in einer riesigen Dampfwolke. Der Gestank war ganz schlimm. Im Ersten Weltkrieg war diese Zigarettenmarke bestimmt ein Mittel zur biologischen Kriegsführung. Aber der Typ selbst war ganz in Ordnung, obwohl er spindeldürr war und gelb im Gesicht. Ein Lagerarbeiter eben, mit dem IQ eines Vierzehnjährigen, somit haben wir uns bestens verstanden.

Wir entdeckten die Schaumgummibälle! Diese Dinger waren dazu gedacht, mit Pressluft durch alte Rohrleitungen gepustet zu werden, um sie zu reinigen. Es war ja die Firma: »Molkereitechnik und Bedarf«, es werden wohl Leitungen gewesen sein, durch die Milch floss. Hätte die Ferienarbeitsfirma »Brauereitechnik und Bedarf« geheißen, hätten wir pubertierende Jugendliche sicher unser »blaues« Wunder erlebt. Wir wären, jede Wette, stets beim Ausliefern von Zubehör dabei gewesen, wenn man uns denn mitgenommen hätte. Jedenfalls hätten wir uns sehr darum bemüht, denn mit Alkohol hatten wir noch keine Erfahrungen.

Mit den Schaumgummibällen, die ungefähr so groß waren wie ein Tennisball, veranstalteten wir heiße Wettbewerbe, wenn uns niemand sah. Zu Hunderten flogen die Dinger durch die Hallen. Wer getroffen wurde, hatte verloren und musste als nächster zum Automaten, um den Kettenraucher mit Nachschub zu versorgen.

Nach ein paar Tagen war die Ferienarbeitsfirma komplett erforscht, Langeweile machte sich breit. Unsere Bälle wurden uns weggenommen und das Spiel damit verboten. Wir beluden LKWs, sortieren irgendwelchen Quatsch und lebten von sieben bis sechzehn Uhr von den mitgebrachten Frühstücksbroten.

Dann kam der 14. August des Jahres 1970, es war schönes Wetter und wir wollten am Abend zu unserem Lieblingssee fahren, um baden zu gehen. Also war es wichtig, die Stunden möglichst schnell rumzukriegen. Wie immer trafen wir uns früh um sieben, redeten ein wenig über die neuesten Sensationen und sortierten wieder irgendetwas, bis hin zur Frühstückspause.

In unserem Pausenraum aber hat es niemand allzu lange ausgehalten, es war eine völlig verqualmte Bude gewesen, in der man tränende Augen bekam. Ich schlenderte an diesem Morgen gelangweilt durch unsere Arbeitshalle und dachte nur noch an den Tag, an dem der Job beendet ist und ich endlich meinen Lohn kriegen würde.

In einem Gang entdeckte ich hinter einem Stapel von Kupferblechen, die jemand an ein Gestell gelehnt hatte, einen unserer heiß geliebten Schaumgummibälle. Aber ich kam nicht dran. Der Blechstapel war im Weg und verhinderte das Rankommen. Von der einen Seite ging’s nicht und von der anderen ebenso wenig. Also stellte ich mich direkt vor diesen Haufen von Blechen, die ungefähr 1,20 hoch und 3,00 Meter lang waren, beugte mich oben drüber und angelte nach meinem Ball, aber meine Arme waren nicht lang genug. Ich rüttelte genervt ein wenig an dem Stapel und schon passierte es. Ich hatte die Dinger, für eine zehntel Sekunde in der Hand, ließ natürlich sofort alles los und stürzte nach hinten gegen die andere Regalwand. Mir kamen gefühlte zehn Tonnen Kupfer entgegen, die mich fast vollständig unter sich begruben. Ich weiß noch, wie ich mich fühlte, aber diesen Moment mit Worten ausdrücken?

Auf einmal war der schönste Sternenhimmel der Welt um mich herum. Ein großes Geräusch hat diese Aktion gar nicht gemacht. Ich lag verschüttet unter Kupfer und hatte für einen kurzen Moment, ein helles weißes Licht gesehen. Von Sternen umgeben, verabschiedete ich mich von der Welt und sah, wie ein Schaumgummiball aus dem Regal in meine Richtung rollte. Dann wurde es dunkel und laut.

Jemand schrie. Ich schrie! Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, das erste Mal in meinem Leben tat ich das, die Zeit als Baby einmal ausgeklammert.. Aber nicht allzu lange, denn wieder kamen die Sterne und dann kam auch schon Gott, wie ich glaubte. Er hatte eine »Rote Salem« im Mundwinkel und versuchte mit ein paar Kollegen die Bleche wieder aufzurichten. Das schafften sie auch, denn auch ihnen ist mein Geschrei durch Mark und Bein gefahren. Ich brüllte, weinte, wimmerte und konnte mich nicht bewegen. Endlich wurde das letzte Blech angehoben und jedermann sah mich als zertrümmertes Menschenskind blutend daliegen. Der Umfang meiner Beine hatte sich um das dreifache vergrößert, ja, sie waren so sehr angeschwollen, dass man kaum noch »Beine« sagen konnte. Ich verlor das Bewusstsein.

Wo bin ich nur, dachte ich, als sich langsam meine Augen öffneten. Es roch scheußlich und ich starrte auf eine weiße Decke. Aber dann fiel mir sofort alles wieder ein, was in den letzten Stunden passiert war. Ich sah Schaumgummibälle, Bleche, meine Kollegen, die dicken Beine und den Krankenwagen.

Ich konnte mich nicht bewegen und hatte unglaubliche Schmerzen. Was war passiert? Das rechte Bein war kompliziert, direkt über dem Knie gebrochen, Seitenbänder und Kreuzband waren gerissen und das andere Bein war »nur« geprellt.

Im Krankenhaus wusste man nicht so recht, wo man mit mir hinsollte. Ich war vierzehn Jahre alt und der fünfzehnte Geburtstag würde bald, in ein paar Wochen, anstehen. Mit fünfzehn Jahren kam man damals auf die Männerabteilung, wenn man stationär behandelt werden musste. Irgendwie bin ich dort gleich von Anfang an hingeraten und lag in einem Achtmannraucherzimmer im Krankenhaus in Mecklenburg-Vorpommern. Ja, Raucherzimmer! Das gab es damals noch. Heute undenkbar, zum einen wegen der Qualmerei und zum anderen des Kindes wegen, das zwischen Männern lag und ihren Atem inhalieren musste.

In unserer verqualmten Bude lagen Langzeitpatienten. Knochenbrüche wie ich und so weiter. Fast alle konnten das Bett nicht verlassen. Die Männer dort waren, für mein Verständnis, schon hundert Jahre alt. Warum auch ich nicht aufstehen konnte? Ich lag im Streckverband. Die Ärzte hatten mein Knie durchbohrt, ein Rundeisen durchgeschoben, daran ein Seil befestigt und es über Rollen aus dem Bett geführt. Außerhalb des Bettes baumelten sechs Kilogramm Gewichte an dem Seil, die mir die Knochen richten sollten. Ich war also ebenfalls ans Bett gebunden, konnte nicht weg und lernte das Leben der Erwachsenen aus erster Hand kennen.

Eines Tages wurde ein schrecklicher Unfall eingeliefert. Ein Reichsbahnangestellter hatte beim Versuch einen Zementbehälter auf einem Eisenbahnwagon zu öffnen, etwas Schlimmes erlebt. Der ganze Kessel ist explodiert und hat den jungen Mann in die Luft geschleudert. Auch er müsste auf seinem Flug Gott gesehen haben, vielleicht sogar rauchend, denn der Unfall passierte auf einem Bahnhof. Dampfloks qualmten an jeder Ecke im Osten und verpesteten die Luft. Gelandet ist er dann zwischen anderen Waggons und hat sich so ziemlich alles im Leib gebrochen, was ein Mensch sich brechen kann. Beide Beine, beide Arme, die Hüfte und was weiß ich noch alles. Schrecklich. Man legte ihn direkt neben mich, ich war fünfzehn inzwischen und er schon irgendwie dreißig Jahre alt. Beide Arme hatte er in Gips, beide Beine auch und war somit genau wie ich, ans Bett gefesselt. Ihm war es peinlich die Schwester zu rufen und um das Anlegen der »Ente« zu bitten. Das habe ich als junger Mann natürlich gut verstehen können. Inzwischen war ich in der Lage, mich schon ziemlich weit aus dem Bett hinauslehnen zu können und somit hab ich das »Enteanlegen« bei ihm übernommen: Nachttisch weggerollt, sein Bett etwas näher gezogen, (unsere Betten hatten schon damals Rollen) Decke hoch, seinen Pimmel gepackt, die »Ente« drüber gestülpt und fertig. Ich war fünfzehn Jahre alt. Fünfzehn! Um sich in der Nacht bemerkbar zu machen, hat er versucht, mich zu wecken. Das ging natürlich nur mit unbeholfenen Bewegungen seines Gipsarmes, den er mir in mein Bett hinüberwarf. Einmal dachte ich schon, er hätte mir einen Zahn herausgeschlagen, aber man konnte ihm niemals böse sein. Es sah schon sehr ulkig aus, ein Mann mit zwei Gipsarmen, zwei Gipsbeinen und einem verbundenen Kopf, wie im Kino eben, eine Reichsbahnmumie aus Gips.

Ich habe während dieser Zeit eine Menge über Menschen gelernt. Ich sah alte Opas direkt neben mir sterben, hörte mir Familiengeschichten und verkommene Storys über Sexualpraktiken meiner verheirateten Mitpatienten an und sah dann aber auch, wie sich genau dieselben Personen veränderten, wenn Besuch kam. Da wurde geschauspielert, dass sich die Balken bogen. So also ist Erwachsenenleben, dachte ich. Mir begegneten in dieser Zeit, mehrere Generationen von kranken Menschen. Ein Kommen und Gehen.

Nach nur vierundsechzig Tagen Aufenthalt im Bett durfte ich wieder aus dem Krankenhaus raus.

Seitdem war ich niemals wieder als Patient in einer solchen Einrichtung gewesen, bis 2015.

Herzinfarkt - Eine wahre Geschichte von Ohnmacht, Hoffnung und Weiterleben

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