Читать книгу Die stürmische Braut - Sophia Farago - Страница 13
Kapitel 7
ОглавлениеDie Kutsche hatte das weitläufige Gelände des Schulgebäudes verlassen und war auf die breite Poststraße eingebogen. Lady Vivian Barnett vergewisserte sich zum wiederholten Male, dass ihr samtener Umhang zusammengelegt neben ihr auf der Bank lag. Es war ein kalter Tag, er würde ihr wichtige Dienste erweisen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Ihr Vorhaben war gewagt. Doch hatte nicht Miss Fellows immer wieder gepredigt, dass man nicht gewinnen konnte, wenn man nicht bereit war, etwas zu wagen? Vivian musste sich allerdings eingestehen, dass ihre Lehrerin das, was sie in Kürze vorhatte, damit wohl nicht gemeint haben konnte. Ja, dass sie vielmehr selbst darüber schockiert sein würde. Entschlossen straffte sie die Schultern. Sie war jetzt erwachsen, hatte das Institut von Mrs Clifford für immer verlassen. Es war Zeit, dass sie ihre eigenen Entscheidungen traf. Gedankenverloren spielte sie mit dem Reithut, der auf ihrem Schoß lag, blickte aus dem Seitenfenster und starrte auf die Landschaft, die an ihr vorbeizog. Ihre Rechte umklammerte die Reitgerte, die sie in Kürze zum Einsatz bringen wollte, um den Wagen anzuhalten.
In der Zwischenzeit plauderte Miss Goodhew nichts ahnend in einem fort und Vivian war froh, dass von ihr offensichtlich weder erwartet wurde, dass sie zuhörte, noch dass sie die einzelnen Bemerkungen mit einer passenden Antwort würdigte.
„Heißer Ziegelstein …“, hörte sie ihre Begleiterin begeistert ausrufen, gefolgt von Lobeshymnen auf ihre Mutter, die Kutsche, die englische Aristokratie, den armen König, die grünen Felder, die fleißigen, braven Leute auf dem Land … Der Mund stand nie still.
Vivian lehnte sich nach vorne und schob ihr Gesicht nahe an das Kutschenfenster heran. Waren das etwa schon die Maisfelder? Ja, da war das steinerne Wegkreuz, an dem sie mit Bertram im letzten Herbst haltgemacht hatte. Obwohl die Felder jetzt im ungewöhnlich kalten Frühling noch brachlagen, wusste Vivian genau, wo sie waren. Gleich würden sie ein schmales Wäldchen passieren, hinter dem der Weg abbog, der sie abseits der Poststraße nach Marlborough bringen würde. Sie zögerte keine Minute, nahm ihre Reitgerte und klopfte mit deren Griff laut und vernehmlich an die Wand, die sie vom Kutschbock trennte.
„Anhalten!“, forderte sie ebenso lautstark.
Der Kutscher kam diesem Befehl ohne zu zögern nach. Vivian griff zu ihrem dicken Reitumhang.
Miss Goodhew war so verdattert, dass sie für einen Moment zu keinem Redeschwall fähig war und nur einige Male: „Aber … aber …“, stotterte, worauf ein ratloses „Lady Vivian, wie … was … also, das ist doch …“ folgte.
Ihr Schützling wartete nicht, bis der Bedienstete den Schlag geöffnet hatte, sondern tat dies selbst und sprang aus dem Wagen.
„Es tut mir leid, Miss Goodhew“, sagte sie, sich zur Lehrerin umwendend, „in der Kutsche ist es so eng und stickig, dass ich fürchte, Kopfschmerzen zu bekommen. Ich brauche dringend frischen Wind um meine Ohren.“
„Binden Sie mir bitte mein Pferd los“, forderte sie dann, an den Kutscher gewandt, der vom Bock gestiegen war. „Ich beabsichtige, diese Etappe reitend zu absolvieren.“
Während der Dienstbote, ohne Fragen zu stellen, diesem Wunsch nachkam, war Miss Goodhew nicht nur ebenfalls aus dem Fahrzeug geklettert, sondern hatte auch ihre Sprache wiedergefunden. So ergoss sich der nächste Wortschwall in Vivians Ohren. Oder, um der Wahrheit die Ehre zu geben, er ergoss sich wieder an ihren Ohren vorbei. Diesmal waren es keine Lobeshymnen. Es war eine Mischung aus Entrüstung, Ermahnungen, Befehlen und, als sie merkte, dass sie damit nicht zu ihrem Schützling durchdrang, flehentlichen Bitten. Doch Vivian hatte sich bereits in den Sattel geschwungen.
„Ich wünsche Ihnen weiterhin eine gute Fahrt, Miss Goodhew“, rief sie und war höchst zufrieden darüber, wie leicht ihr Plan gelungen war. „Jetzt haben Sie die wunderbare Kutsche ganz für sich allein. Wir treffen uns im Crown and Feathers in Marlborough. Keine Sorge, ich finde den Weg. Ich bin ihn schließlich im letzten Jahr mehrmals geritten. Mit dem Viscount höchstpersönlich“, warf sie noch hinterher, in der Hoffnung, dass die Erwähnung ihres hochwohlgeborenen Bruders die Bedenken der Lehrerin ein wenig zu zerstreuen vermochte.
Dass das nicht gelungen war, erkannte sie an Miss Goodhews erneutem Wortschwall. Sie beschloss, auch diesen nicht zu beachten, wendete ihr Pferd und ließ es die ersten Schritte gehen. Wenn sie jetzt noch länger blieb, dann würde sie sich umstimmen lassen, das wusste sie nur zu genau. Schließlich war sie sich selbst nicht ganz sicher, ob sie das Richtige tat. Allerdings wollte sie um nichts in der Welt länger mit dieser Schnatterliese auf engem Raum eingesperrt sein. Die nächsten Etappen zwischen Marlborough und Lancroft Abbey würde noch schlimm genug werden.
„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Lady Vivian!“, rief die Lehrerin ihr nach. „Wenn Sie jemand sieht! Eine unverheiratete Adelige allein auf einem Pferd. Die Leute werden Sie für immer und ewig verurteilen und mich gleich dazu. Oh, nicht auszudenken! Wie schrecklich, wie überaus schrecklich!“
„Ach, wer soll mich denn sehen?“, fragte Vivian scheinbar leichthin über die Schulter zurück. „Ich reite doch die meiste Zeit durch den Wald. Da werde ich keiner Menschenseele begegnen. Also, beruhigen Sie sich, Miss Goodhew!“ Vivian seufzte insgeheim und hoffte, dass ihre Worte der Wahrheit entsprechen würden.
„Ja, aber das Wetter“, startete die verzweifelte Lehrerin einen nächsten Versuch. „Was ist, wenn es regnet? Oder gar zu schneien beginnt? Was ist, wenn Sie bis auf die Haut durchnässt werden, die Kleider an Ihrer Haut kleben …?“
Sie fing den interessierten Blick auf, den ihr der junge Kutscher zuwarf. Es war offensichtlich, dass er sich soeben eine von ihnen durchnässt bis auf die Haut vorstellte. In allen schamlosen Einzelheiten. Also legte sie sich erschrocken die behandschuhte Rechte an die Lippen, schwieg abrupt, errötete zutiefst und stieg in die Kutsche, bevor er ihren Arm hätte ergreifen können, um ihr dabei zu helfen.
Die ersten Stunden vergingen ohne Probleme. Der Weg war so, wie Vivian ihn in Erinnerung hatte. Hier im Wald war der Boden weder gefroren noch so tief, dass er galoppierenden Hufen hätte gefährlich werden können. Also stand einem flotten Weiterkommen nichts im Wege. Immer wieder gratulierte sie sich zu ihrem mutigen Schritt. Miss Fellows hatte ja so recht. Auch als junge Frau war man berechtigt, ja geradezu verpflichtet, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Wie sehr genoss sie die Freiheit, die ihr dieser Ritt bot. Immer wieder jubelte sie laut auf. Was für ein Gefühl des Glücks! So und nicht anders stellte sie sich auch ihr weiteres Leben vor. Frei und selbstbestimmt. Sie war jetzt achtzehn Jahre alt und damit kein junges Ding mehr, das sich von einer Lehrerin in die Schranken weisen lassen musste. Sie würde ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen gestalten. Und, oh nein, das würde sie sich auch von einem Ehemann nicht verbieten lassen. Im Gegenteil! Darum kam ja nur ein Gatte infrage, der sie in ihren Plänen unterstützte. Ein erfahrener, gütiger, weiser Mann. Miss Fellows hatte ihr solche Männer in den wärmsten Tönen empfohlen. Sie konnte gar nicht erwarten, ihrem Gemahl endlich zu begegnen.
Etwa zur Mittagszeit erreichte Vivian eine Quelle und beschloss, Rast zu machen. Durch die kalte Witterung hatte sie nicht allzu viel Durst, und doch war sie froh, ihn nun endlich stillen und auch das Pferd tränken zu können. Das Wasser rieselte eher zaghaft zwischen den Steinen hervor, aber sie konnte von Glück sagen, dass die Quelle überhaupt nicht eingefroren war. Auch ihr Magen machte sich durch lautes Knurren bemerkbar. Wie dumm, dass sie nicht daran gedacht hatte, Proviant mitzunehmen. Mit Bertram an ihrer Seite hätte sie jetzt in die nächste Ortschaft reiten können, und der örtliche Wirt wäre nur zu gern bereit gewesen, seine hohen Gäste mit den besten Gerichten zu verwöhnen. Als Frau allein hatte sie diese Möglichkeit nicht. Sie hatte sich zwar vorsorglich einige Münzen in die im Reitkleid eingenähte Tasche gesteckt, aber kein Gasthaus, das etwas auf sich hielt, würde eine allein reitende Dame verköstigen. Und ein anderes wollte sie erst gar nicht betreten. Zum ersten Mal begann Vivian ihren Entschluss zu bereuen. In Miss Goodhews Begleitung wäre sie längst in einer respektablen Poststation eingekehrt und man hätte sich die Wartezeit während des Pferdewechsels mit einem köstlichen Imbiss verkürzt. Nun blieb ihr jedoch nichts anderes übrig, als noch einige Stunden durchzuhalten und das Pferd zu beneiden, das auch in der kargen Märzlandschaft genug Gras fand, um sich zu stärken.
Vivian zog ihren Reitumhang am Kragen enger und schlug dann die Arme vor der Brust zusammen, um die Kälte zu vertreiben. Ein Blick zum Himmel und ihre Stirn legte sich in Falten. Die fahle Sonne, die am späten Vormittag ihren Weg begleitet und ihr zumindest das Gefühl von Wärme gegeben hatte, war verschwunden und hatte dunklen Wolken Platz gemacht. Anscheinend hatte Miss Goodhew doch recht gehabt: Es stand ein Regenschauer bevor. Vivian spürte Tränen in sich aufsteigen. Sie war müde und fühlte sich hilflos und allein. Streng rief sie sich zur Ordnung. Dass sie in dieser Lage war, hatte sie sich ganz allein zuzuschreiben. Also war es auch an ihr, die Lage zu verbessern. Mit geübtem Griff schwang sie sich wieder in den Sattel, straffte die Zügel und hatte nur ein Ziel vor Augen: Sie musste unbedingt in Marlborough angelangt sein, bevor es mit dem Regen so richtig losging.
Die nächsten Stunden schien es so, als wäre sie vom Glück begünstigt. Ab und zu streifte ein kalter Tropfen ihr Gesicht, doch der Himmel schien durchzuhalten. Dann hatte es jedoch leicht zu regnen begonnen. Als sie am späteren Nachmittag im Schutz hoher Bäume eine zweite Pause einlegte, schneite es bereits.
Sie war nun lange nicht mehr so zuversichtlich wie am Beginn ihres Ritts. Der Wind, der ihr auf den freien Feldern entgegengeweht hatte, war so eisig gewesen, dass ihre Wangen zu erfrieren schienen. Sie streifte die ledernen Handschuhe ab und rieb zuerst die Handflächen aneinander, um die klammen Finger zu wärmen, und schließlich auch über die Wangen, um diese aus der schmerzhaften Erstarrung zu erwecken. Ihre Zweifel waren in Selbstbeschimpfung übergegangen. Wie hatte sie nur auf diese ganz und gar unverzeihlich dumme Idee kommen können, allein zu reiten, ohne Begleitschutz ihres Bruders oder sonst eines menschlichen Wesens? Noch dazu in so einer unwirtlichen Jahreszeit?
Passend zum eigenen Groll war nun das Grollen eines gewaltigen Donners zu hören. Auch das noch! Bitte, lieber Gott, flehte sie inständig, bitte verschone mich vor einem Gewitter.
Sie ging ein paar Schritte auf dem Weg zurück, aufs freie Feld hinaus, von dem sie gekommen war. Sofort wurde der Wind wieder um einiges stärker und sie hatte Mühe, ihren hohen Reithut mit beiden Händen am Kopf zu halten. Wo sie wohl war? Vergeblich versuchte sie sich zu orientieren. Ihre eiskalten Finger holten die silberne Uhr aus der Tasche ihres Kleides. Sie war ihr Talisman, das Letzte, was ihr von ihrem verstorbenen Vater geblieben war. Halb fünf. Vivian atmete auf. Nun konnte sie vom Ziel ihres Rittes nicht mehr weit entfernt sein. Sicher war die nächste Stadt, in die sie kommen würde, bereits Marlborough. Es musste einfach Marlborough sein!
Also kehrte sie zu ihrer Stute zurück und trieb sie, unter Aufbringung ihrer letzten Kräfte, noch einmal zu Höchstleistungen an. Doch auch Blue Moon war müde und erschöpft und nicht mehr in der Lage, in schnellen Galopp zu verfallen. Sie erreichten einige verstreute Steinhäuser rund um einen Weiler, bevor es wieder in einen Wald hineinging. Weit und breit war kein Dorf zu sehen, geschweige denn eine Stadt. Es kam ihr nun alles völlig fremd vor. Schweren Herzens musste sie sich eingestehen, dass sie ganz offensichtlich vom richtigen Weg abgekommen war. Sie spürte, wie ihre Hilflosigkeit in Panik überging. Sie hatte sich verirrt! Was sollte sie tun? Wen sollte sie um Hilfe bitten, ohne Gefahr zu laufen, dadurch ihre Lage noch dramatisch zu verschlimmern?
Das Grollen des Donners wurde lauter.
Erschrocken fuhr Vivian aus ihren düsteren Gedanken auf. Sie schien geradewegs in das Zentrum des Gewitters hineinzureiten! Nun kam auch wieder Leben in ihr Pferd. Erstaunlich viel Leben sogar. Es vergaß all seine Müdigkeit und begann aus Leibeskräften zu galoppieren. Vivian riss an den Zügeln, doch Blue Moon gehorchte ihr nicht. Vom Donnergrollen erschreckt, war sie durchgegangen und ihre junge Herrin hatte jede Mühe, sich im Sattel zu halten. Mit unvermindertem Tempo ging es in den nächsten Wald hinein. Die Bäume standen nun dicht an dicht. Vivian spürte, wie sich der Reithut löste, aber sie wagte es nicht, die Zügel loszulassen, um ihn am Kopf festzuhalten. Schon war der Hut davongeflogen und die Haare wehten ihr nun ungehindert ins Gesicht. Da vorne, eine Lichtung! Eine Hütte! Ob sie um Hilfe rufen sollte? Sie überlegte noch, ob die Hütte bewohnt war und wer sie wohl bewohnen könnte, da sah sie Rauch, der aus dem Kamin aufstieg. Und dann sah sie gar nichts mehr.
Es war ganz ruhig um sie herum. Bis auf das eilige Herannahen von Schritten, die sie aber nicht gleich als solche wahrnahm. Sie hielt die Augen geschlossen und spürte stechende Schmerzen im linken Arm und linken Bein. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie verstand, was geschehen war. Sie, die geübte Reiterin, die allerorts stolz mit ihren Reitkünsten prahlte, war vom Pferd gefallen. Geradeso als wäre sie eine blutige Anfängerin. Im ersten Impuls war sie viel zu streng mit sich selbst, um die Ausnahmesituation, in der sie sich befunden hatte, als Entschuldigung gelten zu lassen. Doch während sie weiter mit geschlossenen Augen am Boden lag, erkannte sie nach und nach, dass der Sturz viele gute Gründe gehabt hatte: Sie war noch nie zuvor allein so weit geritten. Sie hatte Hunger und Durst und war müde. Kein Wunder, dass ihre Kräfte sie verlassen hatten. Und außerdem war ihr Pferd durchgegangen. Blue Moon! Wo war ihre Stute jetzt? Vorsichtig drehte sie sich auf den Rücken. War sie verletzt? Sie bemerkte, dass sie zum Glück relativ weich gefallen war. Das hätte auch viel schlimmer ausgehen können. Einige Grashalme stachen sie in den Nacken. Mit einem Stöhnen versuchte sie sich aufzusetzen. Obwohl jeder Knochen schmerzte, schien sie sich nichts gebrochen zu haben. Gott sei Dank! Allen Mut zusammennehmend und noch immer etwas benommen schlug sie die Lider auf, bereit, ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Sie war auf vieles vorbereitet, allerdings nicht auf den Anblick, der sich ihr bot.
Ein Mann beugte sich zu ihr hinab. Er hatte schwarze Locken, die kein Meister der Frisierkunst, sondern der Sturm selbst zu einer Windstoßfrisur hatte werden lassen, dunkle Augen und dichte schwarze Augenbrauen.
„Raphael“, murmelte sie und lächelte entzückt, bevor sie wieder die Augen schloss.