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Kapitel 3

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Agatha stand staunend vor dem Schloss und hielt sich die behandschuhte Rechte vor die Augen, um sie gegen das Sonnenlicht abzuschirmen. Was für ein beeindruckender Bau! Die wuchtige, dreigeschossige Fassade wirkte weiß und strahlend im hellen Licht des freundlichen Spätsommertages, das graue Schieferdach ragte steil in den blauen Himmel empor. Die Ecktürme trugen zwiebelförmige Dächer aus Kupfer, die sich im Laufe der Jahre in ein bezauberndes Hellgrün verfärbt hatten. Ihre jugendliche Begleiterin hatte anscheinend für Architektur weniger übrig.

„Ein Irrgarten, sehen Sie nur, Lady Agatha! Darf ich versuchen, es bis zum Mittelpunkt zu schaffen?“ Lizzys Wangen waren vor Aufregung gerötet, und Agatha freute sich über ihren Eifer. Sie waren über einen bemoosten Weg bis zu einer blickdichten, überkopfhohen Heckenreihe gekommen und standen nun vor dem für das Mädchen wohl verheißungsvollen Eingang.

„Aber sicher“, gestattete Agatha ohne zu zögern, „geh und versuch dein Glück! Ich komme nur die ersten beiden Windungen mit dir und dort warte ich besser. Solltest du nicht wieder herausfinden, kann ich dir durch Zurufe helfen.“

Schon war ihr Schützling hinter der nächsten Hecke verschwunden. „Aber beeil dich!“, rief Agatha ihr noch hinterher, war sich aber nicht sicher, ob diese Worte auf fruchtbaren Boden fallen würden. „Wie haben nicht mehr allzu lange Zeit, bis ich mich zum Dinner umkleiden muss.“

Die liebe Lizzy, dachte sie nicht zum ersten Mal. Um wie vieles fröhlicher sie geworden war. Die Reise war für sie ein einziges Abenteuer, und das tat ihr gut. Mit dem Lernen der fremden Sprache hatte sie überdies eine sinnvolle Beschäftigung gefunden. Etwas, das ihr ihre bisherige Anstandsdame nicht gestattet hatte. Agatha ging näher an die Hecke heran und begutachtete die Zweige. Waren das Hainbuchen oder …

„Also Carl, ich bitte Sie …“

Agatha zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht gehört, dass jemand nähergekommen war. Der Moosboden des Weges hatte wohl alle Schritte verschluckt. Die Stimme erkannte sie allerdings sofort wieder. Es war die von Gräfin Weiningen-Bouffier, der Hausherrin des beeindruckenden Schlosses, dessen Garten sie soeben erkundeten. Ihre Stimme klang auch jetzt noch ebenso kalt und abweisend, wie sie es bereits bei der Begrüßung getan hatte. Agatha war selbst erstaunt, dass sie diese auf Deutsch gesprochenen Worte verstanden hatte. Die Unterrichtsstunden in der Kutsche waren wohl auch an ihr nicht völlig spurlos vorübergegangen. Wie es der Zufall wollte, hatten sich Bertram und der Duke erst am Vortag darüber unterhalten, dass die Aussage „Ich bitte Sie“ zwei unterschiedliche Bedeutungen haben konnte. Entweder wollte man etwas vom anderen, oder man glaubte ihm nicht. Welche der beiden Bedeutungen hatten wohl die Worte der Gräfin?

Der Duke antwortete etwas, was Agatha zu ihrem Leidwesen nicht verstand. Sie merkte nur, dass er nach Worten suchte und seine Sätze immer wieder durch langgezogene Ähs und Ahs unterbrach. Nun waren die beiden offensichtlich am Eingang zum Irrgarten angelangt, und Agatha überlegte, wie sie sich am besten zu erkennen geben sollte, als sie die nächsten Worte der Gräfin innehalten ließen.

„Wie konnten Sie nur Ihre Mätresse hierher auf Weiningen bringen? Wir sind ein ehrbares Haus, wie ich nicht extra betonen muss. Ihre verstorbene Gattin war meine Cousine. Ich habe sie geliebt und ich, also … mir fehlen die Worte, um auszudrücken, wie sehr mich Ihr Vorgehen empört.“

Agatha hielt den Atem an. Die Gräfin war ins Französische gewechselt, wohl weil der Duke des Deutschen doch nicht so mächtig war, wie er immer zu sein vorgab. Und offensichtlich konnte sie kein Englisch. Französisch war fast überall in Europa die Sprache des Adels und auch die der Diplomatie. Agathas Vater war Diplomat gewesen. Schon einmal war sie froh darüber gewesen, eine französische Gouvernante gehabt zu haben, denn auch die Ausgrabungen in Ägypten hatten unter französischer Leitung gestanden. Und auch jetzt war sie froh darüber. Wenn auch der Inhalt der Konversation nicht dazu beitrug, ihre Laune zu heben. Im Gegenteil, sie war entsetzt. Natürlich war ihr aufgefallen, mit welch eisiger Kälte man sie im Schloss willkommen geheißen hatte, doch sie war weit davon entfernt gewesen, den wahren Grund dafür zu erahnen. Na warte, das würde sie nicht unwidersprochen hinnehmen. Sie wollte eben aus dem Irrgarten stürzen, da ließen sie die nächsten Worte des Dukes innehalten.

„Sie sind mit Ihrem Verdacht auf der völlig falschen Fährte“, hörte sie ihn sagen. Seltsamerweise klang sein Tonfall weniger schneidend, als sie erwartet hatte. „Agatha Alverston ist eine englische Lady aus bestem Haus. Außerdem ist sie die Cousine meines Adjutanten und begleitet uns nur deshalb …“

„Die Cousine Ihres Adjutanten“, unterbrach ihn die Gräfin, und jetzt triefte ihre Stimme vor Hohn. „Ach, so nennt man das heutzutage? Früher nannte man es Nichte, wenn ich richtig informiert bin. Halten Sie mich für so dumm, dass ich Ihnen diese fadenscheinige Ausrede abnehme?“

Agatha war so empört, dass es ihr für kurz die Rede verschlug. Wie kam diese schreckliche Person dazu, ihren guten Ruf und ihre Integrität in Zweifel zu ziehen? Wie konnte sie nur annehmen …

„Das ist keine Ausrede“, fuhr da der Duke auch schon auf. „Ich versichere Ihnen, Lady Alverston ist einzig und allein für das Kind zuständig.“

Wie dumm, dass ich nicht gleich aus dem Irrgarten gegangen bin, als ich die beiden gehört habe, dachte Agatha, die nicht wusste, wie sie sich nun am besten verhalten sollte. Wenn mich die beiden jetzt sehen, werden sie sicher annehmen, ich habe gelauscht. Das macht meine Situation nicht besser.

„Wo sind Sie denn? Ich finde nicht mehr hinaus!“, hörte sie in diesem Augenblick Eliza rufen. Ihre Stimme klang zwar gedämpft durch die dichten Reihen der Hecken, aber doch laut genug, dass man sie nicht überhören konnte.

Oh Gott, das ist wirklich der schlechtmöglichste Zeitpunkt, ging es Agatha durch den Kopf. Ich kann unmöglich antworten, ohne dass mich auch die beiden anderen hörten.

Schon erklang die Stimme des Dukes.

„Eliza?!“, rief er erstaunt. „Bist du etwa allein in diesem … diesem … Heckenlabyrinth?“ Dann wandte er sich offensichtlich zu seiner Begleiterin um: „Es war ohne Zweifel meine Tochter, die da gerufen hat. Sie gestatten, Gräfin, dass ich mich auf die Suche nach ihr mache?“

Er wartete die Antwort nicht ab, und schon knirschte der Kies unter seinen forschen Schritten.

„Ja, wo ist denn jetzt die Cousine des Adjutanten?“, feixte die Gräfin hinter ihm her. „Ja, wo ist sie denn? Sie ist doch für das Kind zuständig, hätte ich gedacht.“

Am liebsten wäre Agatha hoch erhobenen Hauptes aus den Hecken hervorgetreten und hätte sie erwürgt. Und doch entschied sie sich instinktiv, genau das Gegenteil zu tun, nämlich weiter in den Irrgarten hineinzugehen und hinter der nächsten Ecke zu verschwinden. Dabei benutzte sie absichtlich den schmalen Streifen Gras zwischen Hecke und Kies, damit niemand ihre Schritte hören konnte. Sie beeilte sich, die nächste Abzweigung zu nehmen und … stand in einer Sackgasse. Auch das noch! Auf keinen Fall durfte der Duke erfahren, dass sie die Ungeheuerlichkeiten der Gräfin mitangehört hatte. Wie sollte sie ihm sonst je wieder unbefangen unter die Augen treten können? Daher wäre sie am liebsten einfach in dieser stillen Ecke stehen geblieben. Andererseits durfte sie Lizzy nicht zu lange im Ungewissen lassen. Also schürzte sie schweren Herzens die Röcke wieder, um dorthin zurückzueilen, woher sie gekommen war. Sie war so vertieft darin, jeden Laut zu vermeiden, dass sie den Herzog übersah, der sich ihr auf Zehenspitzen näherte, um oben über die Hecken blicken zu können. Der unerwartete Aufprall war so heftig, dass sie einen erschrockenen Schrei ausstieß. Landmark umfasste sie reflexartig mit beiden Armen und konnte so ihren Sturz vermeiden. Da standen sie nun, starrten sich mit weit aufgerissenen Augen an und waren beide für einen kurzen Moment nicht in der Lage, sich zu bewegen.

„Einzig und allein für das Kind zuständig? Wollen Sie mir das immer noch weismachen, mein Teuerster?“, meldete sich die höhnische Stimme der Gräfin hinter dem Herzog zu Wort. Dieser ließ Agatha so schnell los, dass sie taumelte. Sie sah noch immer zu ihm auf. Seine Lippen waren aufeinandergepresst, seine Gesichtsfarbe blass. Er sagte keinen Ton.

Zum Glück meldete sich in diesem Augenblick Lizzy zu Wort. Sie schien sich in der Zwischenzeit ganz in der Nähe zu befinden.

„Lady Agatha?“, rief sie. „Waren Sie das, die soeben geschrien hat? Ist irgendetwas geschehen? Wo sind Sie denn?“

„Ich komme schon“, antwortete Agatha und machte sich daran, der unerfreulichen Szenerie zu entfliehen.

„Ja, ja, gehen Sie mir nur aus den Augen“, keifte die Hausherrin hinter ihr her. Diesmal sprach sie englisch mit einem deutlichen, harten deutschen Akzent. „Ich will Sie nicht wiedersehen, Miss. Sie sind am Abend bei Tisch unerwünscht, merken Sie sich das!“

Agatha verschwand, ohne ein Wort darauf zu sagen, hinter der nächsten Hecke und eilte Lizzy entgegen.

Küsse am Wiener Kongress

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