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Kapitel 1
ОглавлениеSüdlich von Limburg, im Herzogtum Nassau
August 1814
Der stämmige Wandergeselle war von den hinter ihm auftauchenden Gespannen so überrascht, dass er einen lauten Schrei ausstieß, sein Bündel mit den Habseligkeiten, das er an einem Stock über der Schulter getragen hatte, in die Wiese warf und dann geistesgegenwärtig hinterhersprang. Schon brausten mehrere Wagen an ihm vorbei. Der erste war ein eleganter Landauer mit geschlossenem Verdeck, zwei Livrierte auf dem Kutschbock. Davon führte einer die Zügel, während der andere gut sichtbar ein großes Gewehr in beiden Händen hielt. Sollte sich jemand erdreisten, die Kutsche überfallen zu wollen, würde der Mann ohne Zweifel davon Gebrauch zu machen wissen.
Der Wandergeselle war weit davon entfernt, irgendjemanden ausrauben zu wollen. Er war nur zu froh, nicht unter die Räder geraten zu sein. Kurz darauf erschien ein weiteres Fahrzeug, ebenfalls ein Vierergespann, in demselben glänzenden Grau lackiert wie das erste, das gleiche Wappen mit einer Krone am Schlag. Es war weniger ausladend und ohne Zweifel ein älteres Modell. Der Geselle war erfahren genug, darin die Dienerschaft zu vermuten. Schon kam ein dritter Wagen ins Blickfeld. Diesmal standen zwei Bewaffnete auf dem hinteren Trittbrett. Sie trugen dieselben silbergrauen Livreen. Der Geselle erhaschte einen kurzen Blick durch das Kutschenfenster und sah eine Vielzahl an Truhen und Koffern.
Meiner Seel’, dachte er beeindruckt, da muss ja ein gar mächtiger Herr unterwegs sein, wenn er meint, gleich drei Männer mit Gewehr zu seinem Schutz zu brauchen. Vielleicht war es gar ein König?
Es war tatsächlich eine hochgestellte Persönlichkeit, die da in hohem Tempo durch die Lande unterwegs war, allerdings kein König, sondern ein englischer Herzog. Carl Hawick, der dritte Duke of Landmark, ein Diplomat im Dienste seiner Majestät König Georg III. Er war auf dem Weg nach Wien, um dort an einem Kongress teilzunehmen, der die Geschicke Europas in neue Bahnen lenken sollte. Napoleon, das französische Ungeheuer, war besiegt und auf die Insel Elba verbannt worden. Nun galt es, die Gebiete, die er seinem Reich einverleibt hatte, neu zu verteilen.
Der Herzog reiste nicht allein. Er hatte entschieden, dass ihn seine dreizehnjährige, mutterlose Tochter Eliza, genannt Lizzy, begleiten sollte. Seit dem Tod seiner Gattin vor zwei Jahren war sie immer stiller und schüchterner geworden und er hoffte, dass ihr die Abwechslung einer Reise guttun würde. Außerdem befanden sich noch sein Adjutant Bertram Barnett, der junge Viscount of Panswick, und dessen verwitwete Cousine in der Kutsche. Lady Agatha Alverston war sechsunddreißig Jahre alt und damit fünf Jahre jünger als er. Sie sollte auf Lizzy achtgeben und ihm in Wien als Gastgeberin und weibliche Begleitung bei formellen Anlässen zur Verfügung stehen.
Sie waren nun schon sechzehn Tage unterwegs, und Bertram Barnett hätte sich längst dafür ohrfeigen können, dass er dem Drängen seiner Schwester Vivian nachgegeben hatte, den Duke mit Agatha bekannt zu machen. Wie hätte er aber auch ahnen sollen, dass sich die beiden streiten würden? Und zwar ununterbrochen? Es schien kein Thema zu geben, bei dem sie einer Meinung waren, und dabei waren es im Laufe der Wochen die unterschiedlichsten Angelegenheiten, über die sie sich auf der langen Fahrt unterhielten. Schneidende Bemerkungen flogen hin und her, verbrämt mit Ironie oder gar Hohn und Beweisen der jeweils eigenen intellektuellen Überlegenheit. Er konnte die mitunter sehr nichtigen Anlässe schon gar nicht mehr zählen, bei denen mindestens einer der beiden in spöttisches Gelächter ausbrach. Außerdem schienen sie nie auch nur eine Minute zu schweigen. Mehr noch, sie schienen kaum je Luft holen zu müssen.
Warum nur, fragte sich der leidgeprüfte Viscount im Stillen, warum nur hielten sie nicht einfach den Mund? Warum nahmen sie keine Rücksicht auf Lizzy und ihn? Sie mussten doch in der Zwischenzeit eingesehen haben, dass sie sich nie einig werden würden. Wozu also die ständigen Wortgeplänkel? Mehr als einmal hatte er die Zähne zusammengebissen, um seinem Unmut nicht lautstark Ausdruck zu verleihen. Vor Kurzem war er großjährig geworden, er trug den Titel eines Viscounts of Panswick, er war Herr über den weitläufigen Landsitz Lancroft Abbey und Oberhaupt der Familie. Einer Familie, die neben seiner Mutter auch noch seine drei inzwischen verheirateten Schwestern Frederica, Penelope und Vivian und seinen jüngeren, noch unverheirateten Bruder Nicolas umfasste. Obwohl er den Großteil seines Vermögens erst mit fünfundzwanzig bekommen sollte, hatte er seit seinem einundzwanzigsten Geburtstag bereits die Verfügungsgewalt über den ansehnlichen Betrag, den ihm seine Urgroßmutter mütterlicherseits vermacht hatte. Er war also hochgestellt, reich und erwachsen. Doch all das nützte ihm gar nichts. Er war den Wortgefechten seines Dienstherrn und seiner um fünfzehn Jahre älteren Cousine Agatha hilflos ausgeliefert.
Die Überfahrt von Southhampton auf den Kontinent war noch recht angenehm verlaufen, da man sich auf dem weitläufigen Schoner nur bei den Mahlzeiten zu Gesicht bekam. Rückblickend war es ein wahrer Segen gewesen, dass es an Bord getrennte Salons für Damen und Herren gab, in denen man seine Zeit verbrachte. Doch kaum waren alle vier gemeinsam in die Kutsche gestiegen und hatten begonnen, sich mit Plaudereien die Zeit zu vertreiben, da war das Hickhack auch schon losgegangen. Sagte der Herzog hü, meinte Agatha hott. Und umgekehrt. Hielt der Herzog etwas für gut, fand Agatha einen Fehler. Wollte Agatha rasten, drängte Landmark zum Aufbruch. Der einzige Lichtblick auf dieser schier endlosen Reise war für ihn die dreizehnjährige Tochter seines Dienstherrn. Sie saß neben ihm auf der Bank entgegen der Fahrtrichtung und stupste ihn soeben mit dem Ellbogen auffordernd in die Seite. „Bertram, bist du eingeschlafen?“
Er fuhr aus seinen Gedanken auf. „Entschuldige, Lizzy, was hast du gesagt?“ Es klang reumütig.
„Ich sagte: ’Guten Abend, mein verehrter Herr, ist das nicht ein wahrhaft schönes Zimmer?’“, wiederholte sie auf Deutsch.
Seltsam, dachte Bertram, ihre Stimme klingt viel selbstsicherer, wenn sie sich in dieser fremden Sprache ausdrückt. Sie lernten nun schon seit zwei Monaten jeden Tag viele Stunden miteinander, und er musste neidlos anerkennen, dass sie das halbe Jahr, das er ihr voraus gewesen war, längst aufgeholt hatte. Sie waren vom Lernen einzelner Wörter und der Grammatik bereits zum Führen kleinerer Konversationen übergegangen. Es machte viel mehr Spaß, zu zweit zu üben, und er freute sich darauf, seine Kenntnisse auch im tatsächlichen Leben auszuprobieren.
„Das ist fürwahr ein schönes Zimmer, gnädiges Fräulein“, erwiderte er höflich. „Wollen wir uns zu Tisch begeben?“
Während Lizzy in ihrer Deutschfibel nach einer passenden Antwort suchte, blickte Bertram zu den Reisegefährten auf der gegenüberliegenden Bank hinüber. Agatha begann soeben, über die Zeit zu erzählen, die sie an der Seite ihres verstorbenen Gatten Edward in Ägypten verbracht hatte. Dieser hatte dort zu einem Team von Archäologen gehört, das Ausgrabungen in der Wüste durchführte, und Agatha hatte ihn dabei tatkräftig unterstützt. Diese Geschichten kannte Bertram längst, also wollte er sich wieder auf Lizzy konzentrieren.
„Ich halte es für einen unglaublichen Leichtsinn, ja geradezu für einen Wahnwitz, dass man Sie zu diesen Ausgrabungen mitgenommen hat“, hörte er da den Duke sagen. „Ich verstehe beim besten Willen nicht, warum Ihnen das der Leiter der Expedition überhaupt gestattete.“
Es ging schon wieder los! Bertram zog scharf die Luft ein. Agatha würde solche Worte nicht unwidersprochen hinnehmen.
„Beim besten Willen, soso“, kam auch schon die schnippische Antwort, bevor seine Cousine, offensichtlich um einen ruhigeren Tonfall bemüht, fortsetzte: „Warum halten Sie es für einen Wahnwitz, wenn ich fragen darf, Duke?“
„Denken Sie denn, ich wäre mir all der Gefahren nicht bewusst, die dieses Vorgehen barg?“, stellte er eine Gegenfrage. „Es war einfach unverantwortlich, Sie, eine englische Lady von Stand, zu Ausgrabungen in der Wüste mitzunehmen.“
Bertram sah zu seiner Überraschung ein kleines Lächeln über das Gesicht seiner Cousine gleiten, bevor diese in versöhnlichem Tonfall antwortete: „Wie nett von Ihnen, Duke, aber ich darf Ihnen versichern, dass Sie sich um mich keine Sorgen zu machen brauchen. Die Ausgrabungsstätte war Tag und Nacht bewacht, und mein verstorbener Gatte und die anderen Männer der Delegation achteten streng darauf, dass die Einheimischen uns drei englischen Frauen nicht zu nahe kamen. Außerdem bin ich selbst auch ganz gut in der Lage, mich zu verteidigen, wenn …“
„Du lieber Himmel“, unterbrach sie Seine Gnaden. „Ich sprach doch nicht von etwaigen Gefahren für Sie, Lady Alverston. Ich meinte natürlich die Gefahren, denen die Expedition durch Ihre Anwesenheit ausgesetzt war.“ Bertram hatte den Eindruck, als würde sich der arrogant näselnde Tonfall seines Dienstherrn von Tag zu Tag verstärken. „Frauen in der Wüste können bei solchen Unternehmungen nichts anderes als einen Klotz am Bein darstellen, wenn Sie mir diese drastische Ausdrucksweise gestatten.“
Trotz der scharfen Worte schien sich der Herzog insgeheim zu amüsieren, wie Bertram mit gerunzelter Stirn feststellte. Ganz kurz hatte ein kleines Lächeln seine Augen erreicht. Bertram hingegen wusste, dass es für ihn selbst nichts zu lachen gab. Gleich würde Agatha zu einem verbalen Gegenschlag ausholen.
„Wie kommen Sie bloß zu der Annahme, ich könnte Ihnen diese gestatten?“, lautete überraschenderweise ihre einzige Antwort.
Der Blick, den ihr der Duke nun zuwarf, war für Bertram unergründlich. Lieber Gott, bitte lass uns endlich Wien erreichen, flehte er insgeheim. Er seufzte, als ihm bewusst wurde, dass sich seine Situation auch nach Ende der Reise kaum verbessern konnte; schließlich würden sie zu viert in ein gemeinsames Palais ziehen.
Aber immerhin werden wir dann nicht mehr stundenlang auf so engem Raum eingesperrt sein, beruhigte er sich selbst.
Dann merkte er, dass einer der seltenen Momente eingetreten war, in dem die beiden Kontrahenten schwiegen. Nun war es allein Lizzys fröhliches Geplapper, das die Kutsche erfüllte.
„Wie gefällt es Ihnen in meiner Heimatstadt, mein guter Panswick?“, hörte er sie fragen. „Lieben Sie auch die blühenden Bäume im Prater?“
Sie war offensichtlich in die Rolle einer österreichischen Komtess geschlüpft, die mit ihm, dem Fremden, bekannt gemacht worden war. Bertram lächelte und bemühte sich, ihre Fragen möglichst fehlerfrei zu beantworten.
Natürlich blieb es auch auf der anderen Bank nicht lange still.
„Da gibt es etwas, was ich Sie schon die ganze Zeit fragen wollte, Duke. Wir hatten doch ursprünglich geplant gehabt, unsere Reise bereits im Juni, unmittelbar nach der Hochzeit meiner Cousine Vivian, in Angriff zu nehmen. Was war ausschlaggebend dafür, dass wir damit bis Ende August warten mussten?“, gab Agatha dem Gespräch eine neue Wendung, ohne auf die Aussage des Dukes einzugehen. „Wie ich hörte, hing das irgendwie mit dem Königshaus zusammen. Wie kann das sein?“
Anscheinend war Bertram nicht der Einzige, der sich über den abrupten Themenwechsel wunderte. Eine Augenbraue schnellte in die Höhe, bevor der Duke erklärte: „Es lag an Kronprinzessin Charlotte.“
„Tatsächlich?“ Agatha klang überrascht. „Was hat denn Ihre königliche Hoheit mit unserer Reise zu tun?“
„Nun“, sagte Landmark und schien sich seine Worte gut zu überlegen, „Sie wissen vermutlich, dass sich Prinzessin Charlotte vor einem Jahr mit Wilhelm von Nassau-Oranien verlobt hat?“
Agatha nickte. Es gab wohl kaum jemanden auf der Insel, dem diese freudige Nachricht nicht zu Ohren gekommen war.
„Wankelmütig, wie Frauen aber nun mal sind …“, setzte der Herzog fort, und für den geplagten Viscount gab es keinen Zweifel, dass sich der unverbesserliche Duke insgeheim köstlich darüber amüsierte, seine Cousine zu ärgern. Warum hätte er ihr sonst bei diesen Worten einen herausfordernden Blick zugeworfen? Am liebsten hätte Bertram seinen Unmut laut hinausgeschrien. Doch zu seinem Glück stieg Agatha nicht darauf ein, sondern sagte kein Wort.
„… hat sich die Prinzessin eines schönen Junitages entschieden“, setzte der Herzog fort, „nun doch nicht in den Niederländer, sondern stattdessen in Prinz Leopold von Sachsen-Coburg verliebt zu sein.“
Agatha nickte. Auch davon hatte sie gehört.
„Sie können sich gar nicht vorstellen, was das für das Parlament für einen enormen, zusätzlichen Arbeitsaufwand bedeutete“, erklärte er. „Zahlreiche Verhandlungen mit Nassau-Oranien mussten geführt werden, um alle bereits geschlossenen staatsrechtlichen Vereinbarungen wieder zu lösen. Daher waren sowohl Außenminister Castlereagh als auch ich in London unabkömmlich.“
„Aha.“ Agatha überlegte und blickte dann interessiert zu ihm hinüber. „Sie haben also mitgeholfen, diese diplomatisch verzwickte Angelegenheit zu regeln?“
„Selbstverständlich“, bestätigte er und nickte.
„Ich denke“, sagte Agatha, weiterhin in ihrem freundlichsten Tonfall, „Ihre Einmischung in dieser Sache bedeutete eine große Gefahr für unser Königreich. Durch Ihre Anwesenheit bei den Verhandlungen wäre die diplomatische Lösung beinahe zu Fall gebracht worden.“
Nach diesen ungeheuerlichen Worten lächelte sie allerliebst zum Herzog hinüber.
Bertram riss die Augen auf und schnappte nach Luft. War Agatha verrückt geworden? Wie kam sie dazu, seinem Dienstherrn so etwas Ungeheuerliches zu unterstellen?
„Was erlauben Sie sich, Madam?“, fuhr dieser auch schon auf. Zornesfalten legten sich auf sein Gesicht. „Sie haben doch nicht die geringste Ahnung von allen relevanten Hintergründen.“
„Nein, natürlich nicht“, gab Agatha unumwunden zu. Sie klang weiterhin freundlich.
„Wie können Sie sich dann erdreisten, sich ein Urteil über meine Arbeit zu bilden? Wie kommen Sie dazu, mich zu kritisieren und diesen Unfug zu allem Überfluss auch noch laut auszusprechen? In Gegenwart meiner Tochter?“
„Ach, ist das nicht angebracht?“ Agatha hatte die Hände in den Schoß gelegt und sah weiterhin interessiert zu ihm hinüber. „Da Sie soeben bezüglich meiner Arbeit genau dasselbe getan haben, Duke, hatte ich den Eindruck gewonnen, das gehöre sich so.“