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Kapitel 2

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An diesem Abend stand Lady Agatha Alverston noch geraume Zeit am Fenster und bürstete ihr langes, dunkelbraunes Haar. Lizzy hatte sich bereits im gemeinsamen Bett eingerollt und schlief tief und fest.

So ein reizendes Mädchen, dachte Agatha und zog ihr liebevoll die Decke über die Füße. Wie aufgeblüht sie in den letzten beiden Wochen war! Das Deutschlernen mit Bertram tat ihr gut. Es war nicht zu übersehen, dass ihr Schützling für Agathas Cousin schwärmte. Das war nicht weiter verwunderlich, denn Bertram war nicht nur ein ausnehmend liebenswürdiger junger Mann, er war auch mit mehreren Schwestern aufgewachsen und wusste, wie man Mädchen am besten behandelte. In den langen Tagen der Reise war Lizzy wohl auch so etwas wie eine kleine Schwester für ihn geworden. Und so lange die Schwärmerei niemandem schadete, sondern sogar noch zu Lizzys Lernerfolg beitrug, hatte sie keinen Grund, etwas dagegen zu unternehmen. Mehr noch, dachte sie, jedem Mädchen tat es gut, frühzeitig zu lernen, wie man sich ungezwungen in Gegenwart eines jungen Mannes benahm. Diese Fähigkeit wird ihr in vier oder fünf Jahren gute Dienste leisten, wenn sie in die Gesellschaft eingeführt werden wird. Agatha hielt in Gedanken inne? Wo sie selbst dann wohl sein würde, in fünf Jahren? Wahrscheinlich auf Lancroft Abbey, an der Seite ihrer Tante Louise. Sie war so froh, dass sie sich mit der Viscountess wieder ausgesöhnt hatte, und doch entsprach diese Zukunftsvision nicht wirklich ihrem Traumbild. Gut, sie würde in Sicherheit und in einem familiäreren Umfeld leben und musste sich nicht wieder als Gesellschafterin verdingen, aber aufregend würde es nicht sein. Agatha straffte die Schultern und trat zum Fenster, um in die mondhelle Nacht hinauszuschauen. Warum sollte sie sich mit einer ungewissen Zukunft beschäftigen, wenn doch die Gegenwart so spannend war? Ihr Blick wanderte zu einem ganz bestimmten Stern hinauf.

„Ist es nicht seltsam, wie glücklich ich bin, Edward? Wirklich und wahrhaftig glücklich?“, flüsterte sie zu diesem Stern hinauf.

Kurz nachdem ihr geliebter Ehemann vor vier Jahren gestorben war, hatte sie diesen Himmelskörper zum ersten Mal bemerkt. Er schien heller als alle anderen zu strahlen. Da hatte sie sich vorgestellt, dieser Stern sei Edwards neues Zuhause und er könne sie hören, wenn sie sich ihm zuwandte und mit ihm sprach. Es gab so viel, was sie ihm seither anvertraut hatte. Dass sie in den Jahren nach seinem Tod, als sie auf Lancroft Abbey lebte, von der Familie Barnett liebevoll aufgenommen und von Tante Louise als Gesprächspartnerin geschätzt wurde, sich aber doch immer als Bittstellerin gefühlt hatte, zum Beispiel. Wie froh sie gewesen war, etwas zurückgeben zu können, als sie gebeten wurde, ihre Cousine Penelope in die Gesellschaft einzuführen, und wie verzweifelt sie gewesen war, als sie sich kurz vor der geplanten Abreise das Bein gebrochen hatte. Sie teilte mit ihm die Freude darüber, dass sie wieder gehen konnte. Dann natürlich die Abenteuer, die sie in Florenz erlebt hatte, wo sie nach ihrer Schwester suchte, und die Enttäuschung, als sie außer einem Blatt Papier mit ihrer angeblichen Adresse in Wien keine Spur von Cecilia gefunden hatte.

Agatha wandte sich ab und setzte sich vor die Kommode, um mit geübten Griffen ihr Schlafhäubchen auf die Locken zu setzen. In diesem Raum gab es tatsächlich einen großen Spiegel ohne blinde Flecken. Was für ein außergewöhnlicher Luxus! Außerdem war das Zimmer sauber und geräumig und bot allen Komfort, den man sich von einer Herberge nur wünschen konnte. Wie stark unterschied es sich von den schlecht gelüfteten, verlausten Absteigen, die sie sich mit ihrer Kammerfrau auf der Rückreise von Florenz gerade noch hatte leisten können.

„Ich bin glücklich, weil ich diese Reise mit der größtmöglichen Bequemlichkeit verbringe, mein lieber Edward. Ich freue mich auf Wien und darauf, hoffentlich endlich meine Schwester in die Arme schließen zu können. Außerdem ist es schön zu erleben, wie Lizzy unter meiner Führung aufblüht. Nur der Herzog ist eine harte Nuss“, sagte sie, den Blick wieder zu jenem bestimmten Stern gewandt, „er ist so anders als du. Er ist weder sanft noch gutmütig, und er strapaziert meine Nerven mit seiner Arroganz. Es ist erschreckend, wie wenig er von weiblichen Fähigkeiten hält. Hast du gehört, was er gesagt hat? Ich hätte unsere Ausgrabungen behindert! Das konnte ich ihm doch nicht durchgehen lassen, nicht wahr?“ Agatha schnaufte unwillig, bevor sie gleich darauf zu kichern begann. Aber ich habe es ihm mit gleicher Münze heimgezahlt, dachte sie zufrieden. Ich bin eine Witwe von sechsunddreißig Jahren, ich lasse mich nicht behandeln wie ein unreifes Schulmädchen! Ach, Edward, findest du es allzu arg, dass mich diese Wortwechsel nicht erschrecken? Dein Gleichmut und dein ruhiges Blut hätten solche Streitgespräche nie zugelassen. Bei dir war ich eingebettet in eine Welle von Zuneigung und Harmonie. Landmark ist anders. Traditionsbehafteter. Streitbarer. Männlicher. Agatha erschrak über diesen Gedanken. Tat sie Edward unrecht? „Auch ich habe mich geändert“, sagte sie zum Stern hinauf. „Ich habe seit deinem Tod viel erlebt. Ich bin erwachsen geworden. Und doch fühle ich mich so jung wie schon lange nicht mehr. Ja, ich weiß, du wirst meinen, dass ich mich lächerlich mache, und da hast du vollkommen recht. Ich bin nicht jung, ich bin sechsunddreißig Jahre alt. Ich sollte mich in gedeckte Farben hüllen, eine große Haube auf mein Haar setzen und mich benehmen, wie es sich für eine Witwe in meinem Alter geziemt.“

Agatha seufzte und wandte den Blick dem Spiegel zu, der etwas schief auf der groben Bretterwand der Poststation hing. In dem feinen, weißen Batistnachthemd, das sie trug, hatte sie so gar nichts von einer alternden Witwe an sich, und sie musste sich eingestehen, dass sie das alles andere als bedauerlich fand. Sie drehte und wendete sich vor dem Spiegel und freute sich selbst darüber, wie ihre Augen strahlten.

„Habe ich dir schon erzählt, dass meine Garderobe für eine einundzwanzigjährige Braut geschneidert wurde, mein Lieber?“, fragte sie dann, wieder an den Stern gewandt. „Ich weiß, ich sollte entrüstet sein, weil die Gute die Hochzeit platzen ließ, um mit einem anderen Mann nach Gretna Green durchzubrennen. Aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Ich wünsche ihr viel Glück und bin ihr so unendlich dankbar. Ihre Garderobe war von jener Lady in Auftrag gegeben worden, die ihre Schwiegermutter hätte werden sollen, sie hing fertig bei Lady Derryhills Schneiderin, und wir konnten sie zu einem wahrlich günstigen Preis erwerben. Weißt du was, mein Lieber? Die Kleider üben eine positive Wirkung auf mich aus. Noch nie zuvor habe ich mich so attraktiv und auch so selbstbewusst gefühlt.“

Agatha blies die Kerzen in den Wandleuchtern aus, nahm die eine, die auf einem Zinnhalter steckte, und begab sich zum Bett. Ihre Kammerfrau hatte, wie jeden Abend, ein frisches Leintuch auf die Matratze gelegt. Sonst hatte sie an diesem Zimmer nichts auszusetzen und zu verändern gehabt. Wie die meisten Räume in den großen Poststationen war auch dieser gut gelüftet und sauber. Sie blies die letzte Kerze aus und schlüpfte zu ihrem Schützling unter die Bettdecke. Während sie die Augen schloss, glitten ihre Gedanken wie von selbst an jenen Tag zurück, als sie dem Duke of Landmark zum ersten Mal gegenübergestanden hatte. Das waren Gedanken, die sie ihrem geliebten Edward besser nicht enthüllen wollte.

Denn an diesem Nachmittag in Lady Derryhills Haus geschah etwas, was Agatha nicht für möglich gehalten hätte. Sie, die vernünftige, erwachsene Lady, war vom Anblick dieses Gentlemans auf eine ganz seltsame Art beeindruckt gewesen. Das war etwas, das sie vor niemandem zugeben konnte. Am allerwenigsten natürlich vor dem Duke selbst. Einem Mann, der sich in seiner Arroganz über jede Frau erhaben fühlte. Der meinte, alles besser zu wissen, und nicht einsehen wollte, dass sie bei einigen Dingen mehr Erfahrung hatte als er, zum Beispiel was das Reisen betraf. Und der sie doch völlig aus ihrer gewohnten Ruhe brachte. Agatha überlegte. Nein, damit traf sie den Nagel nicht auf den Kopf. Die Eigenschaften eingebildet, arrogant, selbstgefällig waren bei einem Mann von Adel durchaus üblich, noch dazu bei einem Exemplar von so hohem Stand. All das hatte sie bisher entweder als einschüchternd oder abstoßend empfunden. Bei Landmark gab es noch etwas anderes, was sie allerdings nicht benennen konnte. Sie hatte auch bisher kaum ein Risiko gescheut, sich aber das, was sie tat oder sagte, vorher gut überlegt. In Landmarks Gegenwart agierte sie offener und spontaner. Sie wusste nicht, woran das lag. Sie wurde allerdings auch aus seinem Verhalten nicht schlau. Warum verwickelte er sie immer wieder in lange Gespräche, wenn er ihre Meinung dann doch nicht gelten ließ? War das nur, damit die Stunden in der Kutsche schneller vergingen? Und was waren das für seltsame Blicke, die er ihr immer wieder zuwarf? Eines stand allerdings ohne Zweifel fest: Mit Edward hatte sie sich in all den Jahren zusammengenommen weniger unterhalten als mit dem Duke in den letzten beiden Wochen.

Agatha drehte sich auf die andere Seite und zwang sich, die Gedanken auf ihren verstorbenen Gatten zu konzentrieren. Auf den langen Reisen nach Ägypten waren sie meist in stillem Einvernehmen schweigend im Wagen gesessen, jeder in ein Buch vertieft. Während der Ausgrabungen hatte dann ohnehin nichts und niemand Edwards Konzentration stören dürfen. Gab es auf der Fahrt Fragen oder Probleme, und die gab es zahlreich, so verließ er sich darauf, dass sie ihm alle aus dem Weg räumte.

„Dafür ist meine Gemahlin zuständig“, pflegte er zu sagen. „Die hat bei Weitem mehr Umsicht und praktischen Verstand, ich bin durch und durch Wissenschaftler.“

Agatha drehte sich wieder auf die andere Seite, und der Duke of Landmark bekam abermals die Oberhand. Er war so anders als Edward. Das fing schon beim Aussehen an. Ihr Gatte war sicher nett anzusehen gewesen, aber sie hatte sich wegen seines Charakters in ihn verliebt und bei Gott nicht deshalb, weil ihr der Atem bei seinem Anblick gestockt hätte. Als sie jedoch dem Duke das erste Mal gegenübergetreten war, ihm die Hand reichte und in einen Knicks versank, da war genau das der Fall gewesen. Er war großgewachsen und schlank, und doch hatte sie die Kraft gespürt, die von seiner ganzen Gestalt ausging. Seine Haare waren dunkel wie die ihren, nur an den Schläfen zeigte sich bereits ein Grau, wie es bei seinen einundvierzig Jahren nichts Ungewöhnliches war. Auch die Augen, mit denen er sie kritisch gemustert hatte, waren grau. Auf den schmalen Lippen hatte sich kein Lächeln gezeigt, sie wusste daher bis heute nicht, ob auch ihm gefiel, was er sah.

Er war auf der Suche nach einer geeigneten Begleitung für seine Tochter gewesen. Seine Cousine hatte sich geweigert, diese Rolle länger zu erfüllen und eine Reise in die Stadt zu unternehmen, die, wie sie erfahren hatte, das reinste Sündenbabel sein sollte. Ein Gerücht, an dem, wie Agatha sehr wohl wusste, ihre eigenen Verwandten nicht unschuldig waren. Es war wichtig gewesen, den allerbesten Eindruck zu machen, damit er sie nach Wien mitnahm und ihr neben der Reise auch noch den Aufenthalt in der k. und. k. Hauptstadt finanzierte. Bei diesem ersten Treffen hatte sie sein Anblick so fasziniert, dass sie kein Wort heraus- und nichts anderes zustande gebracht hatte als ein hingerissenes Lächeln. Agatha musste bei dieser Erinnerung kichern. Was für eine glückliche Fügung, dass sie nicht Herrin ihrer Sinne gewesen war. Hätte sie damals schon so frank und frei mit Seiner Gnaden gesprochen, wie sie es jetzt tat, so hätte er wohl niemals zugestimmt, sie mitzunehmen. Nun war er auf ihre Dienste angewiesen, und sie konnte wieder ganz sie selbst sein. Oder zumindest die, zu der sie in seiner Gegenwart wurde. Eine selbstbewusste Frau, die mit ihm stritt. Obwohl, überlegte sie weiter, streiten nicht das richtige Wort war. Es waren eher Fechtkämpfe mit Worten. Agatha lächelte bei diesem Gedanken.

Morgen Abend würden sie bei Verwandten der verstorbenen Gattin des Dukes nächtigen. Diese sollten ein Schloss mit weitläufigen Gartenanlagen im französischen Stil ihr Eigen nennen, die gemeinsam mit Lizzy zu besichtigen sie sich schon freute. Ihr Lächeln vertiefte sich. Ob sie im Schloss endlich ein eigenes Zimmer für die Nacht bekommen würde? Sie mochte Lizzy, und doch vermisste sie auf dieser Reise die Privatsphäre, die sie sonst gewöhnt war. Und vielleicht konnte sie dort auch um ein heißes Bad für sich und ihren Schützling bitten? Mit diesen höchst verlockenden Aussichten schlief sie ein.

Küsse am Wiener Kongress

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