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Kapitel 4
ОглавлениеDer Abend verlief für Agatha dann doch um einiges erfreulicher, als es der höchst unangenehme Zwischenfall im Garten hätte erwarten lassen. Zuvorkommende Diener hatten ihr den Wunsch erfüllt, eine Kupferbadewanne auf ihr Zimmer zu bringen. Diese wurde eimerweise mit heißem Wasser aus der Küche gefüllt, und saubere Leinentücher lagen bereit. Sie hatte Lizzy den Vortritt gelassen, bevor sie dann selbst in das warme Wasser eintauchte. Es tat so gut, einige Minuten ganz für sich allein zu haben. Man hatte ihnen zwei Zimmer mit einer Verbindungstür zugewiesen, und ihr Schützling hatte sich in seinen Bereich zurückgezogen, um vor dem Abendessen noch einige deutsche Ausdrücke und Redewendungen zu lernen. Am kommenden Morgen würden sie wieder in die Kutsche steigen, und da wollte Lizzy Bertram mit ihrem neuen Wissen überraschen, wie sie ihrer Duenna freimütig gestanden hatte.
Mit einem wohligen Aufseufzen tauchte Agatha ihren Kopf in das warme Wasser und begann dann, die Haare mit jener milden Seife zu reinigen, die ihre Cousine Penelope aus Ölen und Kräutern selbst hergestellt hatte. Der Tag war angenehm warm gewesen, daher war auch keine allzu kalte Nacht zu erwarten. Sie war zuversichtlich, dass ihre Haare bis zum nächsten Morgen trocken sein würden. An diesem Abend würde sie außer Lizzy und der Dienerschaft keiner mehr zu Gesicht bekommen, das hatte sich die Gräfin schließlich ausdrücklich verbeten. Ja gut, sie hätte natürlich auf einen Platz bei Tisch bestehen können. Sie war die Witwe eines englischen Adeligen und die Cousine eines Viscounts, allein schon deswegen hatte man sie mit Respekt zu behandeln. Andererseits war sie durchaus froh, dass es ihr erspart bleiben würde, das Dinner unter den kritischen Augen der Gräfin einnehmen und sich weitere gehässigen Mutmaßungen anhören zu müssen. Um wie viel lieber würde sie Lizzy beim Abendessen auf ihrem Zimmer Gesellschaft leisten. Da diese noch nicht ihr Debüt gegeben hatte, verboten es ihr die Konventionen, unter Erwachsenen zu speisen. Agatha beschloss spontan, dass sie sich in Wien nicht an diese Konventionen halten würde.
Kurze Zeit später kam Hearts, ihre treue Kammerfrau, um ihr beim Abtrocknen zu helfen. Agatha war gerade in ein Nachthemd geschlüpft, hatte die nassen Haare unter einem Turban versteckt, und Hearts war dabei, ihr in den mit Spitze verzierten, seidenen Morgenmantel zu helfen, als es an der Tür klopfte.
Ein Hausmädchen trat ein. Die Wangen waren gerötet, und sie verhaspelte sich mehrmals, als sie in ihrem schönsten Deutsch vermeldete: „Seine Durchlaucht, der Herzog, schickt mich, gnädige Frau. Ich soll gnädiger Frau ausrichten, dass gnädige Frau sehr wohl zum Abendessen im Speisesaal erwartet werden. Der Herzog sagt, er erwarte die gnädige Frau pünktlich um halb sieben, halten zu Gnaden!“
Agatha sah ratlos zu Hearts hinüber. Diese blickte ebenso ratlos zurück. Keine von ihnen hatte den vorgebrachten Wortschwall verstanden. Also wurde Lizzy geholt, die sich mit Feuereifer daranmachte, die Worte des Hausmädchens zu übersetzen. Agatha ahnte, dass ihr diese Fertigkeit ihres Schützlings auch in Wien gute Dienste leisten würde. Dann schickten sie die junge Dienerin mit der Botschaft an den Herzog zurück, dass sie ihm danke, sich aber wegen starker Kopfschmerzen außerstande sähe, der freundlichen Einladung Folge zu leisten. Er möge die Freundlichkeit besitzen, sie bei der Gräfin zu entschuldigen. Sie fand diese Antwort sehr gelungen und begab sich in Lizzys Zimmer, wo eine andere Dienerin soeben dabei war, ein kaltes Abendessen auf dem Tisch anzurichten.
„Wenn ich Ihnen auftrage zu kommen, dann haben Sie diesem Befehl Folge zu leisten“, lautete der erste Satz des Herzogs, als sich die Kutsche am nächsten Vormittag wieder in Bewegung setzte.
„Oh sieh an, das wusste ich nicht“, entgegnete Agatha, die durch eine lange, geruhsame Nacht zu ihrer Gelassenheit zurückgefunden hatte. Sie sah interessiert zu ihm hinüber: „Sie haben das Recht, mir Befehle zu erteilen? Wie kommt denn das? Hat man Sie zu meinem Vormund erklärt, ohne dass ich etwas davon weiß? Möchten Sie, dass ich Sie Oheim nenne?“
Bertram, der soeben die Seite des Buches gesucht hatte, an der sie am Tag zuvor ihren Unterricht beendet hatten, hielt inne, sah zu Eliza hinüber und riss verzweifelt die Augen auf. Geht denn die Streiterei schon wieder los?, sollte dieser Blick besagen. Das fand Lizzy offensichtlich so amüsant, dass sie zu kichern begann. Der junge Viscount fragte sich mit schlechtem Gewissen, ob es wirklich klug war, sich eine Dreizehnjährige zur Verbündeten zu machen. Noch dazu gegen ihren eigenen Vater und gegen ihre eigene Anstandsdame. Andererseits war sie für ihn der einzig vernünftige Mensch in diesem Fahrzeug.
Der Duke schnappte hörbar nach Luft: „Oheim? Also wirklich! Ich bin, mit Verlaub, kaum fünf Jahre älter als Sie.“
Agatha lächelte zufrieden.
„Wie konnten Sie nur so dumm sein, das Abendessen auf Ihrem Zimmer einzunehmen, gerade so, als wären Sie Lizzys Gouvernante?“, wollte er wissen.
Das zufriedene Lächeln verschwand wieder. „Ich war bei Tisch nicht erwünscht, das kann Ihrer Erinnerung doch nicht entfallen sein. Die Gräfin hielt mich für … für …“ Errötend brach Agatha ab.
„Das haben Sie also gehört?“ Der Herzog presste die Lippen zu einem Strich zusammen.
Eliza beugte sich nach vorne. „Wofür hat Sie die Gräfin gehalten, Lady Agatha?“, fragte sie interessiert.
Als keiner der Erwachsenen daran dachte, ihr zu antworten, lehnte sie sich wieder zurück und begann mit Bertram eine Konversation, in die sie geschickt die Redewendungen einflocht, die sie am Vorabend gelernt hatte. Er lobte sie in den höchsten Tönen und beeilte sich dann, diese Ausdrücke mehrmals zu wiederholen, um sie auch selbst in seinen Wortschatz aufzunehmen.
„Sie haben sich nicht viel Mühe gegeben, den schändlichen Verdacht aus der Welt zu räumen“, raunte Agatha dem Duke zu. „Von einem Gentleman hätte ich erwartet, dass er mich gegen solche Attacken beschützt …“
Sie bemerkte selbst, wie bitter ihre Stimme klang. Am Vorabend war sie noch froh gewesen, den Fängen der Gräfin entkommen zu sein. Sie wusste selbst nicht, warum es sie an diesem Morgen derart erzürnte, dass er sich nicht stärker für sie eingesetzt hatte und ihr jetzt stattdessen Vorwürfe machte. Andererseits musste sie im Stillen zugeben, hatte er nicht unrecht. Sie hätte sich auch selbst für sich stark machen können. Schließlich war sie eine erwachsene, selbstbewusste Frau … In diesem Augenblick entfuhr ihr ein erschrockenes: „Oh, entschuldigen Sie bitte vielmals!“
Die Kutsche war in eine so enge Linkskurve abgebogen, dass Agatha, die in Gedanken versunken nicht damit gerechnet hatte, gegen den Duke geschleudert worden war. Geistesgegenwärtig hielt er sie mit beiden Händen fest und verhinderte so, dass sie von der Bank rutschte. Agatha beeilte sich, sich wiederaufzurichten, und zupfte mit hektischen Bewegungen den Rock ihres Reisekleids zurecht. Es war nun schon das zweite Mal, dass sie aus Versehen in seinen Armen gelandet war. Sie wunderte sich, dass sie es nicht unangenehm fand, ihm so nahe zu sein. Er roch gut. Nach Sandelholz und Rosmarin.
„Natürlich habe ich mich für Sie eingesetzt“, hörte sie ihn da sagen. „Denken Sie denn, die Gräfin hätte es anderenfalls zugelassen, dass man Sie doch zu Tisch holt?“, fragte er, ohne auf den Zwischenfall einzugehen. Er hatte sich also doch auf ihre Seite gestellt? Agatha nahm es mit Freude zur Kenntnis. „Sie sind mir dadurch in den Rücken gefallen, dass Sie trotz allem nicht zum Dinner erschienen sind“, lautete nun sein Vorwurf.
Agatha bemühte sich, ihr schlechtes Gewissen zu verdrängen.
„Im Irrgarten haben Sie geschwiegen!“, bestand sie daher weiterhin, die Schuld bei ihm zu suchen.
„Im Irrgarten war ich zu überrascht, um überhaupt irgendetwas zu sagen“, verteidigte er sich. „Wie hätte ich denn ahnen können, dass Sie in mich hineinlaufen würden?“
„Sie sind doch in mich hineingelaufen!“, sah sich Agatha bemüßigt, richtigzustellen.
Bertram rollte mit den Augen. Lizzy kicherte wieder.
„Wie auch immer es war, die Vorwürfe der Gräfin waren haltlos“, sagte der Herzog. „Da gebietet es doch der reine Menschenverstand, dass man entschlossen dagegen auftritt und sich nicht in seinem Zimmer versteckt, als hätte man ein schlechtes Gewissen. Man hat dem Feind die Stirn zu bieten und …“
„Ist denn die Gräfin Weiningen unser Feind, Papa?“, meldete sich seine Tochter überrascht zu Wort. „Ich dachte, sie sei Mamas Cousine und wir würden sie mögen.“
Er war kurz irritiert, überlegte, was er am besten antworten sollte, und warf Agatha einen hilfesuchenden Blick zu. Die genoss seine Sprachlosigkeit viel zu sehr, um ihm tatsächlich beizustehen.
„Natürlich mögen wir die Gräfin, Eliza“, sagte er schließlich, um einen ruhigen Tonfall bemüht. „Ich habe ganz generell gesprochen. Lady Agatha weiß, was ich meine. Konzentriere du dich auf deinen Deutschunterricht. Diese Unterhaltung ist nicht für deine Ohren bestimmt.“ Um dann an Agatha gewandt fortzusetzen: „Und dann auch noch Kopfschmerzen vorzutäuschen! Die fadenscheinigste aller Ausreden. Ich hätte Ihnen da mehr Einfallsreichtum zugetraut, wenn es schon sein musste …“
In dieser Tonart ging es weiter, bis sie in einer überfüllten Poststation haltmachten.
Eigentlich hatten sie vorgehabt, rasch ein einfaches Mittagsmahl zu sich zu nehmen und ohne Verzögerung zu ihrem nächsten Ziel, einer Stadt namens Nürnberg, weiterzufahren. Doch wie es sich herausstellte, waren die Köche von den zahlreichen Reisenden so heillos überfordert, dass sich die Wartezeit auf das Essen schier endlos hinzog. Der Herzog schickte Bertram mehrmals in die Küche, um sicherzustellen, dass sie im Extrazimmer nicht vergessen wurden. Dann endlich wurden dicke Würste auf groben Steintellern aufgetischt. Dazu gab es gestampfte Kartoffeln und ein säuerliches Kraut, das mit viel Kümmel gekocht worden war. Der Duke und Bertram spülten alles mit Bier hinunter, das man hier in großen Krügen servierte und das zu ihrer Überraschung kalt getrunken wurde.
Alles in allem dauerte der Aufenthalt in der Poststation um einiges länger als geplant, und so stimmte der Duke anschließend ohne zu zögern dem Vorschlag des Kutschers zu, bei der Weiterfahrt von der Poststraße abzuweichen.
„Der Stallbursche hat mir eine Abkürzung beschrieben, Euer Gnaden. Durch die können wir die verlorene Stunde gut und gern bis zum Abend wieder hereinholen. Die Nacht verbringen wir dann, wie geplant, im Gasthof Graue Gans in Nürnberg.“
„Wir sollten auf der Poststraße bleiben“, meldete sich Agatha zu Wort. „Dort sind wir sicher. Wer weiß, in welchem Zustand die kleinen Straßen hier sind. Auf meiner Reise nach Florenz …“
„Ach, hören Sie doch auf mit Florenz!“, fuhr der Herzog sie an. „Wenn ein Einheimischer eine Abkürzung empfiehlt, dann wird das seine Richtigkeit haben. Außerdem: Warum soll der Zustand der Nebenstraßen schlecht sein? Es hat mehrere Tage lang nicht mehr geregnet.“
Damit waren Agathas Bedenken kurzerhand vom Tisch gewischt und der Duke wandte sich an den Kutscher, um seine Zustimmung zur Abkürzung zu wiederholen. Dieser bedankte sich, erklomm den Bock und schon fuhren die Fahrzeuge aus dem Innenhof der Poststation hinaus. Zuerst ging es noch ein kurzes Stück auf der breiten Straße entlang, bis sie zu einem Bildstock kamen. Da fuhr der Wagen in einen unbefestigten Weg ein, um mitten durch ein abgeerntetes Maisfeld zu rumpeln.
Gegen achtzehn Uhr musste sich selbst der Duke of Landmark eingestehen, dass sie sich verirrt hatten und den vorgesehenen Gasthof nie und nimmer vor Einbruch der Dunkelheit erreichen würden. Er war ungehalten und rechtschaffen müde. Dazu kam, dass ihn Agatha bereits mehrmals auf diese Möglichkeit hingewiesen hatte, was auch nicht dazu geeignet war, seine Laune zu heben.
Der Wagen wurde angehalten, der Kutscher sprang vom Bock und öffnete den Schlag: „Es tut mir leid, Euer Gnaden. Ich habe mich genau an die Beschreibung des Burschen gehalten, und doch dürfte ich irgendwo eine falsche Abzweigung erwischt haben, ah … da kommen die anderen. Sehr gut.“
Die letzten Worte betrafen die beiden kleineren Kutschen, die eben in seine Sichtweite gekommen waren.
„Von sehr gut kann keine Rede sein“, fuhr ihn sein Herr missmutig an. Wie alle anderen auch, war er in den letzten Stunden durchgeschüttelt worden, und jeder Knochen im Leib tat ihm weh. Er war hungrig, durstig und fühlte sich wie erschlagen. All das machte ihn äußerst gereizt. „Fahr weiter und sieh zu, dass wir die nächste Stadt erreichen. Irgendwo muss sich doch da ein bewohntes Gebiet befinden.“
Agatha war auf die andere Seite gerutscht und drückte nun ihre Nase an die mit Lehm beschmutzte Fensterscheibe. „Wir stehen vor einem Gasthaus, wie mir scheint“, informierte sie ihn. „Lassen Sie uns doch hierbleiben.“
Das Steinhaus war klein und gedrungen. Aus dem Inneren der Gaststube schien sanftes Kerzenlicht nach außen. Agatha hob den Kopf und sah Rauch aus dem gemauerten Kamin aufsteigen. Das Schild über der Tür war so stark verwittert, dass man den Namen nicht mehr lesen konnte, doch es wies das Haus ohne Zweifel als Gastbetrieb aus.
„Das war auch meine Idee, Mylady“, bestätigte der Kutscher ihre Worte. „Die Gastwirtschaft ist nicht groß, doch sie scheint ganz passabel zu sein.“
„Ich finde das kleine alte Häuschen hübsch“, rief Lizzy aus, die sich nun ebenfalls zum Fenster gelehnt hatte. „Es hat etwas Märchenhaftes, findet ihr nicht auch?“
Bertram lächelte.
Agatha verzog zweifelnd die Lippen. Sie hatte auf ihren Reisen schon zu viele negative Erfahrungen gesammelt, um noch an ein Wunder zu glauben.
„Das Wirtshaus interessiert mich nicht im Geringsten“, fuhr der Duke auf. „Es ist geplant, dass wir heute in Nürnberg übernachten, also werden wir nach Nürnberg fahren. Schließen Sie die Tür, es zieht!“
Der erfahrene Kutscher, der schon so lange in seinen Diensten stand, dass er sich das Vertrauen seines Herrn erarbeitet hatte, wagte einen Widerspruch: „Das erscheint mir nicht ratsam, Euer Gnaden. Wenn ich nach vorne schaue, scheinen ausgedehnte Wälder vor uns zu liegen.“
„Wälder gibt es hier überall“, lautete die trockene Antwort, „die haben uns bisher nicht gestört und werden uns auch jetzt nicht stören.“
„Euer Gnaden, mit Verlaub, ich halte es für ein viel zu großes Risiko, zu so später Stunde in einen Wald hineinzufahren“, ließ der Diener nicht locker. „Man weiß nie, welches Gesindel sich dort herumtreibt.“
Noch war der Duke nicht geneigt, nachzugeben. „Wir sind bewaffnet“, wandte er ein, doch es klang nicht mehr ganz so überzeugt.
Der Kutscher warf einen Blick gegen den Himmel und wagte einen neuerlichen Vorstoß: „Außerdem wird es in Kürze Regen geben, vielleicht sogar Sturm. Der Wind frischt bereits auf …“
Wie zum Beweis seiner Worte fegte ihm eine heftige Böe den hohen Hut vom Kopf. Geistesgegenwärtig griff er nach dem fortfliegenden Zylinder, erwischte ihn gerade noch und drückte ihn fest auf seine grauen Locken. Erste dicke Tropfen klatschten gegen das Kutschendach. Jetzt musste auch der Herzog wohl oder übel einsehen, dass an eine Weiterfahrt nicht mehr zu denken war.
Kurze Zeit später standen sie dicht aneinander gedrängt in einem muffigen, engen Hauseingang. Die Decke war so niedrig, dass sich der hochgewachsene Herzog vorbeugen musste, um nicht anzustoßen. Die Wände waren roh und von Flecken übersät. Da niemand gekommen war, um nach ihren Wünschen zu fragen, übernahm Walterton, der Kammerdiener des Dukes, das Kommando. Agatha mochte ihn nicht besonders. Er war ihr zu hochnäsig, und sie hatte ständig das Gefühl, er versuche seinen Herrn an Vornehmheit noch zu übertreffen. Allerdings war er auch energisch, wie sie in diesem Augenblick feststellte.
„Landlord, come at once!“, rief er nämlich in voller Lautstärke und öffnete dann mit einem Ruck die Tür zum Schankraum. Der Geruch, der ihnen entgegenschlug, war so ekelhaft, dass sich Agatha vor Schreck den Ärmel vor die Nase hielt. Es roch nach abgestandenem Bier, ranzigem Talg, verdorbenem Fleisch und nach sonst so allerlei. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, was alles die Ursachen für diesen Gestank sein konnten, und gab Lizzy mit einer Handbewegung das Zeichen, sie solle ihre Nase ebenfalls bedecken. Mit großen Augen sah sie zur Sitzbank hinüber, die aus groben Brettern zusammengezimmert war. Waren das zwei Katzen, die da in der Ecke saßen, oder zwei besonders wohlgenährte Ratten? Der Kammerdiener eilte zu einem der kleinen Fenster, und sofort hatte sie Gewissheit: Ja, es waren Ratten, die jetzt quiekend das Weite suchten. Lizzy schrie auf, Agatha legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Sie wünschte sich, das hätte auch jemand bei ihr gemacht. Wo waren sie da nur hingeraten?
Laut und deutlich grollte draußen der erste Donner. Auch das noch! Bei einem Gewitter gab es sicher kein Fortkommen mehr. Walterton hatte inzwischen eines der Fenster mit einem so starken Schwung aufgerissen, dass es aus den Angeln kippte und schräg vor der Wand zu hängen kam. Es donnerte abermals. Heftiger Wind fuhr ins Innere des Raumes und wirbelte den Dreck auf, der auf dem Fußboden lag. Die Zugluft verstärkte sich noch, als nun die den Fenstern gegenüberliegende Tür aufging und ein untersetzter kleiner Mann mit einer ledernen Schürze eintrat. Er hatte ein aufgedunsenes Gesicht und tiefe, dunkle Ringe unter den Augen.
Mit großen Schritten war er beim Kammerdiener, packte ihn am Arm, riss ihn vom Fenster weg und brüllte: „Bist du wahnsinnig geworden, du Brotz? Von dir lass ich mir doch net meine Stube auseinandernehmen. Geht‘s dorthin, woher ihr gekommen seid, ihr Großkopferten!“
Dann drückte er mit geübtem Griff das Fenster wieder in den Rahmen zurück.
Agatha wandte sich zu Bertram um, um zu erfahren, was der Mann gesagt hatte, doch der zuckte nur ratlos mit den Schultern. Sie hatten zwar erkannt, dass das der Wirt sein musste, und begriffen, dass er ungehalten war. Aber sie hatten nicht ein Wort, das er von sich gegeben hatte, verstanden.
„Einen Augenblick, guter Mann“, meldete sich nun der Duke zu Wort. Agatha war sich nicht sicher, ob er so langsam sprach, weil er den Wirt beruhigen wollte, oder ob ihm die Worte in der fremden Sprache nicht schneller einfielen. „Wo genau befinden wir uns denn hier? Ich hatte angenommen, dass in diesem Land deutsch gesprochen würde.“
„Was wüllst?“, fuhr ihn der Wirt an und krempelte seine Ärmel hoch. „Ich bin net dein guter Mann, merk dir das, du gscherter Hammel!“
Da er damit zu beweisen schien, dass Deutsch doch nicht seine Muttersprache war, hielt es der Duke für angebracht, seine Frage auf Französisch zu wiederholen. Dass das schon gar keine gute Idee war, stellte sich umgehend heraus: „Sag bloß, du bist a Franzos, du Wanzen? Das wird ja immer schlimmer!“, war die Reaktion, die er darauf erhielt. Nun war das Gesicht des Wirts feuerrot angelaufen.
Der Duke runzelte die Stirn und sah zum ebenso ratlosen Bertram hinüber. Ein Blitz durchzuckte die Dämmerung, der nächste Donner folgte auf dem Fuße. Heftiger Regen prasselte gegen die kleinen Fensterscheiben.
„Ich fürchte, der Mann will uns mitteilen, dass es im Haus eine schlimme Ungezieferplage gibt“, sagte der junge Viscount nun. „Die Wörter schlimm und Wanzen habe ich verstanden. Der Mann scheint also doch eine Art von Deutsch zu sprechen.“
„Was ist denn das für eine Schreierei?“, meldete sich nun die Stimme der Wirtin, die im Türrahmen aufgetaucht war und kampfeslustig die drallen Arme in die Hüften stemmte.
„Kaputt machen wollen die uns alles, die Saupreißen, die französischen!“, setzte sie ihr Gatte ins Bild.
Und wieder donnerte es.
Agatha drehte sich zu ihrem Cousin um. Sie hatte auf ihren Reisen die Erfahrung gesammelt, was man am besten tat, um solch kritische Momente abzuwenden: „Schnell, Bertram, gib der Frau Geld. Versuch sie auf deine Seite zu ziehen. Sei großzügig!“
Der so Angesprochene zögerte nicht lange, fischte einige Münzen aus der Tasche seiner Weste und trat auf die Wirtin zu: „Entschuldigen Sie, gnädige Frau“, sagte er so höflich, wie ihn das sein Buch gelehrt hatte. Er verbeugte sich und reichte ihr die Münzen. „Für Ihre …“ Er stockte kurz und wagte sich an ein schier unaussprechliches Wort: „Un-an-nehm-lich-keit-en.“
Die Augen der Frau leuchteten auf. Sie griff gierig zu und ließ das Geld in ihrer Kitteltasche verschwinden. Ihr Grinsen zeigte zwei schwarze Zahnstummel.
„Nun haben Sie bitte die Freundlichkeit, uns Ihre Gästezimmer zu zeigen“, setzte Bertram fort, „denn wir werden hier übernachten. Dann führen Sie uns in ein Extrazimmer, in dem wir speisen können.“
„Na, Sie sind aber ein ganz ein Vornehmer“, kommentierte die Wirtin seine Worte sichtlich beeindruckt und knickste.
„Halleluja, sie hat Sie verstanden!“, bemerkte der Duke trocken auf Englisch. Agatha musste grinsen.
„Ein Extrazimmer gibt es bei uns keines und speisen können Sie auch nicht. Aber etwas zum Essen kann ich Ihnen richten, dafür müssen Sie sich dann aber schon in den Gastraum setzen. Und jetzt kommen Sie mit …“ Sie drehte sich um, winkte mit der Hand und ging dann breitbeinig zur Tür.
„Ich will die Watschengsichter nicht im Haus haben!“, brüllte der Wirt ihr hinterher.
Doch seine Gattin beachtete ihn nicht. Sie war bereits in das dunkle Treppenhaus hinausgetreten, und die englischen Gäste beeilten sich, ihr zu folgen.
Die Zimmer, in die sie geführt wurden, waren schlimmer als alles, was sich die verwöhnten Reisenden in ihren ärgsten Albträumen je hätten vorstellen können. Sogar Agatha, die auf ihren Reisen wahrlich schon viel erlebt hatte, hatte noch selten eine Nacht in einem derart desolaten Haus verbringen müssen. Es gab zwei große Schlafzimmer mit jeweils drei Betten und eine kleine Kammer mit einem. Statt Matratzen hatte man Strohsäcke auf die rohen Bretter der Liegeflächen geworfen. Darauf stapelten sich verdreckte Wolldecken. Durch die Mauerritzen pfiff lautstark der Wind, bei den kleinen Fenstern strömte der Regen in wahren Sturzbächen ins Innere. Diesmal war es Agatha, die trotz allem ein Fenster öffnete, da sie fürchtete, anderenfalls ersticken zu müssen. Die Böden waren von toten Käfern und Mäusedreck überzogen. Das bereitgestellte Nachtgeschirr war offensichtlich nicht ausgewaschen worden, was den beißenden Gestank erklärte.
„Seiner Gnaden ist natürlich das Einzelzimmer vorbehalten“, bestimmte der Kammerdiener. „Ich werde umgehend das Nötigste veranlassen.“
Zu seinem Erstaunen hielt ihn sein Herr mit einer Handbewegung zurück. „Wenn uns tatsächlich nichts anderes übrigbleibt, als hier in dieser grauenvollen Kaschemme die Nacht zu verbringen“, sagte er, „dann werden Eliza und die Kammerfrau das eine Zimmer nehmen, wir Männer teilen uns das andere. Es ist selbstverständlich Lady Alverston, der die Kammer zusteht. Dem Gemüt einer Lady ist ein Schlafsaal keinesfalls zumutbar.“
Hatte er mit Dankbarkeit gerechnet, so überraschte ihn Agatha damit, dass sie zuerst nach Luft schnappte, bevor sie empört ausrief: „Gemüt einer Lady? Haben Sie mir denn nicht zugehört? Ich bin es, die an Unannehmlichkeiten auf Reisen gewöhnt ist. Halten Sie mich also bitte nicht für ein so zartes Pflänzchen, das keine Nacht gemeinsam mit Lizzy und Hearts überstehen kann.“
Er wollte etwas einwenden, doch sie schnitt ihm das Wort ab: „Außerdem, denken Sie doch nach! Ihr Vorschlag wäre schon rein rechnerisch nicht durchführbar. Wir sind hier drei weibliche, aber vier Vertreter des männlichen Geschlechts. Das heißt natürlich, dass wir Frauen uns das eine und Bertram mit den beiden Kammerdienern sich das zweite große Zimmer teilen müssen. Ich werde daher umgehend alles Nötige veranlassen …“
Der Duke presste die Lippen aufeinander und verzichtete auf weitere Einwände. Was hätte er auch sagen sollen? Eine kleine Kammer allein war ihm allemal lieber als ein Gemeinschaftsquartier.
„Mit allem Respekt, Eure Ladyschaft, wenn jemand das Nötige veranlassen wird, dann bin ich das. Natürlich nur, soweit es die Unterkunft Seiner Gnaden betrifft“, meldete sich dafür sein Kammerdiener näselnd zu Wort. „Nun lassen Sie mich bitte vorbei. Ich muss zusehen, wo die Kutscher mit dem Gepäck bleiben.“
Das wiederum konnte Agatha nicht zulassen.
„Lassen Sie das Gepäck um Himmels willen, wo es ist“, befahl sie. „Holen Sie nur das Allernötigste ins Haus. Sie wollen doch nicht, dass Sie morgen die gesamte Kleidung Ihres Herrn verbrennen müssen, weil sich darin Flöhe und Wanzen eingenistet haben.“
Daraufhin wandte sie sich zu ihrem Cousin um, der sich wieder einmal wünschte, unsichtbar zu sein.
„Bist du so freundlich, mir die schwarze Holzkiste heraufzubringen, Bertram? Ich muss umgehend die nötigen Maßnahmen treffen, damit uns die beißenden Biester nicht allzu nahe kommen.“
Sie wollte eben einen prüfenden Blick in die kleine Kammer werfen, als auch schon der Kammerdiener in den Türstock sprang und seine Arme ausbreitete.
„Dies ist ab nun das Schlafgemach eines Gentlemans“, rief er so entrüstet, dass er zu näseln vergaß, „und somit für ein weibliches Wesen tabu.“
Bertram verdrehte die Augen, machte auf der Stelle kehrt und beeilte sich, aus der Gefahrenzone zu kommen. Es reichte ihm schon, wenn Agatha ständig mit seinem Herrn stritt. Musste sie sich jetzt auch noch mit dessen unmöglichen Kammerdiener anlegen?
„Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Walterton“, hörte er sie da auch schon sagen. „Die weiblichen Wanzen und Flöhe werden auch keine Skrupel haben, in das Schlafgemach eines Gentlemans einzudringen und Ihrem Herrn zuzusetzen.“
Das Letzte, was der junge Viscount vernahm, bevor er das Haus verließ, um sich in den strömenden Regen hinauszubegeben, war ein lautes Machtwort des Herzogs: „Ruhe allerseits! Ich will in dieser leidigen Angelegenheit keinen Ton mehr hören. Wir treffen uns in einer Stunde zum Abendessen.“
Bertram sah nicht mehr, dass der Duke anschließend den Kammerdiener zu sich winkte und die Tür mit einem so lauten Krachen hinter sich zufallen ließ, dass der Staub aufwirbelte und einige Mäuse fiepend das Weite suchten.