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Kapitel 6

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Dass Agatha am nächsten Morgen ungewöhnlich früh erwachte, hatte zwei Gründe. Zum einen hatte irgendein Insekt sie in den Unterarm gestochen und der Stich juckte ungemein. Zum anderen hatte sich die gute Hearts auf den Rücken gedreht und schnarchte wie ein Braunbär.

Verschlafen rieb sie sich die Augen und blickte zum Fenster hinüber. Es hatte zu regnen aufgehört, und die ersten Sonnenstrahlen versprachen einen angenehmen Reisetag. Auf dem Ast, der beim Einschlafen gegen die Scheibe geschlagen hatte, hatte sich nun eine Amsel niedergelassen und stimmte ihr Morgenlied an. Agatha beschloss, das alles als gutes Zeichen dafür zu nehmen, dass sie den Tiefpunkt ihrer Reise überwunden hatten und es jetzt nur mehr bergauf gehen konnte. Ihr Blick glitt zu ihrem Schützling hinüber. Lizzy schlief noch tief und fest. Also beschloss sie die kurze Zeitspanne zu nutzen, die sie ganz für sich alleine hatte. War nicht neben dem Haus eine Regentonne aufgestellt gewesen? Sicherlich war die nun voll mit frischem Wasser. Was für ein verlockender Gedanke! Damit würde sie sich viel lieber waschen als mit der braunen Brühe, die ihnen die Wirtin am Vorabend in zwei Krügen ins Zimmer gestellt hatte. Sie schlüpfte in die Schuhe, die sie am Abend vorsorglich neben das Bett gestellt hatte, um den Boden nicht mit blanken Füßen betreten zu müssen, und stülpte sich dann ihr Kleid über den Kopf. Sie war lange genug ohne Kammerfrau ausgekommen, sodass sie sich auch an diesem Morgen ohne Hilfe anziehen konnte. Das war, ohne Zweifel, eine sehr nützliche Fähigkeit, vor allem, wenn man sich heimlich aus dem Haus schleichen wollte. Die Haare ließ sie einfach über ihre Schultern fallen. Zwei, drei Bürstenstriche mussten genügen. Hearts würde vor dem Frühstück noch genügend Zeit haben, sie ihr ordentlich aufzustecken. Agatha griff zu zwei leinenen Handtüchern, der Dose mit Seifenpulver und nahm auch gleich das Fläschchen mit, das ihr ihre Cousine Penelope gegen alle Arten von Insektenstichen mitgegeben hatte. Sie konnte sich noch daran erinnern, dass es Alkohol, Essig und irgendwelche Kräuter enthielt. War es Lavendel gewesen? Oder Waldmeister? Einerlei, Hauptsache, das Jucken würde davon besser werden.

Als sie auf Zehenspitzen zur Tür huschte, blieb ihr Blick an den Flohfallen hängen. Die Seifenlauge war inzwischen schwarz von totem Ungeziefer. Agatha lächelte zufrieden. Da wird der arrogante Walterton Augen machen, dachte sie, während sie vorsichtig die Tür hinter sich zuzog und sich auf den Weg die Treppe hinunter machte. Sicher hatte er sich mit seinem vornehmen Herrn bisher nur in ebenso vornehmen Häusern und ordentlichen Poststationen aufgehalten. Es würde ihm eine Lehre sein, sich über das Wissen von Menschen hinwegzusetzen, die mehr Erfahrung und Ahnung hatten als er.

Wir hätten sein Bett nicht auch in Wasserschüsseln stellen sollen, ging es ihr durch den Kopf, dann wäre die Erkenntnis noch viel größer gewesen. Dann hätte er sie sozusagen am eigenen Leib gespürt. Agatha grinste, und trat mit den Handtüchern unter dem Arm ins Freie. Auf den Anblick, der sich ihr bot, als sie den schmalen, völlig überwucherten Weg entlangging, der sie hinter das Haus führte, war sie nicht im Geringsten vorbereitet.

Wie sich herausstellte, war sie nämlich nicht die Einzige gewesen, die die Regentonne zum morgendlichen Ziel auserkoren hatte. Nun stand dort der Duke of Landmark neben einem Blecheimer und starrte prüfend auf die Wasseroberfläche der Tonne. Er trug dunkle Beinkleider, die in eleganten Reisestiefeln steckten. Rund um seinen Mund lag ein Bartschatten, der ihm etwas unerwartet Verwegenes gab. Was Agatha jedoch besonders ins Auge stach, war sein Oberkörper, denn der war nackt. Ein Umstand, der sie scharf die Luft einziehen ließ.

Ja natürlich, es war nicht die erste männliche Brust, die sie unbekleidet sah. Sie war schließlich acht Jahre lang verheiratet gewesen und hatte eine gute Ehe geführt. Edward war etwas kleiner gewesen als sie, stämmig, mit kräftigen Armen, die sich quer durch Tonnen von Sand und Geröll schaufeln konnten. Seinen irischen Vorfahren verdankte er sein rötlich gefärbtes Haar, das sich auch auf der Brust fortgesetzt hatte. Der Gentleman, der nun einige Meter von ihr entfernt vor ihr stand, hatte keine Haare auf der Brust. Er war großgewachsen, schlank und dabei doch erstaunlich muskulös. Hatte nicht Bertram irgendwann einmal erwähnt, der Duke würde regelmäßig in der Boxschule von Gentleman Jackson vorbeisehen? Sie hatte damals das Wort vorbeisehen wörtlich genommen, denn der Herzog und Boxen, das hatte für sie nie und nimmer zusammengepasst. Dafür war er in ihren Augen viel zu vornehm, zu abgehoben, zu … aristokratisch gewesen. Anscheinend hatte sie sich geirrt. Denn nun stand er da, im morgendlichen Sonnenlicht, und erinnerte sie an eine der Statuen, die sie in Florenz gesehen hatte. Das Standbild, an das sie dachte, hatte allerdings keine Hose getragen, und nicht das kleinste Eichenblatt hatte seine intimste Stelle bedeckt. Agatha bemerkte, dass sie bei dieser Erinnerung zutiefst errötete. Sie beschloss rückwärts zu gehen, um auf der anderen Seite des Hauses zu verschwinden. Der Duke durfte sie auf keinen Fall entdecken und feststellen, dass sie ihn heimlich beobachtet hatte. Da geschah allerdings etwas, was sie, als sie gerade den ersten Schritt nach hinten machen wollte, fasziniert verharren ließ.

Der Herzog beugte sich mit einer schnellen Bewegung vor und tauchte seinen gesamten Oberkörper ins kalte Regenwasser. Agatha war so erstaunt, dass sie den Atem anhielt und ihren Blick nicht abwenden konnte. Der Duke verharrte einige Augenblicke regungslos im Wasser, bevor er nach Luft schnappend wieder hochkam. Er warf seinen Oberköper nach hinten, und seine seit Beginn der Reise stetig gewachsenen Haare flogen durch die Luft, bevor er sie mit der Hand zurückstrich. Da entdeckte er sie, blickte hektisch um sich und sagte dann anstelle eines Grußes: „Ich habe leider kein Handtuch, um meine Blöße zu bedecken.“

Ohne zu zögern ging sie näher, um ihm eines der ihren zu reichen.

„Keine Sorge, Sie sind nicht der erste Mann, den ich unbekleidet sehe“, sagte sie und bemühte sich, unbeeindruckter zu klingen, als sie war.

Er war zuerst sichtlich irritiert, ja geradezu entsetzt über diese Worte, bevor er sich mit der Hand auf die Stirn schlug und „Ja, natürlich, ich vergaß, dass Sie ja bereits Witwe sind“ ausrief. „Sie sehen heute Morgen so jung aus und so …“ Er ließ den Satz in der Luft hängen.

Agatha errötete über dieses unerwartete Kompliment und flüchtete in ein weniger aufregendes Gesprächsthema: „Nützen Sie das kalte Wasser zur Abhärtung?“

„Ach was, Abhärtung“, widersprach er, um gleich darauf einzulenken. „Na ja, vielleicht auch. Aber vor allem will ich die Biester loswerden, die meinen Rücken und meine Arme zerstochen haben. Und ich fürchte, einige von ihnen krabbeln noch in meinen Haaren herum.“

Ha!, wollte Agatha auf dieselbe Art triumphieren, wie es am Vortag sein unseliger Kammerdiener getan hatte. Habe ich es nicht gesagt? Wer wollte denn mein Pulver nicht? Wer hat denn nun seine Fähigkeiten überschätzt? Da drehte er ihr den Rücken zu, und sie schluckte all diese spöttischen Bemerkungen hinunter.

„Oh du lieber Gott!“, sagte sie stattdessen.

Seine Arme und Schultern waren über und über mit roten Stellen und Pusteln übersät.

„Sieht es denn so schlimm aus, wie es sich anfühlt?“, fragte er, und sein Lächeln gelang etwas schief. Der Gesichtsausdruck, mit dem sie ihn ansah, war Antwort genug.

„Da drüben ist ein Baumstrunk“, sagte sie dann und stellte wieder einmal ihren praktischen Verstand unter Beweis. „Am besten, Sie setzen sich darauf und ich wasche Ihre Haare mit meinem Seifenpulver. Wollen wir doch sehen, ob wir dem Ungeziefer damit nicht den Garaus machen können.“

„Mir die Haare …“ Es kam nicht oft vor, dass der Duke of Landmark nach Worten rang, aber in diesem Augenblick tat er es. „Aber Sie können mir doch nicht … ich hätte Walterton umgehend wecken sollen, aber in dieser verflixten Bruchbude gab es natürlich keinen Klingelstrang. Bemühen Sie sich nicht … ich werde ihn holen … er soll …“

Agatha hatte nicht die geringste Lust, sich bereits am frühen Morgen mit dem unsäglichen Kammerdiener herumzuschlagen. Dafür hatte sie umso größere Lust, den Duke mit unerwarteten Handlungen in Verwirrung zu stürzen.

„So zieren Sie sich doch nicht wie eine alte Jungfer“, antwortete sie daher, und es machte ihr ein diebisches Vergnügen, seine vor Überraschung geweiteten Augen zu sehen. Er sagte kein Wort mehr und tat, wie ihm geheißen. Agatha füllte den Blecheimer, der neben der Tonne in der Wiese lag, mit Wasser und platzierte ihn neben dem Baumstrunk. Dann stellte sie sich hinter den Herzog und begann, seine Haare nach kleinem Getier abzusuchen. Dabei wagte sie kaum zu atmen. Es war etwas ganz anderes, etwas vollmundig zu verkünden, als es auch tatsächlich auszuführen. Seit Jahren war sie keinem Mann mehr so nahegekommen. Ja, viel mehr noch, sie hatte nach Edwards Tod nicht damit gerechnet, überhaupt je wieder einem Mann so nahe zu kommen. Während sie die Tiere einsammelte und zwischen den Fingernägeln zerdrückte, spürte sie die Wärme seines Rückens durch den dünnen Stoff ihres Kleides. Keiner von beiden sprach ein Wort. Auch dann nicht, als Agatha das Seifenpulver auf die nasse Haarpracht aufbrachte und es einzumassieren begann. Zögerlich zuerst, und dann immer mutiger und kräftiger. Es war das erste Mal, dass sie miteinander schwiegen, ohne vorher gestritten zu haben. Obwohl sie sich in der Kutsche eine Bank teilten, waren sie sich nun noch viel näher als dort. Agatha war überrascht, dass das nicht nur auf die körperliche Ebene zutraf. Sie fühlte sich ihm auch innerlich verbunden. So als würden zwei Herzen im Gleichklang schlagen. Hier, in einem fremden Land am frühen Morgen, während die Vögel ringsherum den neuen Tag begrüßten. Agatha fühlte sich auf einmal so frei und unbeschwert, so …

„Sie machen das gut“, hörte sie den Mann vor sich sagen, und die Worte wärmten ihr Herz noch ein wenig mehr. „Wie vielen Männern haben Sie wohl bereits die Haare gewaschen, seit Ihr Gatte das Zeitliche gesegnet hat?“

Agatha fiel so unsanft aus ihren Träumereien, dass sie nach Luft schnappen musste. Hatte er ihr tatsächlich einen unmoralischen Lebenswandel vorgeworfen? Schlug er etwa in dieselbe Kerbe wie diese unmögliche Gräfin Weiningen? Noch bevor ihr selbst klar wurde, was sie tat, hatte sie schon den Eimer ergriffen und das eiskalte Wasser in einem Schwall über dem Kopf des Herzogs ausgeleert.

Nun war er es, der nach Luft schnappte. Er sprang auf und stieß einige laute Flüche aus, die so gar nicht nach einem Gentleman klangen. Als er schließlich den Kopf schüttelte, flogen die nassen Tropfen nur so durch die Luft, und Agatha trat reflexartig einige Schritte zurück, um nicht noch nässer zu werden, als sie ohnehin schon war. Ihr erster Impuls war, wegzulaufen. Sich so schnell wie möglich hinter der verschlossenen Tür ihrer Kammer in Sicherheit zu bringen und ihm dann erst wieder in Begleitung von Lizzy gegenüberzutreten, das Mädchen gewissermaßen ein lebender Schutzschild in ihrer Begleitung. Denn der Blick, mit dem er sie nun anstarrte, ließ einen solchen Schutzschild mehr als nötig erscheinen. Doch Agatha rührte sich nicht von der Stelle. Obwohl ihr Herz wie verrückt klopfte, zwang sie sich außerdem, seinem Blick standzuhalten. Er sollte nicht denken, dass er sie ungestraft beleidigen konnte. Und schon gar nicht, dass sie sich von ihm einschüchtern ließ. Sie hatte in Ägypten schon ganz andere Gefahren gemeistert und … oh Gott!

Sie hätte mit so manchem gerechnet, aber sicher nicht damit, dass sie zwei starke Männerarme umfingen, sie mit Schwung an seine nasse Brust zogen, bevor zwei Lippen sich auf die ihren legten und sie küssten, dass ihr Hören und Sehen und auch das Denken verging. Sie hätte nachher beim besten Willen nicht sagen können, warum sie ihn zurückküsste, sie wusste nur, dass sie es getan hatte. Leidenschaftlich, gierig, so wie wenn man nach langer Zeit in ein zu enges Korsett geschnürt endlich wieder Luft zum Atmen bekam. Viel zu früh für ihr Dafürhalten beendete der Herzog den Kuss und schob sie um Armlänge von sich weg, ohne sie loszulassen.

„Ach Gott, Frau, du kannst einem Mann wirklich den Verstand rauben“, sagte er, seufzte tief und zog sie abermals an sich. Der Kuss, der nun folgte, stand dem anderen an Leidenschaft um nichts nach.

Sie raubte ihm also den Verstand? Agatha war sich sicher, noch nie ein schöneres Kompliment gehört zu haben. Während der restlichen Reisetage sollte sie sich dann allerdings mehrfach fragen, ob diese Worte tatsächlich als Kompliment gemeint waren.

„Euer Gnaden! Sind Sie hier irgendwo, Euer Gnaden?“

Die beiden Küssenden stoben auseinander. Der Herzog eilte zur Regentonne hinüber und tat, als würde er sich dort waschen, während Agatha hinter dem Baumstrunk stehen blieb und das kleine Fläschchen mit Penelopes Tinktur aus der Tasche ihres Kleides fischte. Verflixter Walterton! Sie hatte ihn noch nie gemocht und in diesem Augenblick verabscheute sie ihn noch um einiges mehr. Warum musste er ausgerechnet in einem so unpassenden Moment auftauchen? Sie hätte so gerne weitergeküsst, so gerne gehört, was der Herzog zu ihr sagen würde. Warum hatte er sie geküsst? Hatte das irgendetwas zu bedeuten oder war es nur aus einer Laune heraus geschehen?

Schon kam der Kammerdiener um die Ecke. Als er der beiden ansichtig wurde, blieb er wie angewurzelt stehen und erlaubte sich eine Augenbraue hochzuziehen. Schon allein dafür hätte sie ihn wieder einmal erwürgen können.

„Da sind Sie ja endlich!“, begrüßte ihn sein Herr gerade so, als habe er stundenlang voller Ungeduld auf ihn gewartet. „Haben Sie mein Rasierzeug mitgebracht?“

Dieser herrische Tonfall brachte Walterton dazu, in ein ungewohntes Stottern zu verfallen. „Ich habe nicht … ich wusste nicht … ich bin umgehend wieder da, Euer Gnaden, bitte noch um etwas Geduld.“

Damit machte er kehrt und eilte ins Haus zurück.

Agatha sah ihm mit Herzklopfen nach. Was hatte sie nun zu erwarten? Etwa gar eine Liebeserklärung aus heiterem Himmel? Wie sollte sie darauf reagieren? Sie kannten sich doch noch kaum und …

„Lady Alverston“, hörte sie den Duke sagen. Er war bei der Regentonne stehen geblieben, so als bräuchte er Abstand zu ihr. „Ich entschuldige mich in aller Form für mein völlig unangebrachtes Verhalten.“

Agatha bemühte sich, die schmerzhafte Enttäuschung, die sich wie ein Pfeil in ihr Herz bohrte, zu verdrängen. Eine Enttäuschung – lächerlich!, schalt sie sich selbst. Der Duke hatte völlig recht, sein Verhalten war unangemessen gewesen.

„Ich weiß beim besten Willen nicht, was in mich gefahren ist“, setzte er fort.

Da sich Agatha auch nicht erklären konnte, warum sie ihn zurückgeküsst hatte, enthielt sie sich jeden Kommentars. Was hätte sie darauf auch erwidern sollen?

„Sollten Sie darauf bestehen, dass ich Ihnen nun die Ehe anbiete, so werde ich selbstverständlich über meinen Schatten springen und meine Pflicht als Ehrenmann erfüllen“, hörte sie ihn da sagen.

Jetzt kam wieder Leben in Agatha, und ihr Widerspruchsgeist regte sich. War der Gedanke, sie zu ehelichen, also so abstoßend, dass er über seinen Schatten springen müsste?

„Dazu besteht keine Veranlassung, Duke“, beeilte sie sich zu erwidern, und ihre Stimme klang kalt. „Der … Vorfall war so unbedeutend, dass ich ihn bereits wieder vergessen habe.“

Sie raffte ihre feuchten Röcke und wandte sich zum Gehen, als er plötzlich, wie durch Zauberhand, direkt vor ihr stand.

„So schnell geht das?“, fragte er und blickte mit unergründlichem Gesicht zu ihr hinunter. „So schnell vergessen Sie etwas, was für mich alles andere als alltäglich war?“

Agatha spürte seine Nähe, die Wärme, die von seinem Körper ausging, und hätte sich am liebsten wieder in seine Arme geworfen. Mit dem letzten Rest Vernunft zwang sie sich, sich daran zu erinnern, dass er wohl auch dafür wieder über seinen Schatten würde springen müssen. Also trat sie einen Schritt zur Seite, um an ihm vorbeizukommen.

„Am besten verbrennen Sie die gesamte Kleidung, die sie in der Kammer getragen haben“, wechselte sie abrupt das Thema, „damit Sie mit dem Zeug nicht auch noch die Kutsche verseuchen.“

Sie erschrak selbst darüber, wie ruppig sie klang.

Landmark verstellte ihr abermals den Weg: „Zu Eliza und Ihrem Cousin sind Sie stets warmherzig und gut gelaunt. Warum bleibt Ihre Kratzbürstigkeit eigentlich nur mir vorbehalten?“, wollte er wissen. Die Worte klangen so unerwartet sanft, dass Agatha die schnippische Antwort, die ihr bereits auf der Zunge gelegen hatte, hinunterschluckte und seufzte, bevor sie antwortete: „Wahrscheinlich, weil Sie mich ständig dazu herausfordern, Duke.“

„Inwiefern fordere ich Ihre Kratzbürstigkeit heraus?“, kam sofort die nächste Frage.

Agatha überlegte, ob es tatsächlich sein konnte, dass er das nicht wusste. Zum Beispiel dadurch, dass Sie mich ohne Vorwarnung an sich reißen und leidenschaftlich küssen, um dann irgendetwas von über den Schatten springen zu faseln, hätte sie gern geantwortet. Doch sie hatte gesagt, dass sie den Vorfall bereits wieder vergessen hatte, also antwortete sie mit etwas anderem, das ihr schon lange auf dem Herzen lag: „Ich bin es nicht gewöhnt, dass man mich nicht ernst nimmt, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich bin es außerdem nicht gewöhnt, dass man meine Kompetenzen ständig und überall infrage stellt. Dass man einem Kammerdiener mehr glaubt als mir. Ja mehr noch, dass man mir meine Erfahrungen und meine Kenntnisse sogar zum Vorwurf macht“, sprudelte es aus ihr heraus.

Er schien fassungslos zu sein. „Tu ich das denn?“

Sie sah ihm frei in die Augen. „Ich bin eine erwachsene Frau, Duke. Ich fände es schön, wenn Sie aufhören würden, mich in die Schranken zu weisen, als wäre ich ein dummes Schulkind.“

Er kniff die Augen zusammen und sagte keinen Ton. Sie wurde aus seiner Miene nicht schlau.

„Und jetzt“, meinte sie schließlich, „sollten wir uns beeilen, bevor der unmögliche Walterton zurückkommt. Also setzen Sie sich am besten wieder nieder und lassen Sie mich ihre Stiche am Rücken mit dieser Tinktur behandeln. Ich bin sicher, das wird Ihnen Erleichterung verschaffen.“

„Wer behandelt jetzt wen wie ein Schulkind?“, hörte sie ihn murmeln. Es klang nicht ungehalten, eher amüsiert. Das brachte Agatha zum Kichern und sie machte sich, bereits wieder viel besser gelaunt, an die Arbeit.

Küsse am Wiener Kongress

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