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Kapitel 9

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Wien

September 1814

Je weiter sie sich der wuchtigen Mauer näherten, die die Stadt umgab, desto zahlreicher wurden die Kutschen und Gefährte, die ihnen begegneten, und desto langsamer kamen sie voran. Das Geschrei der Fuhrleute ringsherum vermischte sich mit dem aufgeregten Wiehern von Pferden und dem Gebrüll der Ochsen, die schwere Lasten auf einfachen Holzfuhrwerken zogen. Anspannung machte sich im Kutscheninneren breit und brachte, zu Bertrams Erleichterung, sogar die beiden Streithähne für kurze Zeit zum Schweigen. Da auch Lizzy gebannt aus dem Fenster starrte, blieb der junge Viscount seinen Gedanken überlassen. Das war also Wien, sein Aufenthaltsort für die nächsten Wochen. Was ihn hier wohl erwartete? Er war noch nie so weit weg von zu Hause gewesen. Würde er sich zurechtfinden? In einer fremden Sprache? In einem fremden Land? Anders als bei Agatha und dem Duke waren Französischkenntnisse bei ihm kaum vorhanden und er konnte nur hoffen, dass sein Deutsch inzwischen so gut geworden war, dass er damit über die Runden kam. Die Hauptstadt des Kaiserreichs war mit ihren knapp 240.000 Einwohnern zwar die drittgrößte Stadt Europas, aber doch bei Weitem kleiner als London. Wäre er also dort aufgewachsen, würde er Wien vielleicht als Kleinstadt empfinden und sich spielend leicht zurechtfinden. Bertram lebte zwar seit einiger Zeit in London, doch im Herzen war er ein Junge vom Land. Tunbridge Wells hieß seine Heimatstadt, und die hatte keine 7000 Einwohner. Wien würde ihm daher nicht nur fremd, sondern auch riesengroß erscheinen.

Sein Blick glitt zum Stadtplan, den er auf den Knien ausgebreitet hatte. Sie würden also am Hohen Markt ihr Quartier beziehen, er hatte den Platz bereits vorsorglich mit Tinte markiert.

„Warum stehen wir denn schon wieder?“, murrte sein Dienstherr und schreckte Bertram aus seinen Gedanken. „Gibt es denn überhaupt kein Fortkommen mehr?“

Nun beugte er sich vor und schob das Fenster hinunter, vor dem das Antlitz eines der bewaffneten Diener aufgetaucht war.

„Wir haben das Stadttor erreicht, Euer Gnaden“, informierte ihn dieser. „Es ist so schmal, dass es kaum ein Durchkommen gibt. Davor stehen allerhand Wagen kreuz und quer. Es ist ein schreckliches Durcheinander. Ich fürchte, es wird noch einige Zeit dauern, bis wir passieren können … he, was soll denn das?“

Eine ältere Frau mit Kopftuch hatte den Diener mit einer groben Handbewegung weggestoßen und „Schau, dass’d weidakommst!“ gefordert. Als er den Weg nicht wie befohlen freimachte, bedachte sie ihn mit weiteren harschen Worten, die die Kutscheninsassen zwar nicht verstanden, die aber verdächtig nach derben Flüchen klangen. Der Diener war so überrascht, dass ihn die Contenance verließ, die man ihm als Mitglied eines herzoglichen Haushalts anerzogen hatte. Er rempelte sie unsanft zurück und stieß nun seinerseits einige derbe englischsprachige Flüche aus. Na, das ließ sich die Frau nicht gefallen! Sie hob bedrohlich ihren wuchtigen Schirm und wäre wohl damit auf den Uniformierten losgegangen, hätte sich nicht ein anderer Passant eingemischt und sie am Oberarm festgehalten. Das wiederum erregte den Unwillen eines Nebenstehenden, und ehe der Herzog und seine Begleitung wussten, wie ihnen geschah, war die Kutsche der müden englischen Reisegruppe Mittelpunkt eines unerfreulichen Tumultes geworden.

„So unternehmen Sie doch etwas!“, befahl Landmark, ohne genau zu definieren, wen er damit meinte. Damit zog nun er die Aufmerksamkeit der Frau auf sich. Sie senkte das Kinn wie ein kampfbereiter Stier und näherte sich dem Fenster, das er so schnell er konnte wieder nach oben schob.

„Möchten Sie, dass ich aussteige und versuche, für Ordnung zu sorgen, Duke?“, erkundigte sich Bertram tapfer. Dabei schlug ihm das Herz bis zum Hals, so inständig hoffte er, die Antwort wurde „Nein“ lauten. Anscheinend war der Deutschunterricht mit Lizzy nicht ganz so erfolgreich gewesen, wie er es angenommen hatte. Zumindest hatte er kaum ein Wort von dem verstanden, was sich die Leute da draußen zubrüllten.

„Ich denke nicht, dass du das tun solltest“, meldete sich Agatha zu Wort. „Welchen Sinn sollte es haben, dass du dich dieser Meute auslieferst? Vielleicht sind sie auf Fremde nicht gut zu sprechen, wer weiß das schon? Meine Erfahrung lehrte mich, dass es bei Tumulten sinnvoll ist, sich still zu verhalten und alles die Diener regeln zu lassen.“

Bertrams Pulsschlag beruhigte sich. Er hätte seine Cousine umarmen können.

„Aus Ihrer Erfahrung, soso …“, lautete der spöttische Kommentar des Herzogs. „Steigen Sie aus, Panswick! Sorgen Sie für Ruhe. Ich möchte so schnell wie möglich zu unserem Quartier gelangen.“

Und schon waren Bertrams Gefühle für Agatha nicht mehr so freundschaftlich. Sicher hätte der Duke eine andere Entscheidung getroffen, hätte er damit nicht wieder eine willkommene Gelegenheit gefunden, ihr widersprechen zu können. Zögernd berührte der Viscount den Türgriff. Seine Erlösung kam von unerwarteter Seite.

Ein junger Mann mit einem kessen grünen Lodenhut auf blonden Locken klopfte an sein Fenster.

„Möchten Sie, dass ich die Sache in die Hand nehme, Euer Gnaden?“, fragte er in nahezu akzentfreiem Englisch, als Bertram die Scheibe hinuntergeschoben hatte.

So trat Gustl in ihr Leben.

Gustl hieß mit vollem Namen Gustav Maria Siebenbrunner, war der einzige Sohn eines verstorbenen Theaterimpresarios und einer englischen Sängerin und verdiente, trotz seines jugendlichen Alters, seit Jahren gutes Geld als Fremdenführer. In der Hauptstadt des Vielvölkerstaates sprachen erstaunlich viele Menschen neben Deutsch auch noch Französisch und Italienisch. Englisch dagegen konnten nur sehr wenige. Da Wien jedoch auch bei Reisenden von der Insel immer beliebter wurde und deren Fremdsprachenkenntnisse meist zu wünschen übrigließen, wusste man seine Dienste sehr zu schätzen. Er wurde von einem Reisenden dem nächsten weiterempfohlen, und wenn er gerade keinen Auftrag hatte, brauchte er sich nur zum Kärnthnertor zu begeben, wie dies auch viele seiner anderen Kollegen taten, und die neuen Auftraggeber rollten ihm mit ihren Kutschen sozusagen vor die Füße. Bisher war es ihm allerdings noch nie passiert, dass man ihm sogleich eine feste Stelle inklusive Kost und Quartier anbot.

Agatha, von der Umsicht und Schläue beindruckt, mit der der junge Mann die Angelegenheit vor dem Stadttor gelöst und ihnen ein schnelles und vor allem sicheres Weiterkommen ermöglicht hatte, beauftragte Bertram, ihn zu bitten, auf dem Kutschbock Platz zu nehmen und dem Kutscher den Weg zum Hohen Markt zu zeigen. Es hatte nur kurz den Anschein, dass der Herzog gegen diese Eigenmächtigkeit protestieren wollte, doch anscheinend erkannte er, dass es sinnvoller war, den Mund wieder zu schließen. Er öffnete ihn auch nicht, als Agatha Gustl bat, sie ins Haus zu begleiten, wo sie dann sogleich das Kommando über die wartende Dienerschaft übernahm. Ihr Vermieter, Julius Edler von Braunberg, hatte ihnen einen Diener, ein Hausmädchen, eine resolute Köchin und Küchenpersonal dagelassen, die alle ein paar Brocken Französisch konnten. Diese reichten allerdings nicht aus, um einen Haushalt so zu führen, wie Agatha sich das vorstellte.

Mit Gustls Hilfe erfolgte der Einzug reibungslos. Als man ein zusätzliches kleines Schlafzimmer entdeckte, das der Diener Kabinett nannte, da war entschieden, dass ihnen Gustl auch in Zukunft, und zwar rund um die Uhr, zur Verfügung stehen würde.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Herzog selbst längst in die Bibliothek zurückgezogen. Er hatte einen schweren Ledersessel entdeckt, den er spontan zu seinem Lieblingsplatz erkor, und ließ nachdenklich den Whiskey in seinem Kristallglas kreisen, den ihm der Herr des Hauses freundlicherweise hiergelassen hatte.

Auch wenn ihm Lady Alverston manchmal schrecklich auf die Nerven ging, war er doch froh darüber, wie gekonnt und souverän sie alles regelte. Nicht auszudenken, wenn Cousine Cordula mit nach Wien gekommen wäre. Sicher hätte sie mit ihrer Humorlosigkeit und der unbeugsamen Strenge die Stimmung im neuen Zuhause schon in der ersten Stunde vergiftet. Agatha hingegen schien zwar auch zu wissen, was sie wollte, blieb jedoch gelassen und hatte stets ein freundliches Wort für die Dienerschaft, die aufgeregt durch die Räume schwirrte und für seinen Geschmack viel zu viel redete. Schade, dass er der Einzige war, der die Ruhe und Gelassenheit ihrer Ladyschaft immer wieder ins Wanken und ihre Vorliebe für Ironie und Widerspruch zum Vorschein brachte. Beides war so unweiblich. Dieser Gedanke, kaum gedacht, machte seiner eigenen Fassungslosigkeit Platz. Wie war er bloß darauf gekommen, so etwas Dummes zu denken? Nichts an Lady Agatha war unweiblich. Weder ihre schlanke Gestalt mit dem durchaus wohlgerundeten Busen, der in ihren überaus modischen Kleidern erfreulich zur Geltung kam, noch die Küsse, die sie vor ein paar Tagen am frühen Morgen getauscht hatten.

Jetzt, in diesem ruhigen, noch fremden Zimmer konnte er es nicht fassen: Was hatte ihn damals nur dazu getrieben, sie in die Arme zu ziehen? Er mochte sie doch nicht einmal. Sie war so anders, als er es gewöhnt war. Sein Vater hatte ihn gelehrt, wie eine Frau zu sein hatte: gehorsam, ohne eigene Meinung, hübsch und repräsentabel. Genau so war Mathilda, seine erste Frau, gewesen. Die war auf leisen Sohlen durchs Haus gehuscht und hätte sich eher die Zunge abgebissen, als ihm zu widersprechen. Das Leben an ihrer Seite war ein ruhiger Fluss gewesen. Ein zäher, ruhiger Fluss, wie er jetzt dachte. Im Vergleich dazu war das Leben an der Seite von Lady Agatha ein reißender Wasserfall. Er war sich nicht im Klaren, wie er das finden sollte. Der Herzog winkelte die ausgestreckten Beine wieder an und befahl sich, an etwas anderes zu denken. Jetzt war er in Wien. Es wurde Zeit, sich den Unterlagen zu widmen, die ihm die Botschaft bereits an seine neue Adresse geschickt hatte. Er stand auf und ging zum schweren Schreibtisch hinüber, der in den nächsten Monaten sein eigener sein würde.

Küsse am Wiener Kongress

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