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Kapitel 1 Poststation in Watford, Essex
Etwa zwanzig Meilen nordwestlich von London
15. Mai 1812

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Major Harold Westfields Laune als fröhlich oder gar hoffnungsvoll zu bezeichnen, hätte bedeutet, die Sachlage völlig zu verkennen. Er war müde, fühlte sich nach der langen, stürmischen Reise zurück in die Heimat ausgelaugt und seine Wunde unter dem linken Rippenbogen schmerzte. Die Tatsache, dass er sich auf ein paar geruhsame Stunden mit seinem Freund Oscar in dessen Haus in Hampstead gefreut hatte und nun stattdessen offensichtlich einem Phantom nachjagte, machte die Sache nicht eben besser. Aber da er sich hier in der Poststation ein Glas Ale genehmigt hatte, war zumindest der Durst gestillt. Nun duckte er sich unter dem niedrigen Türstock in der dicken Steinmauer des Gasthauses hindurch und trat ins Freie. Es war ein angenehm warmer Maitag. Die Sonne stach allerdings so grell vom Himmel, dass er einige Male zwinkern musste, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Dass das kein gutes Zeichen war, sagte ihm seine langjährige Erfahrung im Feld. Sicher würde es nicht mehr ewig dauern, bis ein Gewitter über das Land zog. Dass er Gefahr lief, bis auf die Knochen durchnässt zu werden, fehlte ihm gerade noch zu seinem Glück.

»Bring mir mein Pferd, ich möchte ohne Verzögerung weiterreiten«, befahl er dem Burschen, dem er vor dem Besuch der Schankstube Oscars Hengst anvertraut hatte. Er warf noch einen Blick zum Himmel und seufzte. Dann einen weiteren auf seine Taschenuhr und das Seufzen verstärkte sich. Es war schon fast vier. Musste er sich wirklich weiter auf den Weg hinauf nach Luton machen? Konnte er nicht einfach umkehren und querfeldein zurück nach Südosten reiten? Wenn er Glück hatte, erreichte er das Haus seines Freundes noch, bevor das Donnerwetter loslegte. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was denn das überhaupt für eine seltsame Geschichte war, in die man ihn da verwickelt hatte. Warum sollte Oscars Schwester Emilia – oder hieß sie Amalia? Sein verfluchtes Namensgedächtnis ließ ihn natürlich wieder einmal im unpassendsten Moment im Stich … Aber egal, wie sie hieß: Warum sollte sie hinauf nach Schottland fliehen, um dort zu heiraten? Einen Mann, der anscheinend mehr als doppelt so alt war wie sie und alles andere als standesgemäß? Das Mädchen war kaum zwanzig, da hätte sie doch noch genügend Zeit gehabt, einen Passenderen zu finden als den Hauslehrer der Nachbarn.

Harold versuchte, sich Emilia, Emily, Amalia in Erinnerung zu rufen. Er hatte sie vielleicht zwei, drei Mal gesehen, als er noch mit den anderen Heroes in Harrow zur Schule ging. Da allerdings nur von Weitem, da sie sich noch in der Obhut der Gouvernante befand. Ein Schopf mittelbrauner Locken, der im Wind wehte, war das Einzige, was er sich ins Gedächtnis zurückholen konnte. Das war nicht wirklich viel und dennoch war sich Oscar sicher gewesen, dass er sie erkennen würde, wenn er ihr jetzt gegenüberstand. Dazu musste er sie allerdings erst einmal finden, wonach es derzeit leider nicht aussah. Harold schüttelte unwillig den Kopf. Was für eine verfahrene Situation und ganz offensichtlich völlig unnötig. Warum hatte die gute Amalia nicht einfach etwas mehr Geduld an den Tag gelegt? Warum hatte sie es nicht Oscar überlassen, einen geeigneteren Weg zu finden, die Dinge zu regeln? Der war doch bekannt dafür, dass er für alle Probleme die passende Lösung fand.

Das Quietschen altersschwacher Federungen ließ ihn aus den Gedanken auffahren. Eine reichlich betagte, schwarze Reisekutsche rumpelte durch den Torbogen, der den Vorhof der Poststation von der Straße trennte. Ihr folgte ein schnittiger Phaeton, der von einem Paar exzellenter Schimmel gezogen wurde und das Interesse des Majors sofort auf sich zog. Von so einem sportlichen Wagen träumte er bereits seit Jahren. Nun, da er den Kriegsdienst quittiert und beschlossen hatte, sich wieder in England niederzulassen, sprach nichts mehr dagegen, sich etwas Ähnliches anzuschaffen. Natürlich erst, wenn er das drohende Gespräch mit seinem Halbbruder hinter sich gebracht und einen Überblick über sein Erbe gewonnen hatte. Aber daran wollte er jetzt nicht auch noch denken. Ohne zu zögern, ging er quer über den Vorplatz, um sich das Gefährt aus der Nähe anzusehen.

»Kümmere er sich um die Tiere, Bursche, aber unterstehe er sich, mit seinen dreckigen Pratzen meinen Wagen zu berühren!«, befahl der junge Stutzer, dem der Phaeton gehörte, dem Knecht, der nach seinen Wünschen gefragt hatte. Dann machte er kehrt, verschwand in der Poststation und hinterließ eine Duftwolke aus Moschus und Lavendel.

Major Westfield zog die Nase kraus. Was für ein eingebildeter Geck! Sicher hatte er sein ganzes Leben noch nichts geleistet, was es gerechtfertigt hätte, ein so arrogantes und selbstverliebtes Auftreten an den Tag zu legen. Streng rief er sich zur Ordnung. Er war jetzt wieder zurück im Königreich. Da steckten kaum einem Adeligen Jahre auf dem Schlachtfeld in den Knochen. Es war höchste Zeit, dass er sich wieder an die heimatlichen Gepflogenheiten gewöhnte und mit der besseren Gesellschaft nicht mehr allzu streng ins Gericht ging.

»Es ist nicht der passende Zeitpunkt, um herumzutrödeln«, meldete sich da eine andere strenge Stimme zu Wort, diesmal kam sie von jemandem hinter seinem Rücken. »Wir haben nicht viel Zeit für eine Pause, wenn wir unser heutiges Ziel noch trockenen Fußes erreichen wollen. Also, hopp, hopp, Beeilung! Ich gehe schon mal voran.«

Harold, der eben die feinen grünen Ledersitze des Sportwagens bewundert hatte, blickte irritiert über seine Schulter zurück. Er sah einen älteren Mann, ganz in Schwarz gekleidet, neben der betagten Reisekutsche stehen. Nach einem Blick auf seine silberne Taschenuhr schnaufte dieser unwillig und machte sich anschließend daran, durch die niedere Türöffnung ins Innere des Hauses zu treten. Da er nicht allzu groß war, brauchte er dabei den Kopf kaum einzuziehen. Wie alt mochte er sein? Da sich schon einige Falten in seine blasse Gesichtshaut gegraben hatten, schätzte Harold ihn auf Mitte vierzig, was auch auf Oscars Schilderung von Emilias Bräutigam zutraf. Auch die Aura von Wichtigkeit, die er verströmte, passte zum Beruf des Hauslehrers, wenngleich seine Manieren zu wünschen übrig ließen. Welcher Mann, der die Bezeichnung Gentleman verdiente, ließ seine weibliche Begleitung allein am Vorplatz stehen, während er sich selbst ins Gasthaus begab? Da haben ja seltsame Sitten Einzug gehalten, während ich in Spanien war, dachte er kopfschüttelnd.

Der Kutscher des Reisewagens trat zu den Pferden nach vorn und nahm sie am Zügel, wohl um sie hinters Haus zur Tränke zu führen. Dabei gab er den Blick auf eine junge Frau frei, die nun allein auf dem Steinpflaster stand. Schmale Hände umklammerten den Griff einer kleinen Reisetasche, deren dunkles Leder auch schon bessere Tage gesehen hatte. Sie beachtete ihn nicht, sondern ließ den Blick über die Fassade der Poststation schweifen. Einzelne Locken hatten sich aus der Hochsteckfrisur unter ihrem Häubchen gelöst und flatterten fröhlich im aufkommenden Wind. Der Major zog scharf die Luft ein. Wie hatte Oscar seine Schwester beschrieben? Mittelgroß, schlank, mit mittelbraunen Haaren? Sein Herz begann, vor Freude und Erleichterung wie wild zu klopfen. Das Glück war ihm am Ende doch noch hold! Der strapaziöse Ritt war anscheinend nicht vergebens gewesen. Nun gut, er würde die junge Dame nicht als mittelgroß bezeichnen, sondern eher als klein. Allerdings überragte er selbst seinen Freund um Haupteslänge, da konnte diesem die eigene Schwester schon mal größer erscheinen, als sie war. Schlank war sie jedoch auf jeden Fall, ja, er war geneigt, sie als zart und zierlich zu bezeichnen. Eine Tatsache, die durch das Schwarz ihrer Kleidung noch zusätzlich unterstrichen wurde. Der Major konnte sich nicht erklären, warum die beiden Heiratswilligen Trauerkleidung für ihre Reise gewählt hatten. Hofften sie etwa, damit weniger aufzufallen? Er fand den Plan nicht sonderlich gelungen. Zumal die junge Dame überall auffallen würde, so hübsch, wie sie war. Jetzt hatte sie anscheinend bemerkt, dass er sie anstarrte, denn ihre großen bernsteinfarbenen Augen wandten sich mit prüfendem Blick zu ihm. Eine Augenbraue schnellte kaum merklich in die Höhe. Harold freute sich so sehr, sie gefunden und sich damit einen weiteren Ritt in den Norden erspart zu haben, dass er zu strahlen begann und sich beschwingten Schrittes zu ihr auf den Weg machte.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich es mich macht, dich gefunden zu haben«, sagte er im Näherkommen. Seine Erleichterung war so groß, dass er gute Lust verspürte, die junge Dame in die Arme zu schließen, als wäre sie nicht Oscars, sondern seine eigene kleine Schwester. Sie hatte sich kurz umgewandt und der skeptische Blick, mit dem sie ihn jetzt bedachte, zeigte nur allzu deutlich, dass sie dies nicht gutheißen würde. Also beließ er es dabei, sich höflich zu verbeugen.

»Verzeih, dass ich dich so unverfroren anspreche, aber mir fällt ein riesengroßer Stein vom Herzen. Ich hatte die Hoffnung, dich zu finden, schon fast aufgegeben. Wie du dir denken kannst, ist es dein Bruder, der mich schickt. Er ist außer sich vor Sorge und hat mich gebeten, dich umgehend nach Hause zu bringen.«

Harold stellte erfreut fest, dass sich ihre Skepsis etwas gelegt zu haben schien, denn auch ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. Das beglückte ihn so sehr, dass er nun doch spontan ihre Hände ergriff.

»Lass dich ansehen. Mein Gott, bist du hübsch … ich meine natürlich groß geworden.« Er unterbrach sich, ließ die Hände abrupt los und fügte mit reuigem Lächeln hinzu: »Oh Himmel, ich höre mich an wie mein eigener Opapa.«

Das Kichern, das sie nun hören ließ, erwärmte sein Herz.

»Als groß hat mich wirklich noch niemand bezeichnet«, sagte sie. »Sind Sie sicher, dass wir uns schon einmal begegnet sind?«

Er nickte. »Mehrmals sogar. Immer, wenn ich deinen Bruder besuchte. Das ist allerdings schon einige Jahre her. Damals warst du noch ein Mädchen und deine Gouvernante sorgte dafür, dass ich dich nur aus der Ferne zu Gesicht bekam.«

Er unterbrach sich kurz und wartete auf ein Zeichen des Erkennens in ihrem Gesicht. Doch stattdessen wurde ihr Blick noch ein wenig ratloser.

»Du weißt noch immer nicht, wer ich bin«, stellte er fest und ärgerte sich über sein unhöfliches Versäumnis. »Warum habe ich ungehobelter Tölpel mich aber auch noch nicht vorgestellt? Mein Name ist Westfield, Major Harold Westfield. Ich hoffe, dass dir zumindest mein Name etwas sagt. Ich bin einer der vier Heroes.«

Es verunsicherte ihn zunehmend, dass ihr Gesichtsausdruck unverändert prüfend blieb. Deshalb hielt er eine Entschuldigung für angebracht. »Es tut mir leid, dass du mir meinen plötzlichen Überfall krummnimmst, Emily«, sagte er reuig. »Doch ich bitte dich, komm mit mir zurück.«

»Amabel«, korrigierte sie ihn kühl. »Mein Name ist Amabel.«

Er schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Ich wusste es«, rief er aus. »Mein Namensgedächtnis lässt mich immer dann im Stich, wenn es am peinlichsten ist. Amabel, natürlich! Ich hoffe, du verzeihst mir auch diesen Fauxpas.«

Ihr Stirnrunzeln hatte sich vertieft. »Wie sollte denn mein Bruder nach mir suchen können? Ich habe doch gar keinen …«

Harold zog scharf die Luft ein und trat erschrocken einen Schritt zurück. Sein dringender Wunsch, Oscars Schwester gefunden zu haben, hatte ihn wohl zu falschen Hoffnungen verleitet. »Sie haben gar keinen Bruder? Was für ein fataler Irrtum meinerseits.«

»Doch, doch, natürlich habe ich einen Bruder«, beruhigte sie ihn und trat nun ihrerseits einen Schritt näher. »Mich hat lediglich gewundert, dass er über meine Reiseroute Bescheid weiß.« Sie seufzte, als sie ergänzte: »Ich kann mir denken, dass er meinen Plan hasst, aber mir bleibt keine andere Wahl. Res desperatae continent ad insolitas conditiones, wie mein Papa zu sagen pflegte. Verzweifelte Situationen bedingen ungewöhnliche Maßnahmen.« Sie stockte kurz und sah sich dann offensichtlich veranlasst, hinzuzufügen: »Er ist vor beinahe zwei Jahren gestorben …«

»Ich weiß, ich habe von dem Unglück gehört und es tut mir leid«, antwortete Harold, als er sich von der Überraschung erholt hatte, mit welcher Sicherheit sie einen lateinischen Satz von sich gab. Er hätte sie gern getröstet, wusste jedoch nicht, was die richtigen Worte dafür waren. Gab es in so einem Fall überhaupt richtige Worte?

»Woher kennen Sie meinen Bruder, Major?«, unterbrach sie seine Gedanken.

»Nenn mich doch Harold«, bat er, ohne nachzudenken. Da ihm diese Aufforderung dann doch etwas zu forsch erschien, setzte er hinzu: »Schließlich sind dein Bruder und ich schon seit Harrow gute Freunde. Damit sind wir beide doch eigentlich auch Freunde, nicht wahr?«

»Ah, Harrow!«, rief sie erfreut, ohne auch nur mit einem Wort auf das Thema Freundschaft einzugehen. »Das erklärt so manches.«

Das Klappern von Hufen eines Pferdes, das quer über den harten Vorplatz auf sie zugeführt wurde, zog die Aufmerksamkeit der beiden auf sich.

»Ihr Hengst, Sir.« Der Knecht verbeugte sich und übergab Harold mit der einen Hand die Zügel, während er die andere in der Hoffnung, ein paar Münzen zu ergattern, vorstreckte. Der Major ließ sich nicht lange bitten. Er holte einige Pennys aus der Hosentasche und ließ sie auf die schwielige Handfläche gleiten. Der Bursche bedankte sich und zog von dannen.

»Die Sache ist die, Amabel …« Harold blickte etwas unschlüssig vom Pferd zur jungen Lady. »Wie gesagt, dein Bruder möchte, dass du mit mir zu ihm nach Hause zurückkehrst. Ich bin gekommen, um zu verhindern, dass du … äh … mit diesem, diesem Mann … äh … weiterreist.« Harold beglückwünschte sich zu seinem diplomatischen Geschick. Es war ihm gelungen, die Worte Durchbrennen und Hochzeit zu vermeiden und dennoch zu sagen, was er zu sagen hatte. Eine Flucht nach Gretna Green war doch eine allzu delikate, ja, geradezu skandalöse Angelegenheit. Er wollte die junge Dame nicht dadurch in Verlegenheit bringen, dass er offen darüber sprach. Auch wenn er so verwegen gewesen war, ihr anzubieten, ihr Freund zu sein, gehörte er ganz bestimmt nicht zur Familie.

»Ich habe keine andere Wahl, als ihn zu begleiten … äh … Harold«, lautete ihre Erwiderung. »Du wirst dir darüber noch keine Gedanken gemacht haben, aber als junge Frau hat man wenig Möglichkeiten, zu Geld zu kommen. Ich muss mit ihm fahren, um meinem Bruder zu helfen, unser Leben zu finanzieren.« Sie seufzte zwar, senkte jedoch nicht den Blick.

Harold war zutiefst schockiert. Es konnte doch nicht wahr sein, dass sie sich aus finanzieller Not heraus verpflichtet fühlte, die Ehe mit einem ungehobelten Kerl einzugehen, der sie bei der nächstbesten Poststation allein im Hof stehen ließ.

»Was für eine Schande«, rief er aus. »Über so ein Thema solltest du dir gar keine Gedanken machen müssen. Das ist Aufgabe deines Bruders. Nach dem Tod eurer Eltern ist es seine Pflicht, für dein Wohlergehen zu sorgen, nicht umgekehrt.«

»Mein Bruder hat durch unseren Onkel genügend Probleme am Hals«, sagte sie bitter.

»Ja, der Onkel!« Westfield machte eine abfällige Handbewegung. »Der ist wirklich eine Zumutung. Ich habe von seinen Eskapaden gehört. Doch gerade weil er so schrecklich ist, ist er es nicht wert, dass du dein Leben wegwirfst. Glaube mir, wir werden für alles eine Lösung finden.«

»Wir? Meinst du das ernst?« Sie sah mit großen Augen zu ihm auf. »Stehst du uns denn tatsächlich in dieser misslichen Lage zur Seite?«

Westfield hörte die Überraschung und auch die aufkeimende Hoffnung in ihrer Stimme. Verdammt, Oscar, dachte er, warum hast du mir nicht gesagt, wie schlimm es um euch steht?

»Selbstverständlich meine ich das ernst. Ich würde meine Freunde nie im Stich lassen«, beeilte er sich zu versichern und legte sich die Rechte ans Herz. »Glaub mir, wäre ich in den letzten Jahren nicht in Spanien gewesen, hättet ihr längst auf mich zählen können.«

Aus dem Augenwinkel nahm er eine offene Kutsche wahr. In ihr saß eine Gruppe älterer Damen, die sich lebhaft unterhielten. Eine von ihnen lachte laut auf. Dann wurde es mit einem Schlag verdächtig ruhig und er hatte das unangenehme Gefühl, dass sich neugierige Blicke in seinen Rücken bohrten.

»Wir sollten keine Zeit mehr verlieren«, drängte er daher abermals und hörte selbst, wie gehetzt seine Stimme klang. »Alles Weitere können wir unterwegs besprechen. Es scheint, als würden wir bereits Aufsehen erregen.«

Amabels Augen folgten den seinen zur Kutsche hinüber. Die drei Damen hatten ihre Blicke abgewandt und winkten mit leeren Gläsern einen Lakaien heran, um sich mit neuen Erfrischungen versorgen zu lassen.

Zum Glück scheinen das keine von Mutters Freundinnen zu sein, dachte Harold, dem die Gesichter nicht bekannt vorkamen. Wie hätte ich ihr je erklären können, was ich hier zu suchen hatte, ohne Amabel in ein schiefes Licht zu rücken?

Vom Inneren der Poststation drang die ungehaltene Stimme eines Mannes ins Freie heraus. Harold bemerkte, dass Amabel erstarrte, und spürte ihren festen Griff am Unterarm. Nun klang ihre Stimme ebenso gehetzt wie seine kurz zuvor: »Du sollst mich wirklich nach Hause bringen?«, vergewisserte sie sich. »Und dort wartet tatsächlich mein Bruder auf mich?«

Es überraschte ihn, wie sehr sie diese Tatsache verwunderte, und daher beeilte er sich zu nicken.

»Dann nichts wie los«, entschied sie. »Ich höre ihn kommen und habe keine Lust, das Aufsehen noch durch einen lautstarken Wortwechsel zu vergrößern. Wo steht denn deine Kutsche?«

Harold griff sich mit der Hand in den Nacken und seufzte.

»Es gibt keine«, gestand er. »Wir waren so sehr darauf konzentriert, dich so schnell wie möglich zu finden, dass wir an deine Rückreise gar nicht gedacht haben. Also wirst du wohl vor mir auf den Sattel steigen müssen.«

Er unterbrach sich, da sie wieder zu kichern begonnen hatte und etwas flüsterte, das sich wie »Das sieht ihm ja so ähnlich!« anhörte.

»Wie, bitte?«, fragte er irritiert. Der Oscar, den er kannte, handelte stets vernünftig und überlegt. Wäre er nicht derart in Panik gewesen, er hätte seinen Plan sicher besser durchdacht.

»Wir reiten oft gemeinsam auf einem Pferd«, lautete ihre Antwort, die ihn noch mehr überraschte. »Die Frage ist allerdings: Wohin mit meiner Reisetasche?« Sie wies auf das kleine schwarze Gepäckstück, das sie am Pflaster abgestellt hatte.

Er erwog das Problem und entschied dann: »Die werden wir zwischen uns einklemmen. Wenn du dich gut bei mir festhältst, dann sollte ich weder dich noch deine Habseligkeiten verlieren.«

Kurz erwog sie diesen Vorschlag und nickte schließlich. »Ecce, hoc ita esto! Nun denn, dann soll es so sein. Bitte sei so freundlich, mir aufs Pferd zu helfen. Lass uns das Abenteuer beginnen.«

Erstaunt bemerkte er, dass sie die Arme erwartungsvoll ein Stück angehoben hatte, um sich von ihm auf das Pferd heben zu lassen, sodass sie quer im Sattel saß. In ihrem Blick lag so viel Vertrauen, dass es ihn rührte. Er kam ihrer unausgesprochenen Aufforderung mit einem Lächeln nach, reichte ihr die Tasche hinauf und schwang sich selbst hinter sie aufs Pferd. Bevor er sie auffordern konnte, sich gut an ihm festzuhalten, hatte sie ihr Gesicht schon seitlich an seine Brust geschmiegt und ihre Arme eng um seine Taille geschlungen. Die Tasche war zwischen ihren beiden Körpern eingeklemmt. Sein Lächeln vertiefte sich.

Sie hat recht, dachte er, während er das Pferd vorsichtig in Bewegung setzte, was als lästige Pflicht begonnen hatte, ist tatsächlich zu einem Abenteuer geworden. Nichts stand ihm ferner, als seinem Freund weiter zu zürnen. Wie hätte er aber auch ahnen können, was für eine bezaubernde Person seine Schwester war? Zum Glück, so dachte er, ist sie auch noch leicht und zierlich. Mit einer großen, wuchtigeren Frau wäre das Pferd wohl nach kurzer Zeit unter uns zusammengebrochen.

Er war eben dabei, aus dem Hoftor hinauszureiten, als ein lautes »He, was soll denn das?« zu ihnen herüberklang. »Bleiben Sie auf der Stelle stehen! Lassen Sie das Mädchen frei, Sie Unhold!«

Als Offizier war Harold Westfield gewöhnt, Befehle zu befolgen. Er hatte aber auch gelernt, genau darauf zu achten, von wem er sie entgegennahm. Ein Hauslehrer, der in die höhere Gesellschaft einheiraten wollte und meinte, sich nicht um seine Braut kümmern zu müssen, gehörte nicht dazu. Also bog er seelenruhig auf die Landstraße ein. Das Kichern an seiner Brust erwärmte sein Herz noch ein Stück mehr.

Die skandalöse Verwechslung

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