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Kapitel 3 Etwa ein Monat vor dem Treffen in Watford
An Bord der »Queen Anne« auf dem Weg nach Dover
April 1812

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Vor einigen Jahren hatte er gelesen, dass mehrere Seelen in der eigenen Brust miteinander kämpfen konnten, doch erst jetzt verstand er den Sinn dieses Satzes. Major Harold Westfield stützte sich mit beiden Händen an der Reling ab und starrte auf das graue Wasser, ohne es wirklich wahrzunehmen. Anders als im Atlantik war das Meer hier im Ärmelkanal unbewegt und so hatte sich sein Magen wieder beruhigt und auch die Wunde unter dem linken Rippenbogen pochte nicht mehr ganz so stark. Er spürte, wie ihm der auffrischende Wind durch die langen blonden Haare strich, die sich längst aus dem Zopf gelöst hatten, den er für gewöhnlich trug, und sich die salzige Luft auf seine Lippen legte. Vor allem aber spürte er das schlechte Gewissen, seine Kameraden im Stich gelassen zu haben, und gleichzeitig eine tiefe Sehnsucht, endlich wieder nach Hause zu kommen.

Je weiter er sich von Spanien entfernte, je näher er der Heimat kam, desto inniger wurde das Glücksgefühl. Vier Jahre hatte er nun auf dem Kontinent verbracht, um auf der Iberischen Halbinsel gegen die Truppen von Napoleon, diesem vermaledeiten Korsen, zu kämpfen. In Gedanken trieb er Jupiter, seinen Wallach, immer noch über staubtrockene Lehmböden, duckte sich unter den Ästen knorriger Olivenbäume und atmete den Duft von Thymian und Rosmarin. Vor allem aber roch er Blut. Dieser beißende Gestank von Eisen und Verwesung schien sich für immer in seiner Nase festgesetzt zu haben. Dazu hörte er das Geschrei der Verwundeten, spürte das hilflose Gefühl, ihnen nicht helfen, ja nicht einmal beim Sterben beistehen zu können. Dann war da noch die Hitze, diese unerträgliche, übergroße Hitze! Der Schweiß schien ihm auch jetzt noch unter der dicken Uniformjacke in Bächen über den Körper zu rinnen. Der Lärm von abgefeuerten Kanonen, das Surren von Gewehrkugeln, die ihn zum Glück fast alle verfehlt hatten, all das war ihm immer noch präsent.

Auch an diesem kalten Apriltag schien die Sonne, während die weißen Klippen von Dover in sein Blickfeld gerieten. Mit dem Ärmel seiner blauen Jacke wischte er sich Tränen aus den Augenwinkeln. Ob sie ihm aus Erleichterung, die Hölle heil überstanden zu haben, in die Augen getreten waren oder aus Freude, die Heimat wiederzusehen – er wusste es nicht und es war ihm auch egal. Hätte ihn jemand danach gefragt, dann hätte er dem Wind die Schuld gegeben und dem Salz des Meeres, das auf seinen geröteten Wangen brannte. Er fuhr herum, als er die trampelnden Schritte zweier Matrosen vernahm, die, jeder ein Bündel Seile um die Schulter, an ihm vorübereilen wollten.

»Wo finde ich Captain Whittaker?«, begehrte er zu wissen. »Ich würde gern erfahren, wie lange es noch dauert, bis wir am Hafen anlegen.«

»Worthaker, Major. Unser Captain heißt Worthaker«, berichtigte ihn einer der Seeleute. Harold verzog das Gesicht, strich sich mit der Rechten über den Nacken, was er immer tat, wenn ihm etwas unangenehm war, und verfluchte sein schlechtes Namengedächtnis. »Worthaker, ja natürlich«, murmelte er.

»Der steht am Steuerrad, Major. Sie würden nicht wollen, dass er es jetzt aus der Hand lässt, glauben Sie mir. Ihre Frage kann auch ich beantworten. Etwa noch eine Stunde, dann haben wir’s geschafft.« Die Matrosen salutierten und eilten mit großen Schritten weiter das Deck entlang. Harold rief ihnen einen Dank hinterher, den der Wind davontrug. Dann ging er in seine Kajüte ins erste Unterdeck hinunter, um seine Sachen zusammenzusammeln. Viel war es nicht, was er bei sich trug, denn als Offizier war er es gewöhnt, mit leichtem Gepäck zu reisen. Außerdem war der Großteil seines wenigen Hab und Guts im Januar dem Kanonenhagel von Ciudad Rodrigo zum Opfer gefallen. Genauso wie Jupiter, sein geliebtes Pferd. Und Riley, sein armer Bursche, der ihm seit Jahren treu zur Seite gestanden hatte. Ob er je wieder einen Diener finden würde, mit dem er sich ohne Worte verstand? Der Major schüttelte leicht den Kopf, und seine Rechte griff zur Brusttasche seines Rocks, um zu überprüfen, ob die beiden wichtigsten Gegenstände, die er bei sich trug, sicher verwahrt waren. Das eine war die Army Gold Medal, die man ihm für Tapferkeit und Verdienste in eben jener Schlacht nahe der portugiesischen Grenze verliehen hatte. Er hatte das Kommando übernommen, als Generalmajor Craufurd von der Light Division beim Sturm auf die Festung getötet worden war. Black Bob, wie ihn alle nannten, war eines seiner großen Vorbilder gewesen. Harold seufzte und zwang sich, nicht schon wieder an diesen Tag zurückzudenken, der ihm seit Monaten fast jede Nacht den Schlaf raubte. Stattdessen klopfte er auf ein Konvolut von Papieren. Man hatte ihm Dokumente und ein Schreiben des Generals mit dem Befehl anvertraut, alles schnellstmöglich im Kriegsministerium abzugeben. Daraufhin legte sich seine Linke auf die Hosentasche, wo ein prall gefüllter Geldbeutel davon zeugte, dass es sich gelohnt hatte, in Spanien sparsam mit dem Sold umzugehen. Er würde bequem und vor allem auch sicher nach London weiterreisen können.

So kam es, dass er kaum zwei Stunden später in einer modernen Reisekutsche Platz nahm, deren Miete sich nur wirklich Betuchte leisten konnten und die von einem Mann gelenkt wurde, der im Unterschied zu so manchem Postkutscher nüchtern war. Harold lehnte sich müde, aber zufrieden in die dunklen Lederpolster zurück. Er konnte sich an der Landschaft, die an ihm vorbeizog, kaum sattsehen. Saftige Wiesen statt verbrannter Erde. Die seit der Kindheit vertrauten groben Steinmauern, die die Felder von der Landstraße abtrennten. Alleen von Bäumen, deren Äste so tief hingen, dass Reisende, die die billigsten Plätze auf den Dächern der Postkutschen erklommen hatten, ständig den Kopf einziehen mussten. Auf den Weiden grasten wohlgenährte Rinder und Schafe, die so gar nichts mit den mageren, zähen Tieren des Südens gemeinsam hatten. Es hatte leicht zu regnen begonnen und ihm war, als könne es kein herzerwärmenderes Geräusch geben als das Pochen der Tropfen auf das Kutschendach. In Spanien war Regen selten und wenn, dann so heftig gewesen, dass er die militärischen Operationen erschwert und den trockenen Boden in eine Schlammwüste verwandelt hatte. Hier in England gehörte Regen zum gewohnten Bild und sorgte dafür, dass die Wiesen grün und saftig blieben.

Mit einem kleinen Lächeln lehnte er sich noch tiefer in die Polster zurück. Er war zu Hause. Er war wirklich und wahrhaftig wieder in England. Nun zeitigten sowohl die vielen schlaflosen Nächte, die von der Wunde verursachte Schwäche und auch das Rattern der Kutschenräder ihre Wirkung. Während ihm die Augen zufielen, überlegte er sich, was ihn in den kommenden Tagen erwarten würde. Als Erstes freute er sich auf ein weiches, sauberes Bett, auf ausreichend zu essen, auf ruhige Nächte, in denen ihn kein Kampfgefecht aus dem Schlaf reißen würde. Und irgendwie – es fiel ihm schwer, es vor sich selbst zuzugeben – freute er sich auch auf seine Mutter. War es nicht erbärmlich, dass sie derzeit die einzige Frau in seinem Leben war, die er liebte? Dabei war die verwitwete Baronin Tetbury laut, voller verrückter Ideen und hielt nie mit ihrer Meinung hinter dem Berg. Kurz: Sie war ihm nicht unähnlich. Zumindest dem Harold Westfield, der er gewesen war, bevor ihm die kalten Klauen des Krieges viel von seiner Unbeschwertheit genommen hatten. Wie sehr wünschte er sich, dass ein alter Spruch wahr werden würde und die Zeit alle Wunden heilte. Vielleicht kam der Tag, an dem er wieder aus vollem Herzen lachen konnte.

Energisch riss er sich zusammen. Welchen Sinn hatte es, in Selbstmitleid zu versinken? Stattdessen stellte er sich den Empfang bei seiner Mutter vor. Da sein Vater in der Zwischenzeit gestorben war und er keine Geschwister hatte, war sie seine einzige Familie. Außer seinem Halbbruder George natürlich, dem gegenwärtigen Baron, der aus Vaters erster Ehe stammte, sechzehn Jahre älter war als er und den sie beide nicht leiden konnten. Westfield freute sich, seine Mutter wiederzusehen, wusste aber, dass es nicht lange dauern würde, bis sie sich gegenseitig auf die Nerven gingen. Sobald er einen Überblick über seine finanzielle Lage gewonnen hatte, würde er sich eigene vier Wände suchen. Dies war umso schneller nötig, da Mama geschrieben hatte, sie sei nach Vaters Tod in ein schmales Stadthaus in der Hill Street gezogen. In solchen Gebäuden gab es höchstens drei Zimmer in jedem Geschoss. Da würden sie es nicht schaffen, einander aus dem Weg zu gehen. Abgesehen davon, dass Mutters tiefe Stimme und vor allem auch ihr Lachen ohnehin jede noch so dicke Wand mühelos durchdrang. Dennoch war er ihr zutiefst dankbar, dass sie ihn zu sich eingeladen hatte. Allein der Gedanke, sonst bei seinem Halbbruder in jenem Stadtpalais am Grosvenor Square, in dem er aufgewachsen war, unterkommen zu müssen, erfüllte ihn mit Schrecken. Tetbury war ein steifer, selbstgerechter Mann, den er schon als Junge nicht gemocht hatte. Seit es George gelungen war, die Tochter eines Earls zu ehelichen, war er unausstehlich geworden.

Bevor Harold der Schlaf übermannte, erkannte er mit einem Seufzen, dass ihn sein erster privater Weg zu ebendiesem Halbbruder führen musste. Hoffentlich hatte Papa nicht dessen Drängen nachgegeben, ihm, George, als dem Älteren und Träger des Titels, sämtlichen Besitz zu hinterlassen. Er, Westfield, würde seinen neuen Lebensabschnitt in der Heimat lieber wohlversorgt beginnen. Denn auch wenn er derzeit weder Weib noch Kinder, ja nicht einmal eine Mätresse zu versorgen hatte, war ein Aufenthalt in der Hauptstadt teuer und das, was er künftig als königlicher Beamter verdienen würde, keinesfalls ausreichend, um ihm einen standesgemäßen Hausstand zu ermöglichen. Nun denn, kommt Zeit, kommt Rat, dachte er und freute sich, dass er seine Unbeschwertheit nicht gänzlich verloren hatte. Während die Kutschenräder ihn seiner Zukunft entgegenratterten, fiel er das erste Mal seit Tagen in einen tiefen Schlaf.

Die skandalöse Verwechslung

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