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Kapitel 2 Etwa zwei Monate vor dem Treffen in Watford
Millcombe Castle, Landsitz des Marquess of Beaconsfield
Beaconsfield, kaum dreißig Meilen westlich von London
März 1812

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Plötzlich war er da, der Vormund, auf den sie so lange gewartet hatten. Mit forschem Schritt und schnarrender Stimme stellte er das beschauliche Leben der Geschwister Amabel und Sebastian Cavendish von einem Tag zum anderen auf den Kopf. Und das nicht auf die »Von nun an lebten sie glücklich«-Art und Weise. Dabei hatten die zwanzigjährigen Zwillinge alles Recht der Welt, auf etwas mehr Glück in ihrem einsamen Dasein zu hoffen.

Es war nun mehr als eineinhalb Jahre her, seit ihre Eltern bei einem Kutschenunglück ums Leben gekommen waren. Der Wagen war in den Hochwasser führenden Fray’s River gestürzt, wo der Marquess of Beaconsfield mitsamt der Marchioness, dem Kutscher und auch den beiden Pferden in den reißenden Fluten ertrank. Es hatte seit Tagen in Strömen geregnet, die Böden waren aufgeweicht und nurmehr mit erheblichen Schwierigkeiten befahrbar gewesen. Zudem hatte ein Sturm die Blätter von den Bäumen geweht, die sich mit dem feuchten Lehmboden zu einer glitschigen Masse vereint hatten. Alle Bemühungen des Kutschers, seine Herrschaft sicher ans Ziel zu bringen, scheiterten.

Den Verlust mussten die Geschwister spätestens dann als unwiederbringlich erkennen, als sie weinend vor der offenen Gruft standen und sich an den Händen hielten, im sicheren Wissen, dass sie jetzt auf sich allein gestellt waren. Das Unglück hatte ihnen nicht nur die geliebten Eltern genommen, es hatte sie auch mit einem Schlag aus ihrem unbeschwerten Leben gerissen. Da ihr Vater noch nicht so bald mit seinem Ableben gerechnet hatte, hatte er noch keine ausreichenden Vorkehrungen für das Leben der damals neunzehnjährigen Zwillinge getroffen. Als sein nächster männlicher Verwandter stellte sich ein Cousin zweiten Grades heraus, ein gewisser Mr Edgar Prestwood. Das war ein Mann, über den die beiden bisher kaum ein Wort gehört hatten, und wenn, dann war dies kein gutes gewesen. Wie es das Gesetz vorschrieb, wurde er zum Vormund bestellt und sollte sich damit um alle Belange kümmern, bis die Zwillinge volljährig waren und Sebastian somit selbst in der Lage, das Erbe in vollem Umfang anzutreten. Das Einzige, was der verstorbene Marquess bereits festgelegt hatte, war, dass die Verwaltung des gesamten Besitzes nur im Einvernehmen zwischen dem Vormund und Mr Laurence geschehen konnte, seinem in Ehren ergrauten Rechtsanwalt.

So gut gemeint diese Bestimmung auch war, so unerfreulich erwies sie sich in der Folge. Wie es nämlich ein böser Zufall wollte, weilte Mr Prestwood zum Zeitpunkt des Unglücks nicht in England. Er war wenige Tage zuvor zu einer ausgedehnten Studienreise aufgebrochen, die ihn über Frankreich, Savoyen, Venetien und den Balkan bis nach Griechenland führen sollte. Die Nachricht seiner Bestellung erreichte ihn daher erst mehr als ein Jahr später, als er wieder in die Heimat zurückkehrte. Ohne seine Zustimmung waren dem alten Rechtsanwalt die Hände gebunden. So kam es, dass Sebastian zwar den stolzen Titel eines Marquess trug, aber nicht an das ererbte Vermögen herankam. Was wiederum bedeutete, dass er keine Löhne zahlen konnte und auch nicht die Mittel hatte, das standesgemäße Leben für seine Schwester und sich aufrechtzuerhalten. Als Erstes verließ sie der Butler. Den hatte der Vater allerdings erst wenige Monate vor dem Unfall eingestellt und er war so arrogant, dass ihm niemand eine Träne nachweinte. Es folgten der Verwalter, was schon bei Weitem schwerer wog, dann alle Hausdiener und schließlich auch die Köchin, was am allerschlimmsten war. Als Einzige blieben Jack und Marie in ihren Diensten, ebenfalls ein Geschwisterpaar, das ihnen treu ergeben war. Sie waren auf dem Landsitz aufgewachsen und hatten kein anderes Zuhause. Marie, das Küchenmädchen, stieg zur Köchin auf und Jack, der Stallbursche, begleitete seinen jungen Herrn zum Fischen und auf die Jagd und warf sich in die Uniform des ersten und einzigen Hausdieners, wann immer es nötig erschien.

Zum Glück für die vier jungen Leute gab es auch noch Mrs Allington, die Haushälterin. Sie war als Mädchen unter dem Großvater der Zwillinge ins Haus gekommen und wurde, seitdem die beiden denken konnten, von allen Kindern Tante Alli gerufen. Seit dem Tod der Eltern war Alli ihr einziger Halt. Sie führte nicht nur den Haushalt, sondern stand den Geschwistern auch mit Rat und Tat zur Seite. Außerdem unterwies sie Amabel in allen Belangen der Haushaltsführung und fungierte als ihre Anstandsdame, wenn diese, was ohnehin selten vorkam, das Haus verlassen wollte. Wohin hätte die junge Lady auch gehen sollen? Für einen Bummel durch die verlockenden Läden der kleinen Stadt fehlte ebenso das Geld wie für den Besuch der Schneiderin. Da sie in Trauer war, scheuten die Nachbarn davor zurück, sie einzuladen. In den ersten Wochen waren noch einige Karten abgegeben worden, die nicht nur das Beileid zum Ausdruck brachten, sondern sie auch zum Tee baten. Da hatte sie dann mit Damen, die sie kaum kannte, in deren Wohnzimmern gesessen und war von Mitleid überhäuft worden, was sie nur sehr schwer ertrug. Manche nutzten die Gelegenheit, neugierige Fragen zum Unfall zu stellen oder Gerüchte an ihre Ohren zu tragen, wie sich das Unglück angeblich abgespielt hatte, was sie noch schwerer ertrug. Der Rechtsanwalt hatte es nicht für notwendig erachtet, sich persönlich nach Beaconsfield zu bemühen. Stattdessen hatte er dem jungen Marquess kurz und knapp mitgeteilt, dass ihm die Hände gebunden waren, bis der Vormund nach England zurückkehren würde, und dass seine Lordschaft daher davon absehen möge, ihm weitere, wie er es nannte, Bettelbriefe zu schicken.

»Jetzt weiß ich, was ich als Erstes tun werde, sobald ich volljährig bin«, hatte Sebastian verkündet und das Schriftstück ganz nach hinten in die Schreibtischlade gestopft. »Ich kündige diesem schrecklichen Menschen und verpflichte einen neuen Rechtsbeistand.«

In den kommenden Wochen und Monaten sollten noch ganz andere Dinge dazukommen, die er an seinem 21. Geburtstag als Erstes erledigen wollte. Da bis dahin allerdings noch viele Monate ins Land ziehen würden, hatte er mit seiner Schwester und Tante Alli beratschlagt, wie sie es schaffen konnten, finanziell über die Runden zu kommen, bis der unbekannte Vormund auf der Bildfläche erschien. Nahezu alle Pferde wurden verkauft. Außerdem Vaters Phaeton und der kleine, gut gepolsterte Wagen, mit dem Mutter gern übers Land gefahren war, um Pächter zu besuchen und sie mit Marmeladen und anderen Lebensmitteln aus dem Herrenhaus zu versorgen. Man behielt lediglich Sebastians Reitpferd Firefly und einen Wallach, den man gut vor den altersschwachen Gig spannen konnte.

Hatten sie gehofft, dass ihnen diese Maßnahmen erlauben würden, ein paar Ersparnisse zur Seite zu legen, so wurde das Vorhaben bereits zwei Monate später durch den Sturm zunichtegemacht, der einen Teil des nördlichen Flügels abdeckte. Ihre angespannte finanzielle Situation hatte sich im Landkreis herumgesprochen. Der Dachdecker, der, wie viele andere Respekt vor dem hohen Titel und auch Mitleid mit dem jungen Marquess hatte, kam zwar auf der Stelle, verlangte aber die vollständige Bezahlung vorab, bevor er bereit war, auch nur zum Hammer zu greifen. Damit waren ihre Ersparnisse dahin und sie aßen seither ausschließlich das, was der Küchengarten und das kleine Glashaus hergaben. Zudem hielten sie Hühner und auch zwei Kühe, die Jack mit Hingabe molk, bevor er sich oft mit seinem jungen Herrn auf den Weg machte, um Wildbret zu erlegen. Längst waren die beiden über alle Standesgrenzen hinweg so etwas wie Freunde geworden. So durfte er auf diesen Jagdausflügen das einzige intakte Gewehr benutzen. Sebastian war ein begnadeter Bogenschütze, der selbst bei geflügeltem Jagdgetier mit Pfeilen stolze Erfolge erzielte.

»Zwei Rehböcke, ein Fasan«, meldete sich Sebastian an diesem kalten Märztag von der Tür zum Wohnzimmer her und hielt mit strahlendem Lächeln das Federvieh in seiner Rechten hoch. »Jack wird heute Nachmittag einen der Böcke zum Schmied bringen, um ihn gegen Werkzeug und Schießpulver einzutauschen. Außerdem kann Firefly endlich neu beschlagen werden.«

Seine Schwester ließ die Stickerei in ihren Händen sinken und strahlte ihm entgegen. »Waidmanns Heil, mein lieber Bruder! Hoffentlich kann Jack in der Stadt auch ein paar zusätzliche Eisblöcke auftreiben. Dann sollte uns der Bock gut über die nächsten Wochen bringen.«

»Großartig gemacht, Master Sebastian«, meldete sich auch Mrs Allington lobend zu Wort, die neben Amabel auf dem wuchtigen dunkelgrünen Sofa beim Fenster saß. Vor ihr auf dem Boden stand ein Korb voll mit Bettwäsche, bei der es Risse zu flicken und Knöpfe zu ersetzen gab. Sie trug wie immer eines ihrer dunkelgrauen Kleider, deren Knöpfe mit demselben Stoff überzogen waren und die bis zum Hals geschlossen wurden. Ihre Haare hatten mit den Jahren die Farbe der Kleidung angenommen, sie waren zu einem Zopf geflochten und streng am Hinterkopf aufgesteckt. Auf der Nase thronte der unvermeidliche Zwicker, über dessen Rand sie ihren jungen Herrn nun mit strengem Blick ansah. »Aber unterstehen Sie sich, mit derart schmutzigen Stiefeln das Wohnzimmer zu betreten, junger Mann. Am besten bringen Sie das tote Geflügel umgehend in die Küche, damit Marie sich darum kümmern kann.«

Der Marquess hatte schon kehrtgemacht, als die Stimme seiner Schwester ihn zurückhielt: »Sebastian, kannst du Marie bitten, mir die schönsten Federn zur Seite zu legen? Wenn ihr tatsächlich der Meinung seid, dass ich meine Trauerkleidung ablegen darf, dann möchte ich gleich heute Nachmittag, noch bevor wir losreiten, den alten Strohhut ein wenig aufputzen.«

»Heute Nachmittag?« Mrs Allington, die eben konzentriert einen Faden durch das Nadelöhr ziehen wollte, hielt inne. »Was ist denn heute Nachmittag? Haben Sie beide etwas Besonderes vor?«

»Sebastian und ich werden nach Wooburn Green reiten«, erklärte Amabel. »Dort hat ein Wanderzirkus seine Zelte aufgeschlagen.«

»Er will in wenigen Tagen weiterreisen und wir dürfen auf keinen Fall versäumen, uns eine seiner Vorstellungen anzusehen!« Sebastians Begeisterung war unüberhörbar. »Im Lion & Heart schwärmten sie von den Akrobaten. Man sagt, es gäbe sogar einen Mann, der in der Lage wäre, Feuer zu schlucken.«

»Ach ja, richtig, der Zirkus. Wie konnte ich den nur vergessen? Dass Sie mir ja gut auf Ihre Schwester aufpassen, Master Sebastian«, meinte Mrs Allington, die seine Begeisterung offensichtlich nicht teilte. »Wollen Sie nicht doch lieber den Gig nehmen? Zu zweit auf einem Pferd, das ist doch nicht das Richtige.«

»Mit dem alten Karren sind wir viel zu langsam«, protestierte der junge Hausherr umgehend. »Außerdem könnte man uns glatt für Bauern oder Tagelöhner halten. Nein, nein, keine Sorge, Tante Alli, wir nehmen wie immer Firefly. Da Amabel so ein Leichtgewicht ist, kommt er mit uns beiden gut zurecht.«

»Wenn Sie das sagen.« Mrs Allington seufzte und wandte sich wieder dem Faden zu.

»Ich bin schon sehr gespannt, was uns erwartet«, erklärte Amabel, schwieg dann abrupt und drehte sich zum Fenster. »Hört ihr das auch? Das klingt nach Kutschenrädern. Es hat den Anschein, als bekämen wir Besuch.«

Da dies nicht häufig der Fall war, war die Aufregung in ihrer Stimme nicht zu überhören. Die Stickerei wurde achtlos auf das Sofa geworfen und schon trat sie mit raschen Schritten ans Fenster. Sebastian vergaß Tante Allis strenge Ermahnungen und war im nächsten Augenblick an ihrer Seite.

»Es handelt sich um einen geschlossenen Landauer«, wandte er sich über die Schulter zurück an die Haushälterin. »Nicht mehr ganz taufrisch, wie mir scheint. Haben Sie eine Ahnung, wer uns besuchen könnte? Wir erwarten doch niemanden, oder?«

»Was für eine schreckliche Farbe! Wenn wir wieder zu Geld kommen, Sebastian, dann darfst du für deine Kutsche keinesfalls so ein entsetzliches Rotbraun verwenden«, bestimmte seine Schwester.

Wie ähnlich sich die beiden doch sind und wie ähnlich sie sich sehen, dachte die Haushälterin mit einem gerührten Lächeln, steckte die Nadel in den Stoff und begann, das Kopfkissen, an dem sie gearbeitet hatte, zusammenzufalten. Die Geschwister hatten die gleichen hellbraunen Locken, die gleichen bernsteinfarbenen Augen, dasselbe offene Lachen. In der Statur unterschieden sie sich allerdings, was sie nur als Glück betrachten konnte. Sebastian war um einige Zentimeter größer als seine Schwester und muskulös, Amabel hingegen zierlich. Es wärmte ihr das Herz, wenn sie daran dachte, wie gut die beiden die letzten Monate gemeistert hatten. Trotz aller Trauer hatten sie stets zusammengehalten, ohne auch nur einen Augenblick lang in Bitterkeit zu verfallen. Mrs Allington hoffte so sehr, dass es der lang ersehnte Vormund war, der da vor dem Haustor eintraf. Und dass dieser bereit war, den Zwillingen endlich wieder jenes Leben zu ermöglichen, das ihnen von Geburt aus zustand. Dann könnte sie sich nämlich ruhigen Gewissens um ihre bettlägerige Schwester Maud kümmern, die in einem Häuschen am Stadtrand von Beaconsfield lebte. Bisher war ihre Nichte Prudence für die Pflege zuständig gewesen. Doch die hatte sich, um das dringend nötige Geld zu verdienen, erst kürzlich auf mehrere Inserate gemeldet, in denen ein Kindermädchen gesucht wurde. Wer wusste also, wie lange sie noch im Landkreis blieb? Mrs Allington seufzte. Apropos dringend nötiges Geld, das fehlte auch hier an allen Ecken und Enden.

Herr, lass es Mr Prestwood sein, flehte sie insgeheim. Wenn Gott ihre Gebete erhörte, dann würde es künftig genügend zu essen und die nötigen Mittel für dringende Reparaturen geben. Und wenn er ganz besonders gnädig war, dann würde sich der Vormund als verheiratet erweisen und die Geschwister zu einem Debüt nach London einladen. Um nicht falsche Hoffnungen zu erwecken, waren das indes keine Gedanken, die sie mit ihren Schützlingen teilen wollte.

»Wer auch immer es ist«, sagte sie stattdessen trocken, »er wird nicht erfreut sein, tote Tiere im Wohnzimmer vorzufinden. Also ab mit Ihnen in die Küche zu Marie, Master Sebastian! Bitte geben Sie bei der Gelegenheit auch Jack Bescheid, dass er die Gäste in Empfang nehmen soll. Außerdem würde ich vorschlagen, dass Sie sich umkleiden und mit sauberem Schuhwerk wiederkommen. Und Sie, meine Liebe«, wandte sie sich an Amabel, während Sebastian aus dem Zimmer eilte, »treten am besten vom Fenster weg. Eine Lady kann so neugierig sein, wie sie möchte, aber sie darf sich nicht dabei erwischen lassen.«

Amabel tat, wie ihr geheißen, ohne jedoch den Vorplatz gänzlich aus den Augen zu lassen. Der Kutscher war inzwischen vom Bock gestiegen und hatte den Wagenschlag der ausladenden, altmodischen Kutsche geöffnet. Zuerst wurden Männerbeine in abgetragenen schwarzen Stiefeln sichtbar und schon stand der Besucher auf dem Vorplatz.

»Es ist ein Gentleman«, informierte sie die Haushälterin. »Äh … das nehme ich zumindest an.«

Nun war Mrs Allington doch selbst zu neugierig, um dem Fenster länger fernzubleiben.

»Was soll das heißen?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Sie werden doch auf einen Blick erkennen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.«

»Es handelt sich ohne Zweifel um einen Mann«, bestätigte Amabel, ohne zu zögern. »Ob es sich dabei allerdings um einen Gentleman handelt, wage ich zu bezweifeln. Sehen Sie sich nur seine Haare an, Tante Alli. Erscheinen sie Ihnen nicht auch ein wenig ungepflegt? Und dann erst dieser altmodische Rock aus braunem Samt mit den seltsamen Verschlüssen.« Sie drehte sich zur Haushälterin um. »Diesen Mann habe ich mit Sicherheit noch nie gesehen. Können Sie sich vorstellen, warum er so einen schäbigen, flachen Hut trägt? Die beiden Pfauenfedern wollen so gar nicht dazu passen.«

Mrs Allington, die den Besucher nun ebenfalls durch den Vorhangspalt beobachtete, beschlich ein ungutes Gefühl. Wenn er der war, für den sie ihn hielt, dann hieß das, dass sich ihre Hoffnungen zwar erfüllten, aber damit gleichsam für immer unerfüllt blieben. Denn wenn das tatsächlich der lang herbeigesehnte Vormund war, dann verhieß bereits sein Äußeres nichts Gutes. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie zum Sofa hinüber, schnappte den Wäschekorb und schob ihn hinter die schmale Tapetentür neben dem Kamin, hinein in das enge Treppenhaus, das direkt in den Garten führte. Da es seit Jahren nicht mehr benutzt wurde, diente es als Abstellraum für allerlei Krimskrams. Dann ging sie zum Sofa zurück, um die Kissen aufzuschütteln und den Teetisch wieder an seinen üblichen Platz zu rücken.

»Er ist nicht allein«, fiel Amabel in diesem Augenblick auf. Ein weiterer Gentleman hatte die Kutsche umrundet und stellte sich soeben neben den Mann mit dem Hut. Sie wechselten einige Worte, die sie von ihrem Platz aus nicht verstehen konnte. Er überragte den anderen um mindestens zwei Haupteslängen und war ungewöhnlich schlank, ja geradezu mager. Sein längliches, schmales Gesicht war bleich, die langen gelblichen Zähne ebenso hervorstehend wie seine Augen. Es waren Augen, die dauerhaft den Eindruck vermittelten, er würde etwas Schreckliches erblicken.

»Hoffentlich kommt Sebastian bald zu uns zurück. Die beiden Männer da unten auf dem Vorplatz scheinen keine besonders angenehmen Zeitgenossen zu sein«, befand Amabel. »Ah, da tritt ja auch schon Jack zu ihnen.«

Der Diener war mit grinsendem Gesicht aus dem Haupttor gekommen, um die Neuankömmlinge nach ihren Wünschen zu fragen.

»Er hat die Zeit genutzt, um sich umzukleiden«, stellte die Haushälterin zufrieden fest. »Das ist gut. Es wäre nicht das Richtige gewesen, die Besucher im Jagdgewand zu empfangen. Trotz ihres wenig einnehmenden Äußeren dürfte es sich um Mitglieder der Oberschicht handeln. Es würde mich nicht wundern, wenn sie aus London kämen.«

»Aus London?« Amabel fuhr zu ihr herum. »Sie meinen doch nicht etwa, dass es sich bei einem der beiden Herren tatsächlich um unseren Onkel handeln könnte?«

Wie innig hatte Amabel in den letzten Monaten dessen Besuch herbeigesehnt. In ihren Träumen war er ein freundlicher, älterer Gentleman, in Güte und Herzenswärme dem armen Papa nicht unähnlich. Nie hätte sie damit gerechnet, dass sie ihn vom ersten Anblick an unsympathisch finden könnte. Oder gar, dass er auftauchen und sie sich wünschen würde, er wäre auf dem Kontinent geblieben.

»Nun«, sagte Mrs Allington und nichts in ihrer Stimme verriet die Aufregung, die sie verspürte, »das halte ich durchaus für möglich. Schließlich ist es höchst an der Zeit, dass er seine Pflichten Ihnen gegenüber wahrnimmt.« Sie fing Amabels Blick auf: »Lassen Sie uns keine voreiligen Schlüsse ziehen, meine Liebe. Manchmal täuscht das Äußere. Vielleicht hat er ja einen besonders schönen Charakter.«

Von der Halle her waren Schritte zu hören, die sich entschlossen dem Wohnzimmer näherten. Wie auf Kommando drehten sich beide Frauen zur Tür, strichen sich die Röcke glatt und schauten, die Ältere einige Schritte hinter der Jüngeren, mit gebanntem Blick zur Tür. Jack, der als Erstes eintrat, vermittelte nicht den Eindruck, den man sich von einem Diener eines hochadeligen Hauses wünschte. In der Eile hatte er sein Jackett falsch geknöpft, sodass es nun schräg vor seiner Brust geschlossen war. Den Schuhen fehlte der Glanz, die Haare standen ihm vom Kopf ab, aber er bemühte sich zumindest mit seinem Verhalten tapfer, einen herrschaftlichen Eindruck zu erwecken: »Mr Edgar Prestwood, Mylady. Und Mr«, weiter kam er nicht, da hatte ihn der Mann mit dem flachen Hut in der Hand schon zur Seite gedrängt.

»Kein Grund für so ein förmliches Getue, Bursche, wir sind schließlich eine Familie. Jetzt geh und bring uns den Grog, den ich verlangt habe. Staubige Landstraßen machen staubige Kehlen. Du bist also meine Nichte. Lass dich ansehen!«

Amabel versank in einen Knicks und spürte, dass die Haushälterin hinter ihr es ihr gleichtat. Hatte sie wirklich gedacht, das karge Leben wäre ihre größte Herausforderung? Nun sah sie ganz andere Probleme auf sich zukommen. Vor allem, da der Begleiter ihres Onkels sie wie ein saftiges Stück Rindfleisch musterte, das er in nicht allzu langer Zeit zu verspeisen gedachte. Tatsächlich leckte er sich bereits mit der Zunge über die bläulichen Lippen. Sie befahl sich, den Blick abzuwenden, was ihr nicht allzu schwer fiel, und ihren Onkel zu begrüßen: »Willkommen auf Millcombe Castle, Oheim. Wir freuen uns sehr, dass Sie es nun doch einrichten konnten, uns aufzusuchen.« Ha, diese Spitze hatte sie sich nicht verkneifen können. »Mein Bruder, der Marquess, wird sich in Kürze zu uns gesellen. Es gibt so vieles, was wir mit Ihnen besprechen möchten.«

Sie reichte die Rechte zu ihm hinauf und erschrak, als sie spürte, wie kalt und feucht seine Finger waren. Am liebsten hätte sie ihre Hand am Rock des Kleides abgewischt, so sehr ekelte es sie vor dieser Berührung. Der Onkel verbeugte sich angemessen und musterte sie dann von oben bis unten, während sie sich erhob. Was er sah, schien ihm zu gefallen.

»Sauber!«, sagte er und schnalzte mit der Zunge, um sein Wohlwollen über ihr Aussehen zum Ausdruck zu bringen. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass die arme Samantha, Gott hab sie selig, so etwas Ansehnliches hervorzubringen vermochte. Da werden wir nicht lange brauchen, um dich passend unter die Haube zu bringen.«

Amabel hörte, wie Mrs Allington hinter ihr scharf die Luft einzog. Hatte dieser Mann tatsächlich die Dreistigkeit besessen, ihre Mutter zu beleidigen und gleichzeitig so zu tun, als wäre es ein Kompliment? Sein Lächeln vertiefte sich, als er ihren erschrockenen Blick wahrnahm. Eine Bewegung im Augenwinkel ließ ihn herumfahren: »Warum steht denn dieser dämliche Kerl immer noch da, verdammt noch mal?« Schlagartig war jede auch noch so falsche Freundlichkeit aus seiner Stimme gewichen. »Ab in die Küche mit dir, du Lümmel«, herrschte er Jack an. »Hol den Grog und sag dem Butler Bescheid, dass ich ihn zu sprechen wünsche. Auf der Stelle!«

Der Diener trat unschlüssig von einem Bein auf das andere. »Wir haben keinen Rum im Haus«, gestand er schließlich.

Da fand es Amabel an der Zeit, ihre Sprache wiederzufinden. Dass ihr Onkel sie selbst einschüchterte, war eine Sache, aber ihre treuen Dienstboten würde sie mit Zähnen und Klauen verteidigen.

»Danke, Jack«, sagte sie daher und bemühte sich, ruhiger zu klingen, als sie sich fühlte. »Bring unseren Gästen Tee und am besten auch noch etwas von Maries herrlichem Kuchen. Dann kümmere dich um die Pferde.«

Der Diener nickte dankbar, verneigte sich und beeilte sich, aus dem Raum zu kommen. Rechtzeitig, um den Gast noch brüllen zu hören: »Tee? Wieso denn Tee? Wenn ich Grog sage, dann meine ich Grog! Du kannst dich gleich damit vertraut machen, dass meine Wünsche Gesetz sind, Mädchen. Denn anderenfalls werden wir es schwer haben, miteinander auszukommen.« Er trat zu ihr hin und hob ihr Kinn mit seiner behandschuhten Rechten ein Stück an. »Du willst doch, dass wir gut miteinander auskommen, nicht wahr? Das willst du doch?«

Seine Worte klangen so bedrohlich, dass Amabels Herz bis zum Hals schlug und ihr nichts anderes einfiel, als zu nicken. Dabei hätte sie am liebsten zugeschnappt und ihn in die Finger gebissen.

»Gut«, sagte er zufrieden und ließ das Kinn wieder los. Sein Atem verriet, dass es nicht der erste Grog des Tages war, nach dem er verlangt hatte. Amabel atmete erleichtert auf, als er einige Schritte zur Seite ging, um die Gemälde an der den Fenstern gegenüberliegenden Wand in Augenschein zu nehmen.

»Unsere finanziellen Mittel sind im letzten Jahr ebenso geschrumpft wie die Vorräte und die Anzahl des Personals«, bemühte sie sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Da wir nicht mit der nötigen Barschaft ausgestattet waren, verfügen wir weder über Rum, der für einen anständigen Grog notwendig wäre, noch über einen Butler. Wie Sie natürlich selbst am besten wissen, Onkel, ist mein Bruder noch nicht volljährig und kann somit nicht über das Vermögen verfügen, das ihm von Rechts wegen zusteht.«

»Ihm steht von Rechts wegen gar nichts zu!«, fuhr er sie an. »Ich bin sein Vormund. Also schweig und halte mich nicht mit einem Gestammel auf, das niemanden interessiert. Wo ist der Weinkeller? Gib mir den Schlüssel, Mädchen, ich mache mir selbst ein Bild über den Zustand dieses verlotterten Haushalts. Wollen wir doch sehen, ob es mir nicht doch gelingt, die eine oder andere Flasche Branntwein aufzuspüren.«

Mrs Allington hatte sich im Hintergrund gehalten. Wäre sie tatsächlich Amabels Tante gewesen, so hätte sie sich längst zu Wort gemeldet, so aber hielt sie es für angemessener zu schweigen. Nun aber hatte er ihren Wirkungskreis beleidigt und das war etwas, das sie nicht unwidersprochen hinnehmen konnte.

»Dieser Haushalt ist keineswegs verlottert«, widersprach sie so scharf, dass Amabel sich erschrocken umwandte. »Hätten Sie uns mit den nötigen Mitteln ausgestattet, Sir, so hätten wir ihn natürlich auf einem angemesseneren Standard halten können.«

Prestwood zog eine Augenbraue hoch und wandte sich an sein Mündel. »Wer ist denn die?«, wollte er wissen. Es war, als wäre ihm die Anwesenheit der Älteren erst durch ihre Wortmeldung aufgefallen.

»Das ist … äh … meine Tante. Mrs Allington.« Sie warf der Haushälterin einen bittenden Blick zu, jetzt nur ja nicht zu widersprechen. Sie wollte diesem schrecklichen Kerl keinesfalls schutzlos ausgeliefert sein. Und das wäre sie, würde er wissen, dass sie zur Dienerschaft gehörte.

»Allington?«, wiederholte er und zog die Stirn kraus. »Ich habe nie etwas von einer Familie Allington gehört. Du etwa, Tuckenhay?« Er blickte zu seinem Begleiter hinüber, der umgehend den Kopf schüttelte. Dabei trat er einen Schritt vor, unschlüssig, ob er sich nun selbst mit den Damen bekanntmachen sollte.

»Mrs Allington ist die Cousine meiner Mutter«, beeilte sich Amabel zu flunkern. »Sie stammt aus … aus …«

»… Newcastle«, ergänzte die falsche Tante den Satz.

»Na, dann ist es kein Wunder, dass ich noch nichts von Ihrer Familie gehört habe, Madam«, erklärte Mr Prestwood und verzog unwillig die Lippen. »Ich habe zwar den Kontinent bereist, aber so weit hinauf in den Norden unseres Königreichs habe ich es noch nicht geschafft.« Dann schien er sich doch an seine Manieren zu erinnern. Er trat vor die Haushälterin hin und verbeugte sich. »Ich hatte ja keine Ahnung … Sie sehen so … aber egal. Ich habe Sie für eine Dienstmagd gehalten, Madam, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Aber gut, wenn die Sachlage eine andere ist, muss ich mich wohl entschuldigen. Edgar Prestwood, Mrs … äh … zu Ihren Diensten. Darf ich Ihnen auch meinen Freund vorstellen? Mr Jasper Tuckenhay.«

Er gab seinem Begleiter, der noch einige weitere Schritte vorgetreten war, einen Klaps auf den Hinterkopf: »Mach schön deinen Diener, Tucky, damit ich mich nicht für dich schämen muss.« Er ließ ein unangenehmes Lachen hören.

Der blasse Mann zögerte nicht zu tun, wie ihm geheißen. Er verbeugte sich zuerst vor Mrs Allington und trat dann ein paar Schritte zur Seite, um Amabel zu begrüßen. Diese bemerkte, wie er sie wieder von oben bis unten musterte, und Gänsehaut kroch über ihren Rücken. Was er sah, gefiel Mr Tuckenhay offensichtlich, denn er leckte sich abermals mit der Zunge über die bläulichen Lippen.

»Mund zu!«, forderte Mr Prestwood und lachte abermals spöttisch auf. »Meine kleine Nichte hier ist für einen wie dich außer Reichweite. Es sei denn, du schaffst es endlich, deinem werten Herrn Onkel eine Apanage von mindestens zehntausend abzuringen.«

Amabel ließ einen erschrockenen Laut hören. Als sie und Sebastian das Kommen des unbekannten Vormunds herbeigesehnt hatten, wäre es ihnen nie in den Sinn gekommen, dass er ihre Lage nicht verbessern, sondern dramatisch verschlechtern könnte. Bis zu ihrem Geburtstag im Januar waren es noch zehn ganze Monate. Zehn Monate, in denen sie und ihr Bruder dem Vormund auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Hatte er etwa wirklich vor, sie mit dem ekelhaften Kumpanen zu vermählen, wenn dieser die gewünschte Anzahl von Scheinen auf den Tisch legte?

»Selbst dann bleibt sie für ihn außer Reichweite«, hörte sie Mrs Allington hinter sich murmeln und atmete auf. Gemeinsam mit Tante Alli würden sie schon einen Weg finden, die Zeit dieser Vormundschaft zu überstehen.

»Wie meinen?« Mr Prestwoods Brauen zogen sich zusammen. Der Haushälterin wurde bewusst, dass ihr Gemurmel bis an seine Ohren gedrungen war, und sie hielt es für ratsamer, die Worte nicht zu wiederholen. Zu ihrem Glück trat in diesem Augenblick Jack mit dem Teetablett ein. Gefolgt vom jungen Hausherrn selbst, der, wie sie mit Stolz feststellte, im Rock seines Papas einen durchaus erwachsenen Eindruck machte.

Die skandalöse Verwechslung

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