Читать книгу The Rolling Stones - Stanley Booth - Страница 9

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Musik is’ Musik. Wenn wir aber drüber reden, eine Show in New York abzuziehen, dann werd’ ich mich aufführ’n wie ’n Affe, denn ich geh’ da nicht hin. Es gibt jetzt so viele Schießereien und Morde und so Sachen. Und dann ist dort alles überfüllt, all die Leute, und man weiß einfach nicht, was als nächstes passieren wird. Stimmt’s oder hab’ ich recht? Du weißt nie, mit was für Typen du es zu tun hast, Junge. Und dann, Mann – überall Heckenschützen. Ich will mich ja nicht davor verstecken. Aber ich kann mich gut erinnern, dass drei oder vier Jungs umgebracht wurden, nur weil sie ihre Musik spielten. Ich und du, wir sind Partner – ich hab’ dich dabei – wir spiel’n zusammen – du weißt, was ich meine. Und, na ja, wir haben sie eh überlebt. Deswegen will ich jetzt keine Namen nen­nen; sie sind ja tot – einer vergiftet, der andere auch umgebracht. Die haben’s gemacht, weil er besser als sie spielen konnte. Ich sag’ dir jetzt, was ich weiß. Ich würd’ keinen umbringen, nur weil er bei irgend etwas besser ist. Jawoll. Und hab’ ich nicht recht? Aber ir­gendwer wird mich umbringen, weil ich und du ein wenig besser klarkommen als sie. Sie machen uns die ganze Zeit blöd an. Wir sie nicht. Wir geh’n; wir sagen, dass wir geh’n, also geh’n wir. Wir spielen dort drüben, und die geh’n auf uns los und geben’s uns. Sie geben’s dir, Junge. Und noch was: Wenn du dich schon in solchen Lokalen aufhältst, dann trink nicht viel. Trink vor allem nicht viel Whiskey. Spiel’ einfach weiter. Die machen dich dumm an, bevor du weißt, wie dir geschieht. Und sie haben jetzt eine Bande bei­sammen. Versuch’s nur – du wirst schon sehen, sie geben’s dir, Junge. Nimm mal zum Beispiel Buck Hobbs: Der hatte ein paar so­genannte Freunde, nein, ich werde keine Namen nennen, und er konnte spielen, wie sie es einfach nicht konnten. Der gleiche Song, den ich spiele, über Frankie und Albert, die ganzen alten Songs, „John Henry“ und so – er kriegte die alle prima auf die Reihe. Die anderen konnten ihm einfach nicht das Wasser reichen. Und des­halb hat ihm einer eines abends eine Gitarre über den Schädel ge­zogen, weil ihm das gestunken hat. Buck hat sich nicht stören las­sen. Spielt einfach weiter. Hört auf, geht von der Bühne runter, schnappt sich ’nen Drink. Und dann stirbt er. Buck Hobbs. Die haben ihn umgebracht. An so was alles denk’ ich. Ich möchte nicht weg von hier. Wir haben volles Haus. Also kämpfen. Daheim, wo ich geboren wurde, oben in Pleasant Hill, dort haben sie’s getan. Gleich in der Nähe von Pleasant Hill. Im Wäldchen.

Mississippi Joe Callicott

der 11-uhr-45-zug ab Paddington Station (3 Pfund 2 Shilling 5 Pence Retourgeld) rollte von den eintönigen Wohnblocks am Stadtrand von Lon­don gen Westen – hin zu den maigrünen Feldern rund um Reading und Didcot mit Bäumen, Hecken, rosa Schweinen, schwarzweiß gescheckten Rindern, Traktoren, strohgedeckten Scheunen und Häusern unter schwe­ren, weißen Wolken.

Ich saß in Fahrtrichtung und versuchte die Biographie über Heming­way zu lesen, die mir William Burroughs empfohlen hatte, als wir über Brian Jones redeten und als mein Leben – genauso wie das von Brian ­auseinanderzufallen begann. Ich las, um herauszufinden, wie Hemingway es schaffte weiterzumachen, nachdem er Hadley verloren hatte. Zum er­sten Mal nach fast zehn Jahren war ich ein alleinstehender Mann, oder besser gesagt: Ich war allein. Das war 1970.

Hinter Kemble, nach dem Umsteigen in Swindon, wurde die Land­schaft hügelig, Pferde grasten an den Abhängen in der Sonne. Auf der linken Seite der Geleise fiel das Land steil ab; die grünen Baumkronen unten im Tal erinnerten mich an die Vorberge im mittleren Georgia. Außer­halb von Stroud überquerten wir einen schnell zwischen jungen Weiden dahinfließenden Bach und ich sah eine Schar Enten aufflattern sowie Schulkinder auf einem schmalen Pfad, der unter einer kleinen Ziegelbrücke hindurchführte. Ein Junge winkte dem Zug mit einem Union Jack zu. Zwei Sitzreihen vor mir sagte eine Frau zu ihren Kindern, einem kleinen Jungen und einem Mädchen, sie sollten endlich aufhören, „Yellow Submarine“ zu singen.

Nach Gloucester, wo das Land wieder flach ist, fährt der Zug in nörd­liche Richtung nach Cheltenham. Der offizielle Reiseführer nannte den Ort noch immer Cheltenham Spa, obwohl das „heilkräftige Mineral­wasser“, das die „Elite vieler Generationen“ angezogen hatte, schon seit einigen Jahren verunreinigt war. Aber ich kam nicht dorthin, um ein Bad zu nehmen.

Vor der Bahnstation aus roten Ziegelsteinen parkten Taxis, aber da ich die Dinge immer auf die schwierige Art angehe, ließ ich sie mit anderen Reisenden wegfahren und zog lieber mit meiner schwarzen Reisetasche aus Nylon, die zu klein war, um Kleidung darin zu verstauen, mit meinem Tonbandgerät und dem Buch über Hemingway zu Fuß los. Das Buch trug ich, wie ein Wanderprediger seine Bibel, in der Hand. Es gibt in Cheltenham abgelegene Straßen, die wie jene in Queens, New York oder Bir­mingham, Alabama, aussehen, mit Wohnsilos aus der Zeit der Depres­sion und Häusern mit Rasenflächen, auf denen kein Gras wächst. Das Buch und die Tasche wurden mir schwer bis ich die Stadtmitte erreichte.

Ich ging bis zu einer Seitenstraße, fand eine Telefonzelle und entschied mich anhand des Fotos im Telefonbuch für das Majestic Hotel am Park Place. Es sah aus wie das Hotel, in dem W. C. Fields absteigen würde, wenn er in der Stadt war. Außerdem lag es zwischen der Gegend, in der ich mich befand und der Hatherley Road, wo Brian Jones aufgewachsen war.

Ich war weit genug gelaufen, um nun einer Taxifahrt etwas abgewin­nen zu können, wenn ich nicht so unvernünftig wäre. Aber ich war noch nicht bereit dafür. Ich wollte an den feinen Geschäften der Promenade und den ordentlichen Häusern unter den zurechtgestutzten Bäumen vorbeispazieren. Cheltenham wurde als netter Ort geplant, und es ist auch ein netter Ort – zumindest so lange, bis man beschließt, dass du selbst eigent­lich nicht so nett bist. Einige der nettesten Leute von Cheltenham hatten schon jahrelang nicht mit den Eltern von Brian Jones gesprochen, während andere erst aufhörten, mit ihnen zu reden, nachdem man Brian in geweihte Erde gebettet hatte, was sein letzter Frevel war. Wenn man genau hinhört, kann man die Heckenscheren von Cheltenham die Hecken zurechtstut­zen hören.

Das Majestic Hotel ragte zwischen verfallenden Apartmenthäusern drohend wie ein verblasstes Gespenst auf. Der Portier saß in einer kleinen Glaszelle von der Art eines Kartenschalters und der Bartender lümmelte auf seinen Ellbogen in der leeren Cocktailbar herum und zerknitterte die Ärmel seines gestärkten weißen Jacketts. Der Aufzug roch, als wäre er seit den 20er Jahren geschlossen gewesen. Langsam brachte er mich in den dritten Stock zu meinem Einzelzimmer mit Waschbecken. Der Raum war, wie alle Einzelzimmer in Hotels, mit dem Flair von Einsamkeit und Tod und des einsamen Totschlagens der Nacht durchtränkt. Ich legte mich auf die lachsfarbene Bettdecke.

Meine Füße ruhten sich zwar für ein paar Minuten aus, aber mein Be­wusstsein kam nicht zur Ruhe. Es gibt kein Buch, das gegen die Einsam­keit hilft, und keine Droge, die etwas gegen sie ausrichtet. Nachdem sie ihn verlassen hatte, muss Brian weiter an Anita Pallenberg gedacht haben – so wie auch ich, nachdem ich nun alleine war, weiterdachte. Anita glaub­te, ihr Sohn Marlon, den sie im vergangenen Jahr, nach Brians Tod, von Keith bekommen hatte, sei der wiedergeborene Brian. Er war es nicht, aber sie hörte nicht auf, an Brian zu denken. „Ich werde ihn wiedersehen. Wir versprachen, einander wieder zu treffen. Es ging um Leben und Tod“, sagte Anita. „Einer von uns musste gehen.“ Eine schwere Entscheidung. Ich schwang meine müden Füße vom Bett. Nachdenken führte zu nichts.

Der Aufzug fuhr abwärts genauso langsam. Der Bartender lehnte noch immer am Tresen, weit und breit keine Kundschaft in Sicht.

Ich setzte mich in den Imperial Gardens auf eine grüne Parkbank, um ein wenig Marihuana zu rauchen und das Ende des Mittwochnachmittags zu beobachten. Kellnerinnen räumten die roten, blauen und grünen Tische unter den orange und gelb gestreiften Tuborg-Sonnenschirmen ab, wo ein paar Leute noch immer zwischen den Blumen einen Imbiss zu sich nah­men. Die Inschrift auf der Sonnenuhr des Gartens besagte: „Ich zähle nur jede sonnige Stund’/Stürme und Regen tun andere kund.“ Nur ein Junge und ein Mädchen lagen jetzt noch unbeweglich im Gras, als wollten sie dort übernachten.

Während ich meinen Blick über die Tulpen und Bäume und den leise summenden Verkehr des in Zwielicht getauchten Cheltenham gleiten ließ, dachte ich daran, wie Brian, kurz vor seinem Tod, bei einem Besuch bei ihm zu Hause gesagt hatte: „Wäre ich doch bloß nie von hier weggegan­gen!“ Ich zerlegte den Zigarettenstummel, zerriss das kurze Stück Papier und rollte es zu einem kleinen Kügelchen zusammen, das sich, ebenso wie das Rauchmaterial, im Wind verlieren würde. Dann ging ich über die Pro­menade und am dritten Militärmonument vorbei, das ich in dieser Stadt sah. Die anderen beiden waren für Afrika 1899 bis 1902 und den Ersten Weltkrieg gewesen. Die Tafel dieses Denkmals besagte: „Auf diesem Eh­renmahl stand ursprünglich eine bei Sewastopol erbeutete Kanone. Während des Krieges von 1939 bis 1945 wurde die Kanone der Regierung übergeben, um Eisen für die Rüstung zu liefern.“ Obwohl es kleiner war, erinnerte mich Cheltenham an Macon, Georgia, wo ich mit Militäruni­form und ein Gewehr tragend zur Highschool gegangen war. Macon war der letzte Ort gewesen, an dem ich mich bemüßigt gefühlt hatte, Zigaret­tenreste auf diese Art und Weise zu beseitigen. Nicht weil ich Marihuana geraucht hatte, sondern um die Umgebung sauber zu halten. Denn beides sind hübsche Städte mit vielen Bäumen.

Es war 18 Uhr 44, und ich hatte gerade noch genug Zeit für ein Sand­wich. Die Straße hinunter gab es ein Cafe, das ebenso verlassen wie die Bar des Majestic aussah. Abgesehen von einer jungen Inderin hinter der Theke war niemand da. Sie war am Aufräumen, um zu schließen, aber sie fragte, ob ich etwas essen wolle.

Ich kaufte ein wässriges Orangengetränk und ein Käsesandwich, weil man bei einem Käsesandwich nicht viel falsch machen kann. Eine Frau kam herein, nahm das Geld aus der Registrierkasse, ließ das Mädchen zur Hintertür hinaus und schloss ab. Als die junge Frau ging, fiel mir auf, dass sie der einzige dunkelhäutige Mensch war, den ich in dieser Stadt bisher gesehen hatte.

Zurück im Hotel war ich dermaßen cool und entspannt, dass ich mein Tonbandgerät noch immer nicht ausgepackt hatte, als mich die Rezeption anrief, weil ein Taxi auf mich wartete. Ich legte schnell ein Band ein, ent­schloss mich dann aber, das Gerät zurückzulassen.

Noch ehe ich meine Notizen durchsehen konnte, bog das Taxi in die Seitenfahrbahn ab, um mich aussteigen zu lassen. Die senffarbenen Doppelhaushälften sahen mit ihren kleinen Grasflächen hinter den Ziegelsteinmäuerchen so klein und gewöhnlich aus, dass ich dachte, ich könne nur an der falschen Adresse sein. Aber ich öffnete das Gartentor und ging zur Haustür, wo auf einer leuchtenden Klingel aus Plastik der Name L. B. Jones stand. Ich läutete, wartete und versuchte zu lächeln. Die Nacht war angebrochen und ich stand in einer Pfütze aus gelbem Licht unter der Verandalampe, während auf der finsteren Straße Autos vorbeisausten und einander die gleißend aufblitzenden Strahlenbündel ihrer Scheinwerfer entgegenknallten.

Der kleine Mann, der die Tür öffnete, hatte sich lichtendes graues Haar und ein eher breites Gesicht, das im Kontrast zu seiner spitzen Nase stand und dessen blasse, faltige Haut gerötet war. Als ich zu sprechen begann, musste ich daran denken, dass er dieselbe Größe wie Brian hatte, dass ihre Skelette identisch sein müssten. Er hatte Brians Art, fast auf Zehenspitzen zu gehen und seine Hände neben den Hüften nach hinten zu halten – oder besser gesagt, Brian hatte seine Art gehabt. Er hatte die gleichen kurzen Arme und kleinen, starken Hände. Und er hatte Brians lustige Art, die Dinge mit einem offenen und einem zugekniffenen Auge zu besehen, ob­wohl die Augen von Mr. Jones hinter seiner Brille mit dem Rahmen aus vergoldetem Metall und grauem Plastik nicht derart intensiv von innen heraus zu leuchten schienen, wie das bei Brian der Fall gewesen war. Da stand er nun vor mir und guckte mich einäugig an, einen Fuß vorgescho­ben, die Hände unten bei seinen Hosentaschen fast zu Fäusten geballt.

Ich stellte mich vor und Mr. Jones sagte, er freue sich, mich zu sehen. Er führte mich ins Wohnzimmer, wo ich mich auf der Couch niederließ und er sich auf einen mit hässlichen Blumen bedruckten Sessel vor ein aus­geschaltetes elektrisches Kaminfeuer setzte. Er erzählte mir, dass ich schon der vierte Amerikaner sei, der komme, um über Brian zu schreiben. „Da kommen irgendwelche Leute und haben Empfehlungsschreiben von Ver­lagen dabei, dann gehen sie wieder und man hört nichts mehr von ihnen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich denke, die wollen mich nur auf den Arm nehmen“, sagte er und blickte mich wieder mit einem Auge an.

Ich wollte ihm antworten, kam aber gerade mal bis „Äh, ähm …“, als Brians Mutter hereinkam. Ich rappelte mich auf und begrüßte sie. Sie sah sanfter aus als Mr. Jones. Sie nannte ihn Lewis, er sie Louie, die Koseform für Louisa. Ihre Augen waren blau, hübsch blau. Ihre Haare waren eben­so flachsblond wie die von Brian – ein Farbton, der sich im Alter gut zu halten schien, wenn er die Chance zum Altern hatte.

Wir setzten uns wieder. Mrs. Jones nahm in einem Sessel an der einen Seite des Zimmers Platz, ich an der anderen, und Mr. Jones, der den kal­ten Kamin anstarrte, saß in der Mitte. Ich versuchte zu erklären, woran ich arbeitete, aber das Zimmer nahm meine ganze Aufmerksamkeit ge­fangen. Es enthielt, außer uns und dem orangeroten Kater, typisch schwül­stige englische Möbel, einen alten Heathkit-Plattenspieler, ein noch älte­res Radio, einen Schwarzweißfernseher, einen blühenden Bonsai unter einer Glasglocke und die Statuette eines Indianers, die jedes Mitglied der Stones 1964 vom deutschen Teenie-Magazin „Bravo“ erhalten hatte. Auf dem Kaminsims stand eine kleine Gummipuppe mit knallroten Hosen und einer weißen Mähne aus Nylonhaar, die vulgärste aller Karikaturen, die es von Brian geben kann, die aber nichtsdestotrotz den Eindruck eines zu seinen Ehren aufgestellten Totems erweckte und das zentrale Objekt in diesem kleinen, grotesken Zimmer darstellte. Die orangefarbene Katze roll­te sich im Schoß von Mrs. Jones zusammen. Ich fragte sie nach dem Namen des Tieres und sie sagte: „Jinx.“

„Es ist so schade“, sagte Brians Vater. „Brian hätte ein brillanter Jour­nalist sein können, in der Schule hat er immer besser Schach gespielt als alle anderen, so viel vergeudetes Talent.“ Er presste die Backenzähne auf­einander und zog eine Grimasse, als fände gerade eine furchtbare Ver­wandlung statt.

Mrs. Jones fragte: „Hatten Sie heute Abend schon was zu essen, mein Lieber? Möchten Sie was?“

Ich dachte an mein heutiges Abendessen, an versäumte Abendessen und an andere Dinge – und auch an manche Dinge, die ich nicht verpasst hatte. Alles aufgrund dessen, was ich in den Augen ihres Sohnes gesehen hatte. „Gut, danke, gern“, sagte ich. Dann fing ich an, Fragen zu stellen.

Mr. und Mrs. Jones lernten einander in Südwales kennen, wo sie noch bei ihren Eltern gelebt hatten. Die Eltern von Mr. Jones waren Lehrer. Sein Vater sang in Gesellschaften von Opernfreunden und leitete den Kirchenchor. Der Vater von Mrs. Jones war über fünfzig Jahre lang Baumei­ster und Kirchenorganist in der Nähe von Cardiff. Ihre Mutter hatte, da stets kränkelnd, keinerlei Ausbildung genossen, war jetzt aber mit drei­undachtzig recht gut beisammen. Die Eltern von Mrs. Jones lebten noch, seine waren bereits tot.

Mr. Jones studierte Maschinenbau an der Universität von Leeds, hei­ratete dann und begann für Rolls-Royce zu arbeiten. Bei Kriegsbeginn 1939 wurde er nach Cheltenham versetzt, wo er seither mit Mrs. Jones lebte. Er arbeitete als Flugzeugingenieur, sie gab Klavierstunden.

Brian erblickte am letzten Februartag des Jahres 1942 als erstes Kind das Licht der Welt. Das zweite Kind, eine Tochter, starb mit ungefähr zwei Jahren.

„Wie ist sie gestorben?“ fragte ich so rücksichtsvoll wie möglich.

„Sie ist gestorben und mehr sage ich dazu nicht“, antwortete Mr. Jones. Ich versuchte ein weiteres Mal zu erklären, warum ich solche Fragen stell­te, aber Mr. Jones war zu oft von gedruckten Lügen und Wahrheiten ver­letzt worden und nicht einmal annähernd bereit, einem Schreiberling zu vertrauen. Er erklärte mir, dass das jüngste Kind, Barbara, 1946 geboren wurde und jetzt Turnlehrerin sei und dass sie überhaupt nichts mit Brian zu tun haben wolle, und er bat mich, sie in Frieden zu lassen. Wieder mahl­te er mit seinen Zähnen. Aber er konnte sich trotzdem nicht davon ab­bringen, zu erzählen und Alben mit den Familienfotos hervorzuholen.

Ein Foto zeigte Brian im Alter von ungefähr fünf Jahren, wie er mit einer grau getigerten Katze spielte.

„Eines Tages, beide, Brian und die Katze, waren noch sehr jung, hat er erklärt, ihr Name sei Rolobur“, sagte Mrs. Jones. „‚Das ist Rolobur‘, hat er gesagt. Keine Ahnung, ob er etwas anderes sagen wollte und es nur als Rolobur herausgekommen ist. Einmal hat er sie blau bemalt.“

„Die Katze?“

„Ohne ihr wehtun zu wollen“, sagte Mrs. Jones. „Was er auch nicht getan hat. Er verwendete Lebensmittelfarben, die sich bald wieder aus­wuschen und die Katze lebte noch ungefähr sechzehn Jahre bei uns.“

„Brian war ein eigenartiges Kind“, sagte seine Mutter.

Sie gab ihm seine ersten Klavierstunden, als er sechs Jahre alt war, und er lernte das Instrument bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr. „Aber er war nicht gerade stark daran interessiert“, sagte sie. „Dann begann er, Kla­rinette zu spielen.“

„Was seinem Asthma auch nicht gerade gutgetan hat“, sagte Mr. Jones. „Brian hatte den Krupp mit vier und das chronische Asthma blieb davon zurück. Er hatte fürchterliche Asthmaanfälle. Es war immer besonders arg, wenn er in den Ferien an den Strand ging und er hatte unten in Cotchford Anfälle, schlimme Anfälle, kurz vor seinem Tod.“

Cotchford Farm war einmal das Zuhause von A. A. Milne; Pooh, der Bär, lebte in den Hefalump-Wäldern. Es schien irgendwie stimmig, dass Brian Eigentümer dieses Besitzes wurde, wo er so früh starb, weniger als ein Jahr nachdem er ihn erstanden hatte. Er war bis dahin schon durch vieles verletzt worden und Mr. Jones konnte nicht aufhören, diese Ereig­nisse zu rekapitulieren, um herauszufinden, wo die Dinge falsch gelaufen waren und wer oder was daran schuld hatte. „Ich war mit ihm dort unten in Cotchford, in so einer Art Rumpelkammer, kurz bevor er starb. Als ihm da ein Foto von Anita in die Hände fiel, stand er für einen Augenblick ein­fach nur da und starrte es an. Er sagte ‚Anita‘ – fast so, als würde er zu sich selbst sprechen, als hätte er vergessen, dass ich da war. Dann legte er das Foto beiseite und wir redeten weiter, was immer uns gerade beschäf­tigte. Der Verlust von Anita hat ihm schrecklich zugesetzt. Danach war für Brian nichts mehr so wie vorher. Dann die Drogenprozesse, all diese Schwierigkeiten. Ich wusste nicht, wie ich ihm helfen sollte. Wir waren ein­ander sehr nah, als er jung war, aber später hatten wir … nun ja … Mei­nungsverschiedenheiten.“

So vielversprechend … ein Chorknabe … erster Klarinettist … und dann sagen die alten Freunde, na ja, ist wohl an der Zeit, dass du dich zur Ruhe setzt, oder? Er starrte ins kalte Feuer, biss die Zähne zusammen, re­dete dann weiter.

„Brian lehnte jegliche Disziplin ab. Er wurde zweimal der Schule ver­wiesen. Einmal, in der sechsten Klasse, verwendeten er und ein paar an­dere Jungs ihre Akademikermützen als Boomerangs und ließen sie durch die Luft segeln. Die von Brian ging dabei kaputt und er weigerte sich, sie zu tragen. Sie haben ihn suspendiert. ‚Eine äußerst heilsame Erfahrung‘ für Brian, eine Woche Suspendierung, zumindest aus der Sicht dieses Trottels von Rektor. Brian verbrachte die ganze Woche unten am Strand von Cheltenham, ging schwimmen und kam für die anderen Jungen als Held zurück. Ich wusste kaum noch, wie ich ihn behandeln sollte. Der Rektor pflegte sich immer wieder über ihn zu beklagen, woraufhin ich jedesmal sehr ernst wurde und mir Brian für ein Gespräch vornahm. ‚Warum schreibt uns der Rektor immer Briefe mit Beschwerden? Warum bist du denen gegenüber so ungehorsam?‘ Und Brian sagte dann immer: ‚Schau, Dad, das sind nur Lehrer. Die haben nie was geleistet. Du willst, dass ich alles so mache wie du, aber ich kann nicht sein wie du. Ich muss mein eigenes Leben leben.‘ Er war diesbezüglich schrecklich konsequent. Ich bin kaum auf einen grü­nen Zweig gekommen, wenn ich mit ihm zu diskutieren versucht habe.“

Und er erzählt weiter: „Für Brian war die Schule ganz einfach ein Gräu­el, die Prüfungen, die Disziplin, all das. Er schaffte aber seine guten Noten trotzdem. Mit achtzehn ging er von der Schule ab, einen Besuch der Uni­versität zog er gar nicht erst in Erwägung. Ihm graute vor dem Gedanken, zur Universität zu gehen, und er konnte es sich nicht vorstellen, jahrelang zu studieren, bevor er auf eigenen Füßen stehen würde. Er hasste die Vor­stellung, nicht vor fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Eine Zeitlang fand er den Zahnarztberuf sehr interessant, aber nach der Schule beschloss er, in London für eine Augenoptikfirma zu arbeiten. Es gab da ein angeschlossenes College für Opht­halmologie, wo Brian eine Weile studierte, während er gleichzeitig arbei­tete. Die Firma hatte eine Filiale in Newport, aber Brian wollte nach Lon­don. Er wollte das Nachtleben von London kennenlernen, die Jazzclubs, das alles. Er liebte Jazz, Stan Kenton, diese Art von Musik.“

Mr. Jones begleitete ihn zum Vorstellungsgespräch bei der Augenop­tik-Firma in London. „Er zog eine ziemlich gute Show ab, und als wir gin­gen, fragte ich: ‚Welchen Zug sollen wir nehmen, den um fünf?‘ Aber er sagte: ‚Nein, Dad, ich möchte in ein paar Jazzclubs gehen, bevor wir heim­fahren, möchtest du mitkommen?‘ Ich antwortete: ‚Nein, nein, ich mag nicht.‘ Also sagte Brian: ‚Ich komme mit einem späteren Zug nach Hause.‘ Er war schon öfter ohne mein Wissen nach London getrampt, um diese Clubs zu besuchen. Ich kehrte also heim und Brian blieb in London. Er kam um ungefähr sechs Uhr früh nach Hause. An diesem Abend in Lon­don kaufte er mir übrigens einen Hamburger. Ich weiß nicht, warum ich mich gerade an so etwas erinnere. Aber ich glaube, es war das erste Mal, dass er mir ein Essen gekauft hat. Brian war besessen von Musik. Er spiel­te immer diese Platten vom, wie heißen sie noch gleich, vom Modern Jazz Quartet …“

„Der Krach hat mich immer verrückt gemacht“, sagte Mrs. Jones.

„Diese Platten liefen am Morgen, zu Mittag und am Abend“, sagte Mr. Jones. „Ich sah das als etwas definitiv Schlechtes in seinem Leben, das eine ziemlich gute Karriere unterminiert hat. Vielleicht war die Musik letztlich sein Untergang, aber schon damals habe ich sie als etwas Schädliches be­trachtet, weil er so davon besessen war. Musik hatte ihm alle Gedanken an eine konventionelle Karriere ausgetrieben. Seine Beschäftigung mit der Musik und dem Leben in London, mit dem Leben in den Nachtclubs ­all das hat seine Karriere bei dieser Augenoptikfirma ruiniert. Er hat die Schule und seinen Job hingeschmissen und ist nach Hause zurückgekom­men. Er hatte verrückte Jobs, spielte mit einer Band und verkaufte in einer Musikalienhandlung in Cheltenham Noten und Platten. Er wurde von einem musikalischen Umfeld bis zur völligen Hingabe förmlich aufgeso­gen. Ich wusste, dass Brian musikalische Fähigkeiten hatte, aber ich habe es sehr bezweifelt, dass er damit auch Erfolg haben könnte. Für mich war das Wichtigste seine Sicherheit. Ich war nicht glücklich damit, ihn nur so dahindriften zu sehen, und ich habe es als nicht sehr wahrscheinlich be­trachtet, dass der Jazz Sicherheit und Erfolg bringen würde. Aber für ihn war es … eine Religion, er war ein Fanatiker. Mit zwanzig ging er endgül­tig nach London.“

Ungefähr zur selben Zeit kamen zwei andere junge Männer nach Lon­don, wo sie Brian treffen sollten. Und keiner von ihnen würde jemals wie­der so sein, wie er gewesen war.

„Brians Untergang war weder meine Schuld noch auf Drogen zurück­zuführen“, sagte Anita. „Mick und Keith waren es.“

The Rolling Stones

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