Читать книгу Die Tote im Stadl - Stefan Maiwald - Страница 10
4.Blutige Spuren
ОглавлениеJa, die Sache mit dem Raubmord im vierten Bezirk. Der Fall hatte Kerschbaumer monatelang ordentlich auf Trab gehalten. Ein stadtbekannter Juwelier war am Abend vor seiner Haustür überfallen worden, ausgerechnet als er seine teuerste Uhr trug, eine Patek Philippe Nautilus Sonderedition zum fünfzigjährigen Bestehen der Reihe, Listenpreis 275 900 Euro, unter Liebhabern wegen ihrer Seltenheit durchaus auch 400 000 Euro und mehr wert. Bei dem Überfall versagte vor Aufregung sein Herz, was die Staatsanwältin nicht als Totschlag, sondern als Mord einstufte, weil die Räuber außergewöhnlich brutal vorgegangen waren. Kerschbaumer hatte schließlich herausgefunden, dass zwei Angestellte des Juweliers hinter dem Überfall steckten und zwei Freunde zur Tat angestiftet hatten. Lange war ein Insiderjob vermutet worden, doch keinem Angestellten war etwas nachzuweisen. Erst ein Überwachungsvideo mit einem Detail, das die Forensiker übersehen hatten, brachte Kerschbaumer auf die Spur: Einer der Täter hatte eine Hose mit Camouflage-Aufdruck getragen. Diese Aufdrucke sind auch in der Massenproduktion nie genau gleich, und so fanden Kerschbaumer und seine Kollegen in der Wohnung eines der Verdächtigen tatsächlich eine Hose, die perfekt zur Aufnahme der Überwachungskamera passte. Alle vier Täter saßen nun in der Justizanstalt Wien Mittersteig, die den ganz schweren Jungs vorbehalten war. Die Uhr blieb allerdings verschwunden; vermutlich war sie über mehrere Hehler am Arm eines orientalischen Prinzen gelandet.
Wiens Straßen waren so weit entfernt wie eine andere Galaxie hinter einem schwarzen Loch. Denn Kerschbaumer stand mitten im Wald. Tannen mit feinem Schneeüberzug ragten über ihm weit in den bleiernen Himmel. Und vor ihm lag etwas, was einmal eine Person mit Gefühlen und Träumen gewesen war. Wo immer diese Gefühle und Träume jetzt waren: In der Person waren sie jedenfalls nicht mehr. Die Frau lag auf dem Rücken im Eingang des Stadls und war außergewöhnlich hellblond, vermutlich färbte sie, aber der Ansatz war kaum zu sehen. Ihre Haare waren aufgeföhnt und elegant gewellt, selbst jetzt noch, wo sie sich auf der festgetretenen Erde ausbreiteten. Die Augen waren halb offen und blickten wie über ein Kochrezept sinnierend zur Seite. Der Mund war geschlossen, was auf einen Tod erst in den letzten vierundzwanzig Stunden hindeutete – die Kiefermuskulatur stand noch unter Spannung. Vom Brustbereich abwärts schillerte ihr Körper purpurn, und auch um sie herum hatte sich eine große, dunkle Pfütze gebildet. Sie musste nahezu ihr gesamtes Blut verloren haben. Hinter ihr stapelten sich leere Getränkekisten von der Unterwirt Hüttn, der nahe gelegenen Berghütte, die einmal pro Woche über den hier vorbeiführenden Versorgungsweg abtransportiert wurden.
»Das ist ja eine schöne Sauerei«, schimpfte Viktor Kriechnitz von der Abteilung Spurensicherung der Landespolizeidirektion Kärnten, während zwei Kollegen die Fußspuren fotografierten und die Umgebung nach verwertbaren Schnipseln absuchten. Kriechnitz hielt sich dabei auffallend zurück. Wie ein erfahrener italienischer Wirt in seiner Osteria dirigierte er die Untergebenen mit dem Kinn, das immer wieder hervorzuckte und in eine bestimmte Richtung wies. Er war verdammt stolz auf sich, auch beim Anblick einer Leiche den coolen Hund zu mimen. Revierinspektor Volker Feiersinger dagegen blickte betreten, und auch seine Kollegin, Inspektorin Hilde Hofgärtner, schluckte. Kerschbaumer ließ der Anblick ebenfalls nicht kalt. Feiersinger und Hofgärtner waren die beiden Polizeibeamten, die in Bad Kleinkirchheim ein beschauliches Leben führten, das nun auf so dramatische Art unterbrochen worden war.
»Sie hatte ihren Ausweis dabei. Eine Slowenin. Swetlana Kastelic. Einundzwanzig Jahre alt, das arme Ding«, erklärte Inspektorin Hofgärtner. »Sie arbeitete als Putzfrau im Hotel Pulracher.«
»Das heißt Zimmerservice«, verbesserte Revierinspektor Feiersinger.
»Das heißt graduierte Raumkosmetikerin«, schmunzelte Kriechnitz. Seine gute Laune hing so irritierend in der Luft wie WC-Spray. Kerschbaumer blickte ihn scharf an, doch der wütende Blick prallte an einer Mauer aus Arroganz ab und zersprang am Boden in tausend Stücke. Dann sprach Kerschbaumer mit Ernstl, dem Entdecker der Leiche, doch das Kärntnerisch schaffte ihn, und der Skilehrer hatte auch nicht mehr zu sagen als das, was er schon längst zu Protokoll gegeben hatte.
Notgedrungen wandte Kerschbaumer sich also wieder an Kriechnitz. »Schnee. Gut, oder?«, fragte er und deutete auf die Fußspuren, die vom Tatort wegführten und in denen sich ebenfalls Blut fand.
»Ja, vielleicht haben wir Glück und können sogar die Marke der Schuhe ermitteln.« Kriechnitz ordnete Fotos der Spuren an, und die digitalen Kameras klickten ihre monotone Melodie.
Kerschbaumer betrachtete Swetlanas Halbschuhe. »Nicht gerade geeignet zum Wandern, oder?«
»Nein.«
»Was wollte sie hier? Sie hatte doch sicher nicht vor, Pfandflaschen zu klauen.«
»Hmm, nein.« Die Assistenten bekamen ein Kinn von Kriechnitz und erweiterten ihren Radius.
Kerschbaumer blickte die Tote an. »Haben Sie Handschuhe gefunden?«
»Was meinen Sie?«
Kerschbaumer betrachtete die rosa lackierten Fingernägel der Leiche. »Sie trägt eine dicke Daunenjacke und einen mehrfach gewickelten Schal, aber keine Handschuhe. Finden Sie das nicht ungewöhnlich?«
»Hmmm«, machte Kriechnitz.
»Darf ich?«, fragte Kerschbaumer. Kriechnitz gab ihm ein paar Plastikhandschuhe. Damit tastete der Wiener Chefinspektor vorsichtig die teure Jacke ab. Die Handschuhe steckten in den beiden tiefen Außentaschen.
»Na, da haben Sie Ihre Handschuhe«, lächelte Kriechnitz.
Kerschbaumer nickte, aber es kam ihm trotzdem seltsam vor. »Was ist mit ihrem Handy?«
»Bislang noch nix.«
»Sie geht am Abend aus dem Haus und hat ihren Ausweis dabei, aber nicht ihr Handy. Eher ungewöhnlich für eine Einundzwanzigjährige.«
Kriechnitz blickte Kerschbaumer verschlagen an. Augenscheinlich mochte er keine klugen Menschen. »Wir haben ihre Nummer im Hotel erfragt, bereits eine Handyortung beantragt und aufgrund der Dringlichkeit genehmigt bekommen.«
»Und?«
»Leider ohne Ergebnis.«
»Das ist mysteriös.«
»Entweder es ist ausgeschaltet, der Akku ist leer, es liegt in einer Höhle oder es wurde äußerst gründlich und fachmännisch mit einem Hammer zerstört.«
Kerschbaumer erinnerte sich an den Haschischdealerring in Wien, der seine alten Handys stets in kochendes Wasser warf. »Das heißt dann vermutlich, dass es absichtlich, nun ja, entsorgt wurde. Versuchen Sie es mit einer Funkzellenabfrage. Das sollte kein Problem sein.« Mit dieser Abfrage konnten die Ermittler mit etwas Glück den Weg eines Handys über die letzten Tage nachverfolgen.
»Schauen S’ mal hier, wir haben noch etwas gefunden.« Kriechnitz holte ein bereits in Zellophan verpacktes potenzielles Asservat hervor. Es war ein dunkelbrauner Aktenkoffer aus Leder im Börsenmaklerstil der 1980er-Jahre mit vergoldetem Zahlenschloss.
»Offen, leer und nass«, erklärte der Chef der Spurensicherung. »Wir wissen allerdings nicht, ob er etwas mit dem Mord zu tun hat.«
»Wo lag er?«
»Da hinten, unter den beiden Fichten.« Kriechnitz zeigte auf eine Stelle in etwa zwanzig Metern Entfernung vom Tatort.
»Fußspuren?«, fragte Kerschbaumer.
»Nein. Aber er könnte auch dorthin geschleudert worden sein. Lange liegt er jedenfalls noch nicht im Freien.«
»Dann untersuchen Sie ihn mal auf Fingerabdrücke und alles Sonstige.«
»Selbstverständlich.« Kriechnitz verdrehte ungeniert die Augen. Wollte dieser Wiener ihm etwa erklären, wie Ermittlungsarbeit funktioniert?
Über den Waldweg hatte sich inzwischen eine Ambulanz bis auf zweihundert Meter genähert. Die Sanitäter mussten den restlichen Weg zu Fuß zurücklegen, um die Trage heranzubringen. Mit etwas Mühe legten sie den Körper darauf. Und Kerschbaumer fiel dabei auf, dass Swetlana recht groß war, bestimmt an die eins achtzig.
Dann kam ein weiteres Fahrzeug herangefahren, ein Lieferwagen. Auf den Seitentüren stand: »Der flinke Fischer – Denkmal-, Fassaden- und Gebäudereinigungsmeister, Inh. Horst Fischer«.
Auch nach zwanzig Jahren im Beruf und unzähligen Begegnungen zuckte Kerschbaumer immer noch zusammen, wenn diese Menschen mit Kriminalfällen zu schaffen hatten. In Österreich durften ausgebildete Denkmal-, Fassaden- und Gebäudereiniger mit Meisterbrief nämlich auch Tatorte reinigen.
»Wir brauchen hier noch eine Weile«, rief Kriechnitz, als sich der Fahrer näherte.
»Ich hab Zeit, die Arbeit läuft ja nicht weg«, entgegnete Inh. Horst Fischer fröhlich, ging zum Wagen zurück und öffnete die Hintertüren, um erste Gerätschaften hervorzuholen.
»Bis wann können wir mit den Ergebnissen rechnen?«, fragte Kerschbaumer.
»Die Todesursache kann ich Ihnen auch sofort sagen«, schmunzelte Kriechnitz, der verfluchte Spaßbolzen.