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2.2.4 Der Konstruktivismus

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Der Konstruktivismus hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu einer der führenden Theorieschulen im Bereich der internationalen Beziehungen entwickelt, wobei diese eine Vielzahl von Ansätzen umfasst. Kritisch wird vor allem der Prozess der Erkenntnisgewinnung betrachtet: „Die konstruktivistische These besagt, dass die Realität, mit der sich Wissenschaft beschäftigt, nicht objektiv gegeben, sondern kognitiv erzeugt ist.“ (Jensen 1999, S.89) Realität erscheint demnach erst in der Theorie: Erst die Deutung der Beobachtung bringt Realität hervor. Eine objektive Wirklichkeit kann es somit selbst in der Naturwissenschaft nicht geben, da die Gegenstände, mit denen diese sich befasst, nur innerhalb ihrer Beobachtung erscheinen und nicht außerhalb von ihr. Auf die individuellen Menschen bezogen heißt dies, dass das, was sie als Wirklichkeit wahrnehmen, wenn sie darüber reflektieren, nicht einfach gegeben ist. Vielmehr handelt es sich bei dieser Wirklichkeit lediglich um einen Begriff, den der Mensch innerhalb der eigenen Kultur verwendet, um den persönlichen Lebensraum zu bezeichnen.

Eine der führenden Vertreter des Sozialkonstruktivismus in den internationalen Beziehungen ist Alexander Wendt. Der wesentliche Punkt, in dem sich Wendt von den rationalistischen Annahmen früherer Theorieschulen abhebt, ist das Akteursverständnis. Sowohl Neorealismus als auch Neoliberalismus gehen davon aus, dass die Staaten Interessen haben, die durch die anarchische Struktur des Staatensystems kausal bedingt sind. Wendt hält dagegen, dass Selbsthilfe und Machtpolitik sich weder logisch noch kausal aus dem Zustand der Anarchie ergeben. Wenn das Staatensystem heute dennoch von diesen beiden Faktoren geprägt ist, so ist dies nicht strukturell, sondern prozessual bedingt: „Anarchy is what states make of it.“ (Wendt 1992, S.395) Wenn Identität und zentrale Interessen eines Staates also nicht von vornherein unverrückbar gegeben sind, wovon vor allem der Realismus ausgeht, dann lässt dies die Möglichkeit zu, dass diese als Variablen durch Interaktion verändert werden: „Constructivist optimists assume that what is, need not always be“. (Mercer 1995, S.229)

Von der Interaktion zwischen den Staaten hängt es ab, ob sich die soziale Identität der Akteure auf das Primat des Eigeninteresses beschränkt oder ob die Entwicklung eines kollektiven Interesses möglich ist. Die Chancen für Letzteres wachsen in dem Ausmaß, in dem sich Staaten mit dem Schicksal anderer Staaten identifizieren. (Wendt 1994, S.386) Eine solche positive Identifikation kann ein Gemeinschaftsgefühl, Solidarität und Loyalität hervorbringen und ein Handeln jenseits strenger Kosten-Nutzen-Rechnung zur Folge haben. Kooperation zwischen Staaten kann so zu einer ständigen gegenseitigen Beeinflussung hinsichtlich der Wahrnehmung der eigenen Identität führen. Normen, Identitäten und Interessen von Staaten sind grundlegende Variablen einer konstruktivistischen Analyse der internationalen Beziehungen.

Mit konstruktivistischen Ansätzen lässt sich also Kooperation – aber auch deren Nichtzustandekommen (Rother 2004) – analysieren und auf Politikfelder wie Migration herunterbrechen. Studien hierzu gibt es bislang aber kaum (für die EU etwa: Koslowski 2000; Sommer 2013), vielleicht auch weil etwa Wendt Staaten weiterhin als zentrale Akteure seiner Analyse verwendet und transnationale Phänomene wie Migration oder Zivilgesellschaft kaum berücksichtigt. Hier besteht noch erhebliches Potential zur Theorieentwicklung, zumal sich Konzepte wie die Herausbildung von kollektiven Identitäten durch Interaktion zwischen dem „Selbst“ und „den Anderen“ in vieler Weise mit Migration und Integration in Verbindung bringen ließen.

Die wohl engsten Verbindungspunkte zwischen konstruktivitischen Ansätzen und Migrationspolitik gibt es beim Konzept der „Versicherheitlichung“ („securitization“). Die Vertreter*innen der Kopenhagener Schule argumentieren, dass Sicherheit keine objektive Kategorie ist, sondern erst im Diskurs konstruiert wird. Die Versicherheitlichung von Migration ist hier eines der offenkundigsten Beispiele, wie sich etwa bei der Konstruktion von Grenzübertritten als Bedrohung (durch Aussagen wie „Die EU muss ihre Außengrenzen schützen“) zeigt (→ 12 Migrationspolitik der Europäischen Union).

Internationale Migrationspolitik

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