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3.1 Historische Entwicklung

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Große Fluchtbewegungen sind keine neue Erscheinung des 21. Jahrhunderts, sondern ein immer wieder kehrendes Phänomen in der Menschheitsgeschichte. Während Flucht in früheren Zeiten vor allem eine Folge von Naturkatastrophen und Ressourcenknappheit war, sind die Fluchtursachen in der jüngeren Vergangenheit vielschichtiger. So waren z.B. während und nach der Reformation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts über eine Million Menschen aufgrund innerchristlicher Religionskriege auf der Flucht. Ab 1665 verließen hunderttausende protestantische Hugenotten das katholische Frankreich aufgrund religiöser Verfolgung. Viele von ihnen siedelten sich in England an, einige auch in Preußen, was ausdrücklich von Friedrich Wilhelm I. im Jahr 1685 befürwortet wurde (Sassen 1996, S.25).

Erst in der Encyclopedia Britannica von 1796 wurde zum ersten Mal der Begriff „refugee“ weitergefasst und bezog sich seitdem auf alle Menschen, die ihr Land aus Not verlassen mussten (Marrus 1985). So wurden z.B. auch zwei Millionen Ir*innen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund großer Kartoffelmissernten und der folgenden Hungersnöte nach Amerika, Australien und Großbritannien auswanderten, als „refugees“ angesehen. Zudem flüchteten auch wohlhabende Menschen, die ihr Heimatland aus politischen Gründen verlassen mussten. Dazu zählten z.B. progressive Intellektuelle, die die autoritären kontinentaleuropäischen Königreiche in Richtung England und Amerika verließen, um sich in den kosmopolitischen Ballungszentren von London oder New York niederzulassen, wo sie ihre politischen Ideen frei artikulieren und verwirklichen konnten, ohne um ihr Leben zu fürchten. Diese Fluchtbewegungen wurden durch die niedergeschlagenen demokratischen Aufstände im Jahr 1848 in Deutschland, Österreich oder Italien zusätzlich forciert (Sassen 1996, S.50).

Weitere größere Fluchtmigrationen in Europa wurden zum Ende des 19. Jahrhunderts angestoßen, als etwa zwischen 1880 und 1914 ca. 2,5 Millionen Juden und Jüdinnen aus Osteuropa in Länder Westeuropas, Nord- und Südamerikas flohen (Bade 2000; Sassen 1996, S.93). Im 20.Jahrhundert wurden Fluchtwanderungen vor allem durch Diktaturen und Kriege ausgelöst. Allein die beiden Weltkriege führten dazu, dass Millionen Menschen weltweit ihre Heimat verloren. In Europa waren vor allem die von den Nazis verfolgten Gruppen in Deutschland und in den von Deutschland besetzten Gebieten betroffen. So haben bis zum Kriegsausbruch im Jahr 1939 z.B. fast 400.000 Jüdinnen und Juden Deutschland und das annektierte Österreich verlassen. Davon sind rund 100.000 in die USA, 60.000 nach Palästina, 40.000 nach Großbritannien und rund 75.000 nach Lateinamerika ausgewandert (Holocaust Encyclopedia 2016). Während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg haben viele Millionen Menschen Europa in Richtung Australien, Kanada, USA und Südamerika verlassen (Castles und Miller 2009, S.191). Auch innerhalb Europas mussten viele Menschen infolge des Krieges fliehen. Die größte Gruppe waren die rund 14 Millionen Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten in das heutige Gebiet Deutschlands.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Richtung der Fluchtmigration dann umgedreht. Westeuropa wurde von einer Ausgangs- zu einer Zielregion für Geflüchtete. Menschen aus Afrika und Asien flohen vor allem vor Kriegen, ethnischen Konflikten, Armut, Hunger und Umweltkatastrophen, Menschen aus Osteuropa vor politischer Unterdrückung in kommunistischen Ländern in die westeuropäischen Länder, wo sie kriegsbedingte Lücken in einer boomenden Wirtschaft füllten. Bis zum Mauerbau im Jahr 1961 flohen zudem etwa 2,6 Millionen Menschen aus der damaligen DDR in die Bundesrepublik Deutschland (Sippel 2009). Während des Kalten Krieges wurde die Asylpolitik der westlichen Länder gegenüber Geflüchteten aus den kommunistischen Ländern dabei als Propaganda gegen den Kommunismus instrumentalisiert, insbesondere nach den Aufständen in Ungarn 1956 und in Prag 1968 (Castles und Miller 2009, S.191).

Auch die verfehlte Kolonialpolitik westlicher Mächte und die Ausbreitung nicht-demokratischer Regime und Militärdiktaturen in Afrika und Asien trugen zu Armut und Unterdrückung und somit zu einer steigenden Fluchtmigration bei (Zolberg et al. 1989). Weltweites Aufsehen erregten die 1,6 Millionen südostasiatischen „Boat People“1, die vor politischer Unterdrückung in ihrem Heimatland nach dem Ende des Vietnamkrieges im Jahr 1975 in Booten über das Südchinesische Meer flüchteten. Die meisten von ihnen kamen aus Vietnam, einige aber auch aus Laos und Kambodscha. Diese „Boat People“ wurden von verschiedenen Staaten aufgenommen, 35.000 von ihnen in Deutschland (Deutsches Rotes Kreuz 2005). Über 250.000 der Geflüchteten starben aber auf der Flucht auf hoher See.

Nach dem Kalten Krieg entstanden neue Konfliktherde. So kam es in den 1990er Jahren in Jugoslawien zu einer Reihe von Konflikten und Kriegen, die auf vielschichtigen ethnischen, religiösen und ökonomischen Auseinandersetzungen basierten. Dies löste die Flucht und Vertreibung von hunderttausenden Menschen aus. Zudem haben vor allem in Afrika und dem Nahen Osten religiöse und ethnische Auseinandersetzungen für große weitere Fluchtmigrationen gesorgt. Aus dem Nahen Osten flohen und fliehen vor allem Menschen aus Syrien und dem Irak, vor religiös-ethnischen Konflikten ebenso wie vor staatlicher Gewalt sowie der islamistischen Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Unter den Geflüchteten sind auch Minderheitengruppen wie Christen, Drusen oder Jesiden. In Afrika fliehen Menschen ebenfalls vor Bürgerkriegen oder, wie in Nigeria, vor radikal-islamischen Terrorgruppen, wie die Boko Haram. Drei Millionen Afghan*innen leben seit Jahrzehnten wegen des Bürgerkriegs in ihrem Land in Pakistan (Wojczewski 2015).

Infolgedessen haben sich in den letzten Jahrzehnten die Geflüchtetenzahlen immer weiter erhöht. Ende 2019 waren weltweit über 33 Millionen Menschen in ein anderes Land geflüchtet. Hinzu kommen noch einmal über 45,7 Millionen Menschen, die innerhalb ihres eigenen Landes geflüchtet sind (sog. Binnenvertriebene, engl. IDPs – „internally displaced persons“). Demnach sind zurzeit 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht (UNHCR 2020). Dies ist die höchste Zahl an Geflüchteten, die jemals offiziell ermittelt wurde.

Abbildung 17:

Die fünf größten Ursprungsländer von Geflüchteten 2019 (in Millionen)

Quelle: UNHCR, Global trends. Forced displacement in 2020.

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