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c) Die Rechtfertigung von Beschränkungen

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Liegt eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten vor, so ist zunächst zu prüfen, inwieweit diese durch die geschriebenen Schrankenregelungen des AEUV gerechtfertigt werden kann. Hierzu gehören Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit. Sie spielen aus verschiedenen Gründen im öffentlichen Wirtschaftsrecht kaum eine Rolle. Die öffentliche Sicherheit umfasst den Schutz vor Bedrohungen und Gefahren für die Existenz des Staates in seinen Grundlagen und Einrichtungen, greift also zB im Zusammenhang mit der Sicherstellung der Energieversorgung[113], nicht aber bei typischen Maßnahmen der Wirtschaftsaufsicht. Außerdem sind die entsprechenden Bestimmungen grundsätzlich eng auszulegen. Die öffentliche Ordnung wird deswegen nicht als weiter ordre public-Vorbehalt verstanden, sondern für solche Gründe, die „herkömmlich als wesentliches Interesse des Staates“ angesehen werden; sie ist nur dann betroffen, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt[114].

Der unionsrechtliche Begriff[115] verlangt die Abwehr konkreter, von dem Betroffenen ausgehender Gefahren[116]. So ließe sich zB die Unterbindung der Gewerbeausübung auf der Grundlage einer Verurteilung wegen Betäubungsmitteldelikten auf die öffentliche Ordnung stützen[117]. Da Anzeige- und Genehmigungserfordernisse wie in Fall 3b (Rn 45) aber lediglich der Abwehr abstrakter Gefahren dienen, lassen sie sich nicht auf die öffentliche Ordnung stützen. Ferner muss ein Mitgliedstaat entsprechende Sachverhalte von Inländern ebenfalls mit empfindlichen Sanktionen ahnden, so dass Sondervorschriften für Ausländer im Ergebnis ausscheiden. Auf diese Rechtfertigungsgründe lassen sich aber auch unterschiedslos wirkende Maßnahmen nur ausnahmsweise stützen (s. aber Rn 50 zur Brennerblockade und Rn 68 zum deutschen Verbot von Laserdromen).

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Um den Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten nicht zu stark einzuschränken, hat der EuGH die strengen geschriebenen Rechtfertigungsgründe durch die flexibleren „zwingenden Erfordernisse“ als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe ergänzt[118]. Ausgangspunkt war die Cassis-Entscheidung[119]. In der Rechtssache Gebhard hat der EuGH diesen Prüfungsaufbau für die Einschränkungen von Grundfreiheiten zusammengefasst[120]:

Die Maßnahme muss in nichtdiskriminierender Weise angewendet werden, es darf sich also weder um eine offene noch eine versteckte Diskriminierung handeln.
Für eine Maßnahme gleicher Wirkung müssen zwingende Gründe des Allgemeinwohls vorliegen, was immer dann zu bejahen ist, wenn die Maßnahme unionsrechtlich anerkannten Belangen zu dienen bestimmt ist (sog. Cassis-Formel).
Die Maßnahme muss geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten.
Die Maßnahme darf nicht über das hinausgehen, was zur Zweckerreichung erforderlich ist.

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Bereits die Formulierung der Cassis-Entscheidung ließ erkennen, dass es keinen abschließenden Katalog der Rechtfertigungsgründe gibt. Sie speisen sich im Ergebnis aus drei Quellen: Zum einen beziehen sie ihre Legitimation aus der Anerkennung in den Unionspolitiken und dem sonstigen Primärrecht, zum zweiten aus der Anerkennung im Sekundärrecht und außerdem in gewissem Umfang aus dem nationalen Recht (s. auch Art. 6 Abs. 3 EUV zur Rücksicht auf die besonderen Traditionen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen). Mit Ausnahme wirtschaftlich protektionistischer Zielsetzungen können daher sehr unterschiedliche Allgemeinwohlbelange verfolgt werden; selbst die Bekämpfung der missbräuchlichen Ausnutzung von Grundfreiheiten kann als Rechtfertigungsgrund genügen[121].

Primärrechtlich anerkannte Belange, die einen Eingriff in die Grundfreiheiten rechtfertigen können, sind daher beispielsweise der Verbraucherschutz (Art. 12, 169 AEUV) und der Umweltschutz (vgl Art. 11, 114 Abs. 4 AEUV)[122], Ziele der Kulturpolitik (Art. 167 AEUV)[123] und die Gewährleistung der Daseinsvorsorge[124]. Der EuGH hat insbes Art. 106 Abs. 2 AEUV auch bei der Prüfung der Grundfreiheiten als Rechtfertigungsgrund herangezogen[125]. Auch sekundärrechtlich anerkannte Gemeinwohlbelange können als Rechtfertigungsgrund fungieren[126]. Vor allem dort, wo sekundärrechtliche Regelungen fehlen[127], hat der EuGH aber auch auf nationale Beweggründe abgestellt, etwa die Bekämpfung des Glücksspiels und die dahinter stehenden sittlichen, religiösen und kulturellen Erwägungen des einzelnen Mitgliedstaats (ausf dazu unten Rn 67 ff). Allerdings können nur solche Gründe Beschränkungen rechtfertigen, als den europäischen Grundrechten Genüge getan wird[128].

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Als Korrektiv zur großzügigen Anerkennung von Rechtfertigungsgründen fungiert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit[129]. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, insbesondere von Residenz-, Erlaubnis- und Registrierungspflichten, bezieht der EuGH die Regelungen des Herkunftslandes ein und gelangt so zu einem Verbot der Doppelkontrolle[130]: Entweder genügt bereits eine (als gleichwertig anzusehende) Herkunftslandaufsicht, oder es sind jedenfalls materiell ausländische Befähigungsnachweise etc anzuerkennen. Die meisten Fälle werden mittlerweile allerdings von der Dienstleistungs- bzw der Berufsanerkennungsrichtlinie erfasst, deren Regelungen aber auf den vom EuGH entwickelten Prinzipien beruhen[131] (zu Ausnahmen s. unten Rn 238).

Eine entscheidende Funktion der die Grundfreiheiten konkretisierenden Richtlinien, insbesondere der Berufsanerkennungs- und DienstleistungsRL, aber auch der neuen VerhältnismäßigkeitsRL (s. schon Rn 38) besteht zunächst in der Systematisierung dieser Anforderungen. Unverhältnismäßige Maßnahmen werden zu „schwarzen Listen“ zusammengefasst, es wird aber auch das Verhältnis zwischen präventiven und nachträglichen Kontrollen abweichend von den gewerberechtlichen Maßstäben konkretisiert; Art. 9 Abs. 1 lit c unterwirft etwa die präventive Zuverlässigkeitsprüfung einem erheblichen Rechtfertigungsdruck[132]. Kritisch sieht der EuGH insbesondere Werbeverbote[133] und staatliche Preisregulierungen[134]. Es ist außerdem geklärt, dass die Anforderungen dieser Richtlinien nicht an den Grundfreiheiten gemessen werden können, der Unionsgesetzgeber also mit anderen Worten berechtigt ist, die mitgliedstaatlichen Spielräume stärker zu beschneiden als dies am Maßstab der Grundfreiheiten der Fall ist[135]. Damit könnten sich die primär- und sekundärrechtlichen Maßstäbe auseinander entwickeln; allerdings kann man dies auch als „judicial self restraint“ interpretieren: der EuGH hält sich aus Respekt vor den Entscheidungsspielräumen der Mitgliedstaaten (zu diesen näher Rn 67) im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung stärker zurück, als dies der EU-Gesetzgeber zu machen hat.

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