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e) Nationale Spielräume und Kohärenzgebot

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Bei der Prüfung aller Grundfreiheiten stellt sich eine Frage, die aus dem nationalen Verfassungsrecht vertraut ist, in Europa aber eine besondere Dimension gewinnt. Es geht darum, inwieweit sozial unerwünschte bzw verbotene Tätigkeiten wie die Veranstaltung von Glücksspielen, die Ausübung der Prostitution oder gewaltverherrlichende Unterhaltungsangebote in den Schutzbereich der Marktfreiheiten einzubeziehen sind oder ihnen jedenfalls öffentliche Interessen bei der Schrankenprüfung entgegengehalten werden können. Entscheidend ist vor allem, wessen Wertmaßstäbe zugrundezulegen sind. So macht es durchaus einen Unterschied, ob man beispielsweise bei Wettveranstaltungen oder der Ausübung der Prostitution auf das Werturteil des konkret betroffenen Mitgliedstaates oder auf unionsweite Maßstäbe abstellt. Letzteres könnte leicht dazu führen, dass nationale Ordnungsvorstellungen nivelliert und durch einen europäischen Minimalkonsens ersetzt werden, da unionsweit einheitliche Rechtsüberzeugungen, die ein Verhalten in sämtlichen Mitgliedstaaten verbieten, jenseits der unproblematischen Fälle von Berufskillern und Drogenkurieren[143] selten gegeben sein werden. Allgemein stellt sich die Frage, inwieweit die Prüfung anhand der Marktfreiheiten Raum für mitgliedstaatliche Besonderheiten und unterschiedliche Rechtsüberzeugungen bietet, auch wenn sie den Gemeinsamen Markt behindern. Dies lässt der EuGH in weitem Umfang zu.

Danach haben die Mitgliedstaaten eine erhebliche Einschätzungsprärogative bei der Beurteilung der Frage, inwieweit bestimmte nationale Regelungen zum Erreichen der Ziele geeignet und erforderlich sind[144]. Aber auch bei der Ausfüllung der unbestimmten Rechtsbegriffe der geschriebenen Rechtfertigungsgründe, vor allem dem Begriff der öffentlichen Ordnung (s. Rn 61) erkennt der EuGH ausdrücklich an, dass „die konkreten Umstände, die möglicherweise die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung rechtfertigen, von Land zu Land und im zeitlichen Wechsel verschieden sein“ können und billigt insoweit den innerstaatlichen Behörden einen Beurteilungsspielraum zu[145]. Im Zusammenhang mit der öffentlichen Sicherheit akzeptierte es der EuGH in einem Fall zur Warenverkehrsfreiheit, dass auch die Sicherstellung der Versorgung mit Erdölerzeugnissen für den Staat ein Ziel der öffentlichen Sicherheit darstellen kann, weil „nicht nur das Funktionieren seiner Wirtschaft, sondern vor allem auch das seiner Einrichtungen und seiner wichtigen öffentlichen Dienste und selbst das Überleben seiner Bevölkerung von ihnen abhängen“[146]. Besondere Bedeutung erlangte das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit im Kontext der Kapitalverkehrsfreiheit; auch dort bleibt nach der Rechtsprechung Raum für die nationalen Ordnungsinteressen (s. unten Rn 86). Der EuGH sah aber auch in den Richtlinien zum Energiebinnenmarkt keine abschließende Regelung, die eine nationale Förderung erneuerbarer Energien ausschlösse[147].

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Fall 5 (Rn 47):

Da das Verbot der Spiele in jedem Fall einen Eingriff in die Grundfreiheiten darstellt (zu den Abgrenzungsfragen Rn 65), kam es entscheidend darauf an, inwieweit der EuGH die keineswegs zwangsläufige Einschätzung akzeptiert, dass Laserdrome gegen die Menschenwürde verstoßen. Bereits in den Prostitutionsfällen hat der EuGH darauf hingewiesen, dass es nicht seine Aufgabe sei, „die Beurteilung der Gesetzgeber der Mitgliedstaaten, in denen eine angeblich unsittliche Tätigkeit rechtmäßig ausgeübt wird, durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen“. Auch im Laserdrom-Fall betonte er deswegen den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten und die auch für das Unionsrecht selbstverständliche Heranziehung der Menschenwürde als Rechtfertigungsgrund. Es wird allerdings nicht klar, ob hier auf unionale oder nationale Maßstäbe abgestellt wird[148]. Letzteres dürfte der Fall sein, da der EuGH zwar darauf verweist, dass (auch) das Unionsrecht die Menschenwürde schütze, aber gerade nicht prüft, ob in solchen Spielen nach unionsrechtlichen Maßstäben auch tatsächlich ein Menschenwürdeverstoß zu sehen ist. Nachdem auch die deutsche Rechtsprechung in anderem Kontext den Menschenwürdeverstoß verneint, könnte man freilich auch unionsrechtlich die Frage einer Kohärenz der deutschen Maßstäbe aufwerfen[149].

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Andererseits sind die Anforderungen des EuGH an Transparenz und Folgerichtigkeit der mitgliedstaatlichen Regelungen insbesondere dort sehr hoch, wo er solche Spielräume zunächst anerkennt (zu den Parallelen in der Judikatur des BVerfG Rn 121). Der EuGH prüft die Argumentation der Mitgliedstaaten auf Kohärenz und Stichhaltigkeit[150].

So musste sich die Bundesregierung, die vor dem EuGH auf die vermeintlichen Gesundheitsgefahren von Sojawurst hingewiesen hatte, ihren eigenen Ernährungsbericht entgegenhalten lassen, der eine zu fettreiche Ernährung beklagte[151]. Am deutlichsten zeigte sich der Zusammenhang zwischen Anerkennung von Spielräumen und Kohärenzgebot im Glücksspielrecht. Im Grundsatz haben die Mitgliedstaaten zwar einen erheblichen Einschätzungsspielraum, auf welche Weise sie die Spielsucht und die sonstigen vom Glücksspiel ausgehenden Gefahren eindämmen wollen; insbesondere können sie diese gänzlich verbieten[152]. Sofern allerdings Glücksspiele teilweise erlaubt werden, untersucht der EuGH sehr genau die Motive des Gesetzgebers und die Kohärenz ihrer Umsetzung: Die Beschränkung muss die Verwirklichung des verfolgten Zieles gewährleisten, dh sie muss auch tatsächlich zur Begrenzung der Wetttätigkeit beitragen[153]. Damit gelangte der EuGH im Ergebnis regelmäßig zur Unionsrechtswidrigkeit staatlicher Monopole, die das Ziel einer Bekämpfung des Glücksspiels nicht konsequent verfolgten[154]. Zuletzt beschäftigte er sich vor allem mit der Kohärenz im Bereich des Online-Glückspiels[155]. Grundsätzlich nimmt der EuGH die gesamte nationale Rechtsordnung in den Blick, lässt aber unterschiedliche Regelungen im Bundesstaat zu[156] (s. zum Spielrecht unten Rn 169). Einen aktuellen Anwendungsfall fand der Kohärenzgedanke im Zusammenhang mit den Architektenhonoraren; ein entscheidendes Argument gegen die Unionsrechtskonformität der entsprechenden Honorarordnung sah der EuGH darin, dass auch Berufsfremde entsprechende Leistungen erbringen dürfen, ohne an die HOAI gebunden zu sein[157]. Der Grad der Substantiierungspflicht hängt dabei von der Intensität des Eingriffes ab[158].

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Von der Frage nationaler Beurteilungsspielräume zu unterscheiden sind die Anforderungen an die Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen. Die Frage, inwieweit eine Maßnahme ausländische Angebote diskriminiert, überlässt der EuGH in tatsächlicher Hinsicht der Überprüfung der mitgliedstaatlichen Gerichte[159]. Allerdings dürfen diese sich nicht auf bloße Vermutungen oder Behauptungen stützen[160], sondern müssen wissenschaftliche Erkenntnisse und anerkannte Standards zugrunde legen. So prüfte er auch im Glückspielrecht die Wertentscheidungen des Gesetzgebers an den tatsächlichen Verhältnissen[161]. In jüngeren Entscheidungen hat der EuGH allerdings die Anforderungen an die Darlegungslast des Gesetzgebers konkretisiert und verschärft[162].

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