Читать книгу Paradoxe Gerechtigkeit - Stefanie Hauck - Страница 11

Teil 1 – Kapitel 8

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Jerry war bester Laune, denn ein äußerst erfolgreicher Tag lag hinter ihm. Er hatte heute ein schönes Sümmchen verdient, weil ausgesprochen viele Leute bei ihm Boote gemietet hatten.

Jetzt am späten Nachmittag hatte er es sich in seiner Hängematte im Schatten gemütlich gemacht. Er schaukelte wie ein kleiner Junge hin und her und zählte die Geldscheine, um sie anschließend hochzufrieden in seine Hosentasche zu stecken. Was für ein Gefühl, sich auf den Früchten seiner Arbeit auszuruhen!

Jerry döste ein bisschen und schlief schließlich ein. Als er erwachte, senkte sich schon die Sonne.

Heute mache ich nichts mehr, entschied er sich, es wird schon bald dunkel. Diese blöden Amerikaner würden wahrscheinlich jetzt erst richtig durchstarten und zu allen möglichen Meetings rennen. Der ganze Tag ist durchgeplant. Time is money. Diese Workoholics machen womöglich noch einen Termin dafür, wann sie das Leben genießen wollen, frei nach dem Motto: Morgen zwischen 14.30 Uhr und 16.00 Uhr Leben genießen. So ein Irrsinn.

Weil Jerry keine Motivation zum Arbeiten mehr verspürte, blieb er einfach in der Hängematte liegen und überlegte, was er heute Abend anstellen könnte. Vielleicht in der örtlichen Bar ein paar Mädels aufreißen. Oder mit Eugenio oder anderen Freunden einen trinken. Oder beides. Das eine schloss das andere ja nicht aus.

Ganz in Gedanken versunken blickte er über’s Meer, dessen Wellen sich sanft am Strand kräuselten. Die tiefstehende Sonne färbte das Wasser in allen Farben von sonnengelb bis weinrot. Die kleinen weißen Schaumkronen auf den Wellen blinkten wie eine Kette von Diamanten. Und im Hintergrund sah er die dunklen Silhouetten der Palmen und anderen Bäume.

Schön ist es hier, dachte Jerry, ich möchte nie mehr zurück in die Staaten. Wenn ich da an New York denke, laut, miefig, hektisch, dann frage ich mich, wie ich es so lange dort ausgehalten habe. Und erst diese elende Kälte im Winter. Und die furchtbare Hitze in den Straßenschluchten im Sommer. Nein danke, das ist die beste Entscheidung meines Lebens gewesen, hierher zu kommen und an diesem Strand zu leben. Und vor allem gibt es hier keinen Dr. Thomas McNamara. Der ist weit weg und quält in muffigen Gerichtssälen irgendwelche armen Sünder, die vor ihm zusammenzucken wie das Kaninchen vor der Schlange. Ob Thomas im tiefsten Inneren ein Sadist ist, dass ihm das so viel Spaß macht, andere Leute ins Gefängnis zu bringen? Könnte sein! Nur jemand, der sadistisch veranlagt ist, kann so viel Gefallen daran finden, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr mit seiner Besserwisserei andere Menschen an den Rand des Wahnsinns zu treiben.

Jerry schüttelte sich unwillkürlich bei dem Gedanken an seinen Bruder.

Nur gut, dass ich den schon lange nicht mehr gesehen habe und auch in den nächsten Jahrzehnten nicht sehen werde, dachte er. Die Karibik ist nichts für Thomas, viel zu lebenslustig für einen knochentrockenen Spießer wie den. Bei Thomas muss alles immer ganz gesittet zugehen. Wahrscheinlich macht der sogar Sex nach Gebrauchsanleitung.

Jerry konnte sich nicht vorstellen, dass sein Bruder mal in eine Situation geraten könnte, in der er sich total gehen ließ.

Gut, dass dieses Verhalten nicht erblich ist, dachte er, aber es tut bestimmt weh. Wahrscheinlich schluckt er den ganzen Tag Schmerztabletten, um es ertragen zu können. Vielleicht ist er deshalb auch so verbiestert. Egal, verschwende bloß nicht noch mehr Gedanken an diesen Besserwisser, Jerry. Er ist zum Glück weit, weit weg.

Gerade in dem Moment, als sich Jerry entschlossen hatte, nicht mehr an seinen Bruder zu denken und sich genüsslich in die Hängematte kuschelte, sah er einen Mann am Strand entlang auf ihn zukommen. Aufgrund der untergehenden Sonne konnte er ihn erst nicht gut erkennen.

“Bist du das, Eugenio?”, meinte er fragend in die Richtung des Besuchers und kniff die Augen zusammen. Dann aber fuhr er wie von der Tarantel gestochen hoch und rieb sich die Augen. Das war eine Fata Morgana, hoffentlich war es eine! Er hatte doch im Schatten geschlafen, sonst hätte er auf Sonnenstich getippt.

Das ist ein Alptraum, dachte Jerry, ich schlafe wohl noch. Gott im Himmel, mach, dass ich nur was an den Augen habe oder lass mich aufwachen. Ich hätte nicht an diesen Besserwisser denken sollen, dann bricht das Unglück automatisch über mich herein.

Aber jetzt stand der Mann auch schon vor ihm und meinte: “Hallo Jeremiah. Ich hoffe, es kommt dir nicht ungelegen, dass ich dich besuche?!”

Vor ihm stand in voller Lebensgröße sein Bruder, Dr. Thomas McNamara.

Jerry wäre fast aus der Hängematte gefallen. Für einen Moment machte er den Mund nur auf und zu wie ein Fisch. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wie kam sein Bruder hierher? Warum konnte er ihn noch nicht einmal hier in Ruhe lassen? Natürlich kam es ihm ungelegen, dass er ihn besuchte. Was sollte der blöde Spruch.

Nachdem sich Jerry von dem Schrecken erholt hatte, knurrte er Thomas an: “Natürlich kommt es mir ungelegen, dass du mich besuchst. Ich denke, ich hatte mich klar ausgedrückt, als ich sagte, dass ich jetzt weggehe und du mir dorthin nicht folgen sollst und dass ich dich vor allem nie wiedersehen will!”

Auch wenn Thomas seinen Bruder am liebsten zusammengestaucht hätte wegen dieser abweisenden Worte, so wunderte es ihn in gewisser Weise noch nicht einmal, dass Jerry ihn derart angefaucht hatte. Schließ­lich hatte er sich dieses erste Wiedersehen genauso vorgestellt. Ferner hatte er auch nicht vorgehabt, es wirklich nochmal mit Jeremiah zu versuchen, sondern er hätte Jerrys abweisende Haltung als Vorwand genommen, um zu behaupten, dass der Bruder unversöhnlich sei. Dann hätte er sich sein Lebtag nicht mehr um ihn zu scheren brauchen, und niemand hätte ihm vorhalten können, er habe es nicht versucht, eine Einigung herbeizuführen.

Weil Thomas auf Jerrys patzige Bemerkung nichts zu sagen wusste und irgendwie wie betäubt dastand, wurde Jerry unruhig. Zumindest aber war er erstaunt, dass Dr. Besserwisser nicht direkt eine passende Antwort parat hatte. Normalerweise hätte der Richter ihn nämlich mindestens genauso frech zurück angeknurrt. Deshalb sprach Jerry seinen Bruder mit schiefgelegtem Kopf nochmal an.

“Tom”, meinte er, “Tom, bist du das wirklich?!”

Das Stichwort “Tom” löste die Starre des älteren Bruders.

“Ja, ich bin es wirklich, Jeremiah”, murrte er, “und ich bin genauso ungehalten wie früher, wenn du mich nicht vernünftig mit meinem richtigen Namen anredest, sondern diese elende Abkürzung benutzt.”

“Na, dann bin ich aber beruhigt”, hielt Jerry grinsend dagegen, “ich dachte schon, du wärst nur ein Geist, und ich hätte eine Halluzination. Wie schön, dass mit mir gesundheitlich alles in Ordnung ist.”

Thomas verzog nur den Mund, sagte aber nichts. Es entstand eine Pause. Keiner der beiden wusste so richtig, was er sagen sollte. Schließ­lich ergriff Jerry das Wort.

“Da du es nun schon mal wirklich bist, mein Herr Bruder Tom”, begann er, “wüsste ich doch ganz gern, warum du hier aufgetaucht bist und dazu noch so plötzlich.”

Thomas kochte zwar innerlich, aber riss sich sehr zusammen, denn von Jeremiahs Unterstützung hing im Moment alles ab.

“Nun”, erwiderte er zögerlich, “ich... ich wollte mich mit dir versöhnen...”

Weiter kam er nicht, weil Jerry ihm dazwischen fuhr.

“Du wolltest was?!”

“Ich wollte mich mit dir versöhnen”, entgegnete Thomas fast schon kleinlaut.

Jerry schüttelte den Kopf, erhob sich aus der Hängematte und kam einige Schritte auf seinen großen Bruder zu.

“Und woher rührt dieser erstaunliche Sinneswandel?”

“Ich... nun ja, ich habe ein schlechtes Gewissen bekommen...”

“Ein schlechtes Gewissen?! Weshalb?!”

“Wegen unseres dummen Streits von damals.”

Jerrys sah Thomas an, als könnte er es nicht fassen. Aber dann verzog er sein Gesicht zu dem schönsten Grinsen.

“Du hast ein schlechtes Gewissen bekommen”, meinte er lä­chelnd, “Tom, du bist einfach unglaublich. Vielleicht sollte man dreistes Lügen in den Katalog der Todsünden aufnehmen, dann würdest du nämlich mit Sicherheit in der Hölle landen. Ein schlechtes Gewissen hat der Dr. Besserwisser bekommen. Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Vergiss es, Tom, du kannst vielleicht deinen Leuten in New York einen Bären aufbinden, aber nicht mir. Du und ein schlechtes Gewissen bekommen? Eher konvertiert der Papst zum Islam.”

“Das ist nicht komisch, Jeremiah!”, entgegnete Thomas und wurde jetzt doch ein bisschen knurrig, “warum glaubst du mir nicht, dass ich mit dir über die Sache von damals reden will?!”

“Weil es gar nichts bringen würde”, hielt Jerry dagegen, “es wäre reine Zeitverschwendung. Oder hast du etwa die Spielregeln vergessen? Dr. Thomas McNamara hat immer Recht. Nee danke, das muss ich nicht nochmal haben. Und wieso redest du von der Sache? Es gab nicht nur eine Sache, es gab Hunderte von Sachen. Selbst wenn wir die Spielregeln ändern und du mal nicht Recht haben solltest, säßen wir bis in alle Ewigkeit hier, weil es so viel zu besprechen gibt. Und dafür ist mir meine Zeit zu schade. Also verschwinde und lass dich nie wieder hier blicken.”

Damit wandte sich Jerry ab und ging hinüber zu seinen Booten.

“Jeremiah”, rief Thomas hinter ihm her, “wenn du schon mir nicht glaubst, dann frag doch Tante Laetitia, der glaubst du doch oder? Und wenn dich das nicht überzeugt, kannst du auch Martha und Sophie anrufen. Ich gebe dir die Nummer. Und Philip, mein Kollege, kann es dir auch bestätigen.”

Jerry war ziemlich erstaunt über diese Aussage und fuhr herum.

“Ist das ein Komplott oder was? Auf einmal können mir ganz viele Leute bescheinigen, dass du es ehrlich meinst. Wie seltsam.”

“Jerry, bitte...”

“Oh, Dr. Besserwisser hat registriert, dass man meinen elenden Vornamen abkürzen kann. Und ich wette, du hast dich erinnert, dass ich diese Anrede lieber mag als Jeremiah.”

“Jerry, wenn du weder mir noch den anderen glauben willst, dass ich es ernst meine, dann betrachte mich doch bitte einfach nur als einen Kunden.”

“Darüber könnte ich nachdenken.”

Thomas atmete erleichtert auf.

“Dir scheint es ja sehr wichtig zu sein”, schnaufte Jerry, “okay, mein Herr Kunde, was kann ich denn für dich tun?”

“Ich würde mir gern mal ein paar Inseln hier vor der Küste ansehen.”

“Hast du da eine konkrete Vorstellung?”

“Nein, schlag mir doch mal was vor.”

“Na, es gibt da die Isla de Margarita, die liegt in westlicher Richtung und die Insel Trinidad, die liegt vor der Ostküste Venezuelas. Allerdings musst du dann einen Reisepass dabei haben, weil das ein selbstständiger Staat ist. Die lassen da nicht jeden einfach so rein.”

Das ist ja wunderbar, dachte Thomas hocherfreut. Ja, das ist einfach wunderbar. Jeremiah soll mich nach Trinidad übersetzen, dann ist es schon wesentlich einfacher, wieder zurück in die Staaten zu kommen. Wenn er mich irgendwo an Land lässt, wo ich unauffällig in einen Ort gelangen und telefonieren kann, werde ich Philip anrufen und ihm alles erklären. Der soll mir anschließend eine Sondergenehmigung besorgen, dass ich auch ohne Pass nach Hause kommen kann. Denn von Venezuela aus anzurufen, das ist mir zu heiß. Nicht, dass meine Gegner dadurch irgendwas über meinen Aufenthaltsort erfahren.

“Okay, ich denke, Trinidad ist mir lieber”, bemerkte er, “Isla de Margarita klingt so nach Alkohol, und du weißt ja, dass der nicht so mein Ding ist.”

“Fein”, entgegnete Jerry, “dann sehen wir uns morgen. Und bring das Geld mit, und zwar 500 Dollar. Ich erwarte dich um 8.00 Uhr, dann kannst du noch im Hotel frühstücken. Bis morgen, mein Kunde!”

“Wie, du fährst mich nicht jetzt gleich rüber?!”, entgegnete Thomas verdutzt.

“Nein”, erwiderte Jerry, “morgen ist auch noch ein Tag.”

“Aber ich muss heute noch nach Trinidad. Es ist sehr dringend!”

“Bei dir war stets alles sehr dringend, Tom”, meinte Jerry, “dein ganzes Leben ist dringend und hat absoluten Vorrang. Aber hier gehen die Uhren anders. Komm morgen wieder. 8.00 Uhr, wie ich schon sagte. Und bring das Geld mit. Selbst im Paradies braucht man ein bisschen Kleingeld. Ich habe auch Kosten.”

“Ich glaube, du hast mich nicht verstanden, Jeremiah”, meinte Thomas verzweifelt, “ich muss heute Abend noch nach Trinidad übersetzen!”

“Und ich glaube, dass du mich nicht verstanden hast, Dr. Besserwisser!”, hielt Jerry dagegen, “ich kann dich heute Abend nicht übersetzen, weil...”

“Warum nicht?! Ist das jetzt so eine Art verspätete Rache?”

“Jetzt hör mir mal gut zu, Dr. Besserwisser. Ich bin nicht James Bond, und du bist nicht Indiana Jones! Nur ein Wahnsinniger würde abends so eine Strecke in einem Boot wie den meinen über’s Meer fahren. Dafür ist die Strecke einfach zu lang, es würde Nacht darüber werden. Im Film machen sie das vielleicht, aber nicht in der Wirklichkeit. Ich habe keine Lust, meinen Kopf für einen Wahnsinnstrip hinzuhalten, dafür lebe ich zu gerne. Um deinen Kopf wäre es allerdings nicht schade!”

“Scheiße!”

“Tja, das ist wirklich Scheiße, wenn es mal nicht nach deinem Willen geht. Aber eigentlich ist es auch wieder nicht Scheiße, dass es in diesem Falle anders geht, als du möchtest. Wenn ich dir nämlich jetzt ein Boot geben und dich losfahren lassen würde, dann kämst du bestimmt um. Das Geld für die Fahrt würde ich natürlich vorher kassieren. Dann wäre ich dich für immer und ganz bestimmt losgeworden.”

Und mehr zu sich selbst meinte er: “Warum habe ich das eigentlich nicht gemacht?! Wieso bin ich so sentimental?! Na, ich habe halt ein gutes Herz.”

“Okay, sorry, tut mir leid”, lenkte Thomas ein, “das habe ich nicht gewusst.”

“War mir klar”, murrte Jerry, “dass du dich allerdings entschuldigst, das wundert mich jetzt echt. Ist ‘ne ganz neue Seite an dir.”

“Also glaubst du mir jetzt das mit der Versöhnung doch?”

“Nicht so ganz. Aber zum Glück gehst du mir schon mal nicht sofort an die Gurgel.”

Es entstand eine Pause. Jerry hatte das Gefühl, als wenn Thomas noch irgendwas auf dem Herzen hatte.

“Ist noch was?”, horchte er nach.

Thomas wand sich ein bisschen. Jetzt kam ein schwieriger Punkt. Wenn er schon über Nacht bleiben musste, brauchte er auch ein Quartier. Ins Hotel wollte er nicht gehen, weil man dort seine Personalien angeben musste, und dann würde man ihn bestimmt sehr schnell finden. Am besten wäre es daher gewesen, wenn er hier bei Jeremiah übernachten konnte. Aber der würde ihm wahrscheinlich was husten.

“Hör mal, es gibt da noch ein Problem”, pirschte er sich ran, “ich hatte unterwegs eine Autopanne und bin die restliche Strecke bis hierher mit dem Bus gefahren. Ich dachte, wenn wir uns aussprechen, nun ja, dass es länger dauern könnte, vielleicht würdest du mich ja auch bei dir übernachten lassen, dann könnten wir noch bis in den Abend rein reden. Ich wohne allerdings in Cumaná in einem Hotel, und dann kann ich morgen früh unmöglich um 8.00 Uhr hier sein. Da ich aber annehme, dass es wenig Sinn macht, später aufzubrechen... könntest du eventuell doch... ich meine, mich bei dir übernachten lassen...”

Thomas sah seinen Bruder flehend an.

Jerry fiel alles aus dem Gesicht.

“Das ist nicht dein Ernst...”

“Doch, ich weiß, es ist viel verlangt...”

“Ich glaube, ich rufe jetzt doch besser mal Tante Laetitia an”, murrte Jerry, “das ist mir alles nicht koscher. Wenn sie mir sagt, dass diese Versöhnungsnummer stimmt, dann kannst du hierbleiben. Ansonsten schmeiß ich dich raus. Und ich schwöre dir, ich werd’ dir Beine machen!”

“Oh, Jerry, hab vielen Dank”, entgegnete Thomas wirklich erleichtert.

“Na, freu dich mal nicht zu früh”, hielt Jerry dagegen und angelte aus seiner Gesäßtasche sein Handy. Allerdings stellte er fest, dass er gerade kein Netz hatte.

“Mist”, zischte er vor sich hin, “immer, wenn man es eilig hat, funktioniert irgendwas nicht.”

Und zu Thomas gewandt fügte er hinzu: “Ich gehe jetzt zu José zum Telefonieren, weil ich kein Netz habe. Meinetwegen kannst du hier so lange warten. Aber tu mir einen Gefallen und verwanz’ nicht mein trautes Heim.”

“Haha, sehr witzig.”

“Tom? Wirst du schon wieder frech?”

Jerry sah ihn lauernd von der Seite an.

“Nein, aber ich fand diesen Witz einfach blöd”, rechtfertigte sich Thomas.

“Na, bei deinem Kontrollwahn ist das kein Witz, sondern eher Vorsorge. Okay, ich gehe jetzt in den Ort. Wenn du willst, nehm’ dir ein Bier aus dem Kühl­schrank... obwohl, halt, du trinkst ja keinen Alkohol, hätte ich beinahe vergessen. War aber nicht bös gemeint. Ansonsten steht da noch eine Cola. Die hat zwar kaum noch Kohlensäure, aber immer noch besser als Wasser aus der Leitung, weil man das nicht trinken darf.”

“Ja, danke, ich schau mal nach”, meinte Thomas und winkte Jerry noch zum Abschied.

Jerry besuchte also seinen Freund José, der in der Nähe des Strandes eine Bar besaß. José war ein sehr beliebter Mann, alle mochten ihn, und er mochte vor allem Jerry. Deshalb ließ er ihn auch stets ganz umsonst in die Staaten telefonieren und nahm ferner Nachrichten für den Freund entgegen. Jerry revanchierte sich meistens mit kleinen Gelegenheitsarbeiten, wenn José in irgendeiner Sache Hilfe brauchte.

Als der Amerikaner nun bei seinem venezolanischen Freund ankam, bemerkte dieser sofort, dass irgendwas nicht stimmte. José sprach Jerry darauf an, und Jerry erzählte ihm, dass sein älterer Bruder gekommen sei. Angeblich wolle der sich mit ihm versöhnen. Und weil er, Jerry, das nicht glauben könne, wollte er jetzt mal direkt Tante Laetitia anrufen, um sich das von ihr bestätigen zu lassen.

Jerry erreichte seine Tante erst nicht, weshalb José dem Freund einen Drink ausgab.

“Damit du den Schock mit deinem Bruder besser verkraften kannst”, meinte José lächelnd.

“Danke”, erwiderte Jerry, kippte sich den Drink auf ex herunter und stellte das Glas demonstrativ auf Josés Theke ab, “hach, José, jetzt geht es mir schon viel besser.”

Schließlich probierte er es ein zweites Mal bei Laetitia, und diesmal erreichte er sie auch. Die Tante bestätigte ihrem Neffen, dass Thomas nicht gelogen hatte, dass er sich mit Jerry versöhnen wollte und so weiter. Jerry war einigermaßen erstaunt, denn er vertraute seiner Tante und erwartete nicht, dass die sich mit Thomas gegen ihn verbündet hätte. Allerdings warnte Laetitia ihren Neffen und meinte, auch wenn sich das alles sehr gut anhörte mit der Versöhnung, merkwürdig fände es sie doch. Jerry bedankte sich schließlich und legte auf.

“Na, wie stehen die Aktien?”, horchte José nach.

“Hm, Laetitia sagt, dass Thomas es ernst meint. Oh weh, Dr. Besserwisser Thomas McNamara will sich mit mir versöhnen”, seufzte Jerry, “das glaub ich einfach nicht. Fast denke ich, ich müsste ihn noch ein bisschen mehr reizen, um festzustellen, wie ernst es ihm ist.”

“Apropos reizen”, hakte sich José ein und verzog den Mund zu einem süffisanten Grinsen, “Catarina hat nach dir gefragt. Sie wollte wissen, ob du heute Abend hier sein wirst.”

“Wenn sie es wünscht”, erwiderte Jerry mit unschuldigem Unterton und zog die Augenbrauen hoch.

“Du wirst also kommen?!”

“Klar doch”, ließ sich der Amerikaner vernehmen, “ich werde mir diese reizende Señorita doch nicht entgehen lassen.”

“Dachte ich mir”, entgegnete José, “aber willst du dich nicht lieber mit deinem Bruder aussprechen? Catarina hätte dafür bestimmt Verständnis.”

“Ich kann mich auch morgen auf der Bootsfahrt noch mit ihm aussprechen. Da haben wir ‘ne Menge Zeit, und sonst fehlt uns nachher noch der Gesprächsstoff.”

“Auch wieder wahr”, fand José grinsend.

“Eben.”

Während Jerry seine Erkundigungen einzog, beschloss Thomas, sich mal ein wenig in Jerrys Hütte umzusehen und sich etwas zu trinken zu holen, denn er hatte ganz schön Durst. Allerdings trat er entsetzt einen Schritt zurück, als er die Tür der Hütte öffnete.

Wie tief kann ein Mensch sinken, dass er sich hier wohlfühlt? dachte Thomas. Diese Bruchbude braucht man gar nicht zu verwanzen, weil sich bestimmt schon echte dieser niedlichen Tierchen hier heimisch fühlen. Wahrscheinlich gibt es auch Kakerlaken. Sophie würde das als Wohnklo bezeichnen. Ich mag zwar ihre spitzen Bemerkungen nicht und ihre oft viel zu vulgäre Ausdrucksweise, aber hier kann ich ihr nur zustimmen. Ich konnte mir bisher nie vorstellen, wie ein Wohnklo aussieht, aber jetzt kann ich’s. Das ist unglaublich. Ein Jammer, dass ich keinen Fotoapparat dabei habe, sonst würde ich davon eine Aufnahme machen, um sie Sophie als Beweisstück zu präsentieren. Ich glaube, das wäre Abschreckung genug.

Unsauber war die kleine Hütte zwar nicht, aber sie war verhältnismäßig bescheiden, im Moment sehr unaufgeräumt und ohne jeglichen Komfort. Deshalb war das auch in Thomas’ Augen keine Behausung, sondern ein Rattenloch.

Schließlich ging er aber doch hinein, weil er sich etwas zu trinken holen wollte und wenn möglich auch etwas zu essen. Inzwischen meldete sich nämlich sein Magen. Im Kühlschrank fand er die genannten Getränke und auch etwas Brot sowie ein Stück Salami. Thomas holte sich die Cola heraus, schnapp­te sich ein Glas und schnitt sich auf einen Teller ein paar Salamischeiben ab. Anschließend steckte er die Wurst zurück in den Kühlschrank, stapelte noch einige Scheiben Brot auf den Teller und verzog sich mit seiner Ration an den Küchentisch. Während er aß und trank, blickte er sich missmutig um.

Dass dem elitären Thomas dieses Häuschen nicht gefiel, war einleuchtend. Jeremiahs Hütte bestand eigentlich aus nur zwei Räumen und einem winzig kleinen Bad. In dem großen, wenn man das bei den Dimensionen der Hütte “groß” nennen konnte, Wohn- und Aufenthaltsraum befanden sich Tisch und Stühle, Herd, Kühlschrank, Spüle, ein paar Regale und Schränke. An einer Wand des Wohnraumes stand ferner ein altes Canapé, das aussah, als wäre es schon mindestens dreimal vom Sperrmüll weggeholt worden, um dann, nachdem es dem Besitzer nicht mehr gefiel, wieder auf dem Sperrmüll zu landen. Jerry schien es zu gefallen. Er hatte sogar über die Mitte der Rückenlehne und an den Armlehnen kleine weiße Spitzendeckchen draufgelegt.

In dem zweiten, kleineren Raum hatte Jerry sein Schlafzimmer eingerichtet, und dorthin gelangte man, wenn man durch eine Tür neben dem Kühlschrank ging.

Kaum dass Thomas mit dem Essen fertig war, kam auch schon Jeremiah zurück.

“Stimmt”, meinte er mürrisch in Thomas’ Richtung, “Laetitia hat die Versöhnungsstory bestätigt.”

“Sag ich doch.”

Am liebsten hätte Jerry darauf jetzt etwas anderes geantwortet, aber er verkniff es sich. Wenn Thomas schon so ein hohes Maß an Überwindung gezeigt hatte, dass er überhaupt bereit war, hierher zu kommen, dann musste es ihm wohl sehr wichtig sein. Auch wenn Jerry das seltsam fand, aber er hätte es auch nicht okay gefunden, wenn er jetzt seinen Bruder unnötig provozierte.

“Ich hol dir nur eben noch was für die Nacht”, murmelte er und ver­schwand im Schlafzimmer. Die Tür hatte er halb offen stehen lassen. Thomas hörte ihn kramen, sah ihn aber nicht. Allerdings wagte er einen vorsichtigen Blick durch die halb geöffnete Tür. Er entdeckte ein Bettgestell aus Eisen, offenbar ein Doppelbett, und ein Monster von einem Schrank, das wahrscheinlich ebenfalls vom Sperr­müll stammte. Das Schlafzimmer schien noch unaufgeräumter zu sein als das Wohnzimmer, aber da Thomas nur die Hälfte des kleinen Raums sehen konnte, war er sich nicht so sicher. Als er Jerrys Rücken auftauchen sah, wandte er schnell den Blick ab und tat so, als habe er sich nur im Wohnraum umgesehen. Einen Augenblick später erschien der Bruder im Wohnzimmer, eine ziemlich alt aussehende Decke in der Hand.

“Hier”, meinte er und reichte die Sachen rüber, “eine Decke für dich. Du kannst dort auf dem Canapé schlafen. Ist vielleicht ein bisschen kurz für dich, aber für eine Nacht wird es gehen.”

Thomas dachte allerdings bei sich: Hoffentlich entwickle ich so viel Hitze, dass ich diese elende Decke nicht brauche.

“Gut, das hätten wir”, meinte Jerry, “jetzt wollen wir nur noch eins klarstellen. Ich werde heute Abend nicht dein Kindermädchen spielen und dich auch nicht unterhalten. Dazu haben wir morgen noch genügend Zeit, wenn wir auf See sind. Außerdem habe ich eine Verabredung im Ort. Deshalb werde ich mir jetzt ein paar Sachen zusammensuchen und verschwinden. Hab noch was zu erledigen. Warte nicht auf mich, es kann spät werden.”

“Aber du bist doch hoffentlich fit morgen früh?!”, hakte Thomas jetzt doch etwas verunsichert nach.

“Tom, wie könnte ein McNamara nicht fit sein? Das müsstest du doch von dir selbst wissen. Selbst wenn einer von uns den Kopf schon unterm Arm hat, ist er immer noch absolut leistungsfähig.”

Sprach’s, verzog den Mund und verschwand.

Stimmt, dachte Thomas, wo du Recht hast, da hast du Recht, Jeremiah. Nur dass ich nicht den Kopf unterm Arm, sondern den Hals in der Schlinge habe.

Weil er es vorzog, sich besser nicht draußen sehen zu lassen, machte er es sich auf dem Canapé bequem, wenn man da von bequem sprechen konnte. Jerry hatte schon recht gehabt. Das Canapé war für einen Mann seiner Körpergröße um einiges zu kurz. Außerdem hatte er das Gefühl, jede der Sprungfedern einzeln zu spüren. Um wenigstens etwas abgepolstert zu sein, legte er die Decke auf die Sitzfläche und ging in Gedanken nochmal seinen Fluchtplan durch. Schließlich versuchte er zu schlafen, um morgens einigermaßen fit zu sein. Allerdings lag er lange wach ob der verkrampften Haltung, doch dann dämmerte er schließlich vor Erschöpfung ein.

Und der Tag fing so gut an, dachte Jerry, während er frustriert dem Ort entgegensteuerte. Ich will ja nicht abergläubisch sein, aber wenn ich mir überlege, dass Eugenio gestern dieses Foto von Tom und mir gefunden hat und es mir wie zur Erinnerung unter die Nase hielt, und heute taucht Tom hier auf. Komisch finde ich das schon.

Im Ort angekommen ging er in José’s Bar und traf dort prompt auf Eugenio.

“Hola, amigo!”, freute sich Eugenio und schlug ihm auf die Schul­ter, “wie geht’s dir denn so? Hab gehört, du hattest heute einen vortrefflichen Tag.”

“Was weißt du schon von meinem Tag”, murmelte Jerry müde.

“Solimár, du hast ja schon wieder ein Gesicht wie eine Gewitterfront. Das ist jetzt schon das zweite Mal in dieser Woche! Was ist los?”

“Ach Eugenio, erinnerst du dich noch an gestern und an das Foto? May-Day! Er ist gekommen.”

Eugenio stutzte zuerst, aber dann hellte sich sein Gesicht auf.

“Was willst du trinken, Solimár, komm’, ich spendier’ dir einen!”

“Das, was du auch trinkst”, entgegnete Jerry abweisend und nahm gequält auf einem Barhocker Platz. Und zu José gewandt meinte er: “Ist Catarina schon da?”

“Nein, ihr ist was dazwischen gekommen. Sie wird aber gleich hier sein.”

“Na dann”, murmelte Jerry seufzend.

“Solimár, bist du so frustriert, weil dein Bruder gekommen ist?”

“Ja, woher weißt du davon?!”, fuhr Jerry hoch.

“Oh”, erwiderte Eugenio, “ich habe ihn heute gegen Abend am Strand getroffen. Er kam direkt auf mich zu und fragte mich etwas ungeschickt, wo er dich finden könnte.”

“Und du hast ihn zu mir geschickt!”, empörte sich Jerry.

“Nun mal langsam, Solimár, was ist daran verkehrt?! Er hätte dich auch so gefunden. Außerdem habe ich ihm gesagt, dass du nicht erfreut sein wirst, ihn zu sehen, und dass er lieb zu dir sein soll. War er das nicht?”

Eugenio sah seinen Freund fragend an.

“Doch. Für seine Verhältnisse war er sogar sehr lieb. Stell dir vor, er will sich sogar mit mir versöhnen. Aber irgendwie glaub ich ihm das nicht.”

“Und das, obwohl Solimárs Tante das mit der Versöhnung bestätigt hat”, mischte sich José ein.

“Na, dann muss es ihm aber Ernst sein”, wunderte sich Eugenio, “wo ist er jetzt?”

“In meiner Hütte unten am Strand. Ich habe ihm gesagt, dass er dort bleiben und mir ja nicht den Abend vermiesen soll.”

Jerry starrte trübsinnig vor sich hin.

“Bleibt er länger?”, wollte Eugenio wissen.

“Nein, nur bis morgen. Er will mit mir einen Bootstrip nach Trinidad machen. Was das sein soll, weiß ich auch nicht. Vielleicht will er damit seine ehrlichen Absichten untermauern, indem er sich für meine Lebensweise und mein berufliches Umfeld interessiert.”

Es entstand eine Pause. Dann aber legte jemand hinter Jerry seine Hand auf dessen Schulter, und aus dem Grinsen in Josés Gesicht schloss der Amerikaner, dass Catarina wohl gerade gekommen war.

“Hola, mein Süßer”, meinte diese und küsste ihn auf den Nacken.

“Hola, meine Schöne”, entgegnete Jerry und drehte sich zu ihr herum, “wie José mir berichtete, hast du große Sehnsucht nach mir.”

“Du alter Schlingel”, entgegnete Catarina, sah ihn forschend an und machte eine Pause, ehe sie fortfuhr, “aber offenbar scheint das heute dein Tag zu sein. Sogar dein verhasster Bruder hatte Sehnsucht nach dir.”

“Weiß das jetzt schon der ganze Ort?!”, knurrte Jerry.

“Nein, aber alle, die bei José ein- und ausgehen. Und wenn du dich bitte daran erinnern würdest, dass ich bei José eine Nachricht für dich hinterlassen habe.”

Catarina war nun doch ein bisschen sauer.

“Sorry, war nicht bös gemeint”, nahm sich Jerry zurück.

“Na, du scheinst ja mächtig frustriert zu sein darüber, dass dein Bruder bei dir aufgetaucht ist. Vielleicht kann ich dir helfen, deine Stimmungslage aufzuhellen?!”

“Zu dir oder zu mir?”, fragte Jerry mit einem süffisanten Lächeln zurück.

“Wenn, dann nur zu dir”, entgegnete Catarina, “meine Patentante ist bis morgen bei uns. Die würde uns eher stören.”

“Tja, dann musst du dich aber noch ein kleines bisschen gedulden, weil mein Herr Bruder wahrscheinlich noch nicht eingeschlafen ist. Ich habe nämlich keine Lust, mich vor ihm zu rechtfertigen, wenn ich über Nacht mit einer Frau zusammen bin, die nicht mit mir verheiratet ist.”

“Oh Mann, ist der kleinkariert.”

“Das kannst du aber laut sagen!”

“Apropos laut”, forschte Catarina nach, “was ist, wenn er uns hört?”

“Tom ärgert sich bestimmt zu Tode, wenn er uns hört. Hoffentlich versucht er nicht einen Exorzismus oder so. Bei dem muss man auf alles gefasst sein.”

Catarina brach in helles Gelächter aus.

“Solimár, ich weiß schon, warum ich am liebsten mit dir die Nacht verbringe. Du bist einfach unglaublich gut... und das auf allen Gebieten!”

Jerry fühlte sich außerordentlich geschmeichelt ob dieser Bemerkung und spürte, wie sein Blut in Wallung kam. Also rutschte er schnell vom Hocker herunter.

“Lass uns doch mal sehen, ob Dr. Besserwisser schon eingeschlafen ist. Das war bestimmt ein anstrengender Tag für ihn, der ihn viel Nerven gekostet hat, weil er seinen elenden kleinen Bruder besucht hat!”, meinte Jerry und verschwand mit Catarina Richtung Strand.

Du süßes Luder, dachte er, mit dir macht es mir am meisten Spaß. Schade, dass man nicht immer so die Zeit dazu hat. Aber Catarina ist der beste Gegenbeweis dafür, dass das mit den Vornamen, die als Lebensprogramm gelten können, nicht stimmt. Catarina bedeutet nämlich “die Reine”. Und das trifft auf diese kleine Wildkatze nun absolut nicht zu, es sei denn, man erweitert ihn zu “das reinste Vergnügen”.

Kurz nachdem Jerry und Catarina die Bar verlassen hatten, drängte sich Angelo, der Streifenpolizist, an den freigewordenen Platz und ließ sich auf dem Barhocker nieder.

“Hola, Angelo”, meinte José, “wie war dein Tag denn so?!”

“Och, nichts besonderes, José. Ein paar Falschparker und so. Das übliche. Nichts von Bedeutung. Gibst du mir ein Bier?”

“Klar. Lass es dir schmecken.”

“Solimár hat’s gut”, seufzte Angelo, “der ist mit einem so attraktiven Aussehen gesegnet, dass er immer die knackigsten Weiber abkriegt.”

“Dafür ist er aber auch mit einem Monster von einem Bruder gestraft”, hielt José dagegen, “und nun stell dir vor, der Bursche ist heute bei Solimár aufgetaucht.”

Und dann erzählten Eugenio und José ihrem Kumpel Angelo brühwarm die ganze Geschichte.

Jerry war mit Catarina inzwischen bei seiner Hütte angekommen und stieß vorsichtig die Tür auf. Im Halbdunkel erkannte er schemenhaft den schlafenden Bruder auf dem Canapé. Jerry zog Catarina vorsichtig heran und deutete auf die ruhende Gestalt. Dann aber mahnte er zum Gehen. Auf Zehenspitzen schlichen sie in Jerrys Schlafzimmer und schlossen die Tür. Jerry entzündete ein kleines Lämpchen, so dass eine romantische Atmosphäre entstand. Catarina bewegte sich wie eine Raubkatze auf ihn zu und schmieg­te sich an ihn, wobei sie ihm aufreizend ein Bein zwischen die Schenkel schob und mit beiden Händen sein Hemd aufknöpfte, um es ihm dann nach hinten wegzustreichen. Er küsste sie auf den Nacken und das Dekolleté und zog ihr dann die Bluse über den Kopf.

Typisch, dachte er, sie hat mal wieder keinen BH drunter. So ein kleines geiles Luder. Allzeit bereit. Aber schön.

So streichelten und kneteten und küssten sich die beiden, während sie sich gegenseitig immer mehr entblößten. Schließlich warf Jerry seine Herzdame sanft auf sein Bett, und sie zog ihn zärtlich zu sich heran.

Oh, du bist so heiß, Baby, dachte Jerry, es ist eine wahre Wonne mit dir!

Sein Puls raste, und er hatte das Gefühl, am ganzen Körper zu zittern vor lauter Lust.

Gerade in dem Moment, als er sie besteigen wollte, hörte er im Nebenzimmer ein Geräusch. Jerry fuhr zusammen, als hätte man ihn bei einem Verbrechen auf frischer Tat ertappt, verharrte in der Bewegung und lauschte. Das Geräusch wiederholte sich, es war ein seltsames Knarzen, so, als wenn jemand durch den Wohnraum gehen würde. Oder war es nur das Canapé? Hatte Tom sich etwa rumgedreht? Oder kam er womöglich gleich ins Zimmer, weil er ja nicht wusste, dass Catarina hier war?! Jerry verspürte Panik. Hin war die ganze schöne Stimmung.

“Was ist los?”, flüsterte Catarina irritiert.

Jerry ließ sich auf der Bettkante nieder und seufzte.

“Ich meinte, ich hätte ein Geräusch gehört. Drüben im Wohnraum.”

“Du meinst, dein Bruder ist wach geworden?”, erkundigte sich Catarina.

“Weiß nicht, auf jeden Fall habe ich keine Lust, mich von ihm überraschen zu lassen, wenn ich mit dir Liebe mache!”, gab Jerry zurück.

“Dann schau doch mal nach!”, forderte Catarina ihn auf, “dann siehst du ja, ob er wach geworden ist.”

Und als Jerry zögerte, meinte sie: “Nun geh schon! Eben hast du doch noch gefeixt bei dem Gedanken, dass er uns hören könnte.”

Jerry erhob sich missmutig und schlich zur Tür. Vorsichtig öffnete er sie und spähte in den dunklen Nebenraum. Alles war ruhig und still. Im diffusen Licht erkannte die Silhouette seines Bruders auf dem Canapé.

Fehlalarm, dachte Jerry. Puh, das ist ja nochmal gut gegangen. Tom ist mir auch ständig im Wege.

Jerry schloss die Schlafzimmertür, die allerdings in den Angeln quietsch­te und ein bisschen knarrte, als er sie zudrückte.

Mist, dachte Jerry, jetzt ist er bestimmt wach geworden. Na, was soll’s, ich werde einfach einen Stuhl unter die Klinke klemmen, dann kann er nicht rein. Und sollte er doch irgendwie reinkommen, sind wir vorher gewarnt.

Er schlich zurück zu Catarina, die sich erwartungsvoll vor ihm räkelte. Jerry grinste.

Du bist mir vielleicht eine, dachte er. So ein durchtriebenes Weibchen. Mit allen Wassern gewaschen.

Sie zog ihn zärtlich an sich heran und begann, sich langsam und geschmeidig an ihm zu reiben, wobei sie ihn umklammerte und mit ihren langen Fingernägeln vorsichtig seinen Rücken “zerkratzte”. Jerry stöhnte vor Lust. Diese Frau brachte ihn an den Rand des Wahn­sinns.

Du kleine Wildkatze, dachte er, du erfüllst die kühnsten Männerphantasien.

Jerry war schon erneut auf Hochtouren, als er wieder dieses Geräusch vernahm. Zuerst nahm er sich vor, es gar nicht zu beachten, aber als es sich wiederholte, war es mit der Stimmung vorbei. Jerry fühlte sich wie gelähmt. Catarina betrachtete ihn irritiert und meinte: “Was ist denn nun schon wieder?! Wieso bist du so blockiert?!”

“Ach”, meinte er verärgert, “mich macht das Geknarze drüben ganz verrückt!”

“Wenn es dich stört, dass dein Bruder nebenan ist, dann geh rüber und sag ihm, er soll sich mal ins Freie verziehen oder einen Spaziergang im Mondschein machen. Das ist bestimmt sehr romantisch. Warum ist das jetzt auf einmal ein Problem für dich, dass er da ist?!”

Catarina wurde es langsam zu bunt.

“Und mit welcher Begründung soll ich ihn wegschicken, hä?!”, erwiderte Jerry gereizt, “etwa, weil er mich nervös macht, wenn ich mit einer Frau zusammen bin und ich keinen hochkriege, wenn er nebenan ist? Nein danke, das werde ich bestimmt nicht machen. Der lacht sich noch eins ins Fäustchen. Eher würde ich mir die Zunge abbeißen, als ihm das zu sagen!”

“Und deshalb auf Sex verzichten, nicht wahr?!”, Catarina sah ihn schräg von der Seite an.

Für einen Moment dachte Jerry, sie würde ihn für einen Schlapp­schwanz im wahrsten Sinne des Wortes halten. Aber sie fuhr fort: “Dein Bruder muss eine tolle Ausstrahlung haben, Solimár, dass du so blockiert bist. Ich glaube, ich verstehe allmählich deinen Frust. Wenn ich so einen Bruder hätte, würde ich mir wahrscheinlich die Kugel geben!”

Catarina sah ihn mitleidig an und streichelte liebevoll seine Wange. Jerry zog den Mundwinkel ein wenig hoch und schmollte, aber nur ganz leicht. Es entstand eine Pause. Schließlich kam Catarina auf eine glorreiche Idee.

“Was hältst du denn von Folgendem”, schlug sie vor, “wenn du jetzt zu blockiert bist, dann können wir ja wenigstens so tun, als ob wir es miteinander treiben. Ein bisschen stöhnen und poltern. Du hast doch gesagt, dass er ein humorloser Spießer ist, das wird ihn bestimmt ohne Ende wurmen, wenn er zuhören muss, wie sein kleiner Bruder nebenan Liebe macht. Dann wird er mit Sicherheit für den Rest der Nacht kein Auge zutun.”

Jerrys Gesicht verzog sich zu dem breitesten Grinsen, das es je gegeben hatte.

“Frauen können so raffiniert sein”, meinte er hocherfreut.

“Hm”, erwiderte sie lauernd, “und wenn er wieder weg ist, hab ich bestimmt auch nochmal Zeit für dich.”

Aber dann biss sie ihn zärtlich in die Brustwarze, um sich anschließend auf ihn zu stürzen, so dass sie beinahe beide aus dem Bett gefallen wären. Das alte Bettgestell quietschte und knarrte und schau­kelte gefährlich wie eine alte Eiche im Sturm. Die beiden stöhn­ten und keuchten um die Wette und kicherten und lachten anzüglich und hatten eine Unmenge Spaß.

Nebenan war Thomas von dem Quietschen und Knarren wach geworden, als Jerry beim Nachsehen die Schlafzimmertür wieder geschlossen hatte. Zuerst war er nur ein bisschen in einen Halbschlaf gefallen, denn jeder Knochen tat ihm einzeln weh. Er überlegte, ob er sich nicht auf den Fußboden legen sollte, weil er sich dort ausstrecken konnte. Aber das war ihm dann wieder zu dreckig. Also blieb er auf dem Canapé liegen und wälzte sich hin und her. Wie spät es wohl war? Hoffentlich graute bald der Morgen.

Plötzlich hörte er ein schreckliches Krachen und Quietschen aus dem Schlafzimmer, das ihn hochfahren und vollends wach werden ließ. Darauf folgte ein Kichern. Das war nicht Jeremiah. Das Kichern gehörte einer Frau. Und kurz danach vernahm er ein Stöhnen und Scharren und Keuchen. Die Laute waren ziemlich eindeutig, und es brauchte nicht viel an Phantasie, um sich vorzustellen, was da drüben abging. Angewidert zog sich Thomas eins der Sofakissen über den Kopf. Keine Chance, die Geräusche aus dem Nachbarzimmer drangen unvermindert an sein Ohr.

Ach, ich hör einfach gar nicht hin, dachte Thomas, irgendwann wird er seinen Orgasmus schon gehabt haben, und dann ist Ruhe. Wie kann man nur! Ihm geht auch wirklich jegliches Schamgefühl ab. Wieso habe ich nur so einen Bruder?! Aber womöglich ist er gar nicht mein Bruder?! Auf diese Idee bin ich noch nie gekommen, aber es wäre irgendwie logisch. Wir sind so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein können. Vielleicht ist er ja auch ein angenommenes Kind?

Dennoch half ihm selbst diese Vorstellung nicht viel. Die absolut eindeutigen Laute aus dem Schlafzimmer waren unerträglich. Thomas hielt sich die Ohren zu.

Das macht Jeremiah bestimmt extra, um mich zu provozieren, dachte er, so ein Schwein. Wenn Sophie noch ein einziges Mal wegen Jeremiah jammert, dann raste ich aus. Der arme Onkel Jeremiah. Er ist nicht nur von Gott verlassen, sondern auch von allen guten Geistern!

Wieso kann der so lange durchhalten beim Sex?! fragte sich Thomas. Das ist ja unerhört! Oh Gott, ich ertrag das nicht länger!

Irgendwann musste Thomas doch wieder eingeschlafen sein. Als er erwachte, drang das Licht des neuen Morgens durch die Ritzen und Fenster der Hütte und warf lange Strahlen in den Raum. Während er seine steif gewordenen und schmerzenden Glieder reckte, erblickte er seinen Bruder, der anscheinend bester Laune war, am Herd stehen und Kaffee kochen.

Auch das noch, dachte Thomas, ich hasse Kaffee. Eher würde ich verdursten, als Kaffee zu trinken. Und dieser penetrante Geruch. Wie ich meinen Tee vermisse. Halte durch, Thomas, bald bist du wieder daheim, und alles wird in Ordnung gehen.

Jerry hatte anscheinend noch nicht bemerkt, dass der Bruder wach war. Er blickte zur Schlafzimmertür und sagte irgendwas auf Spanisch. Einen Augenblick später kam eine schöne, schlanke Frau aus der Tür, ziemlich leicht bekleidet und ging mit wippenden Hüften auf Jerry zu. Der fasste sie um die Taille und zog sie in einer aufreizenden Art zu sich heran. Sie umarm­te ihn und streichelte ihn auf eine derart zudringliche Weise, dass es Thomas ganz schlecht wurde. Dann küssten sie sich heiß und innig und verabschiedeten sich. Als die Frau an Thomas vorbeikam und sah, dass er wach war, meinte sie zu ihm gewandt: “Hola, Tom!” und winkte anzüglich mit der linken Hand, als wolle sie sagen “Küsschen!”. Sie schob ihre Hüfte ganz nah an seinem Gesicht vorbei und entfernte sich mit absolut aufreizendem Gang. Thomas blickte ihr nach wie ein Mondkalb und kam erst wieder zu sich, als Jerry ihn ansprach.

“Buenas dias, Tom! Na, wie hast du geschlafen?”

“Super”, erwiderte Thomas zerknirscht.

“Ich habe dich ja gewarnt, Bruderherz!”, entgegnete Jerry ungerührt und musste sich ein Grinsen verkneifen. Bestimmt hatte Tom seine nächtlichen “Exzesse” vernommen.

“Wie steht’s, Tom, willst du ‘nen Kaffee? So als kleinen Muntermacher?! Hab ich eben aufgebrüht!”

Und innerlich dachte er: Tom hasst Kaffee. Er würde lieber verdursten, als eine Tasse Kaffee zu trinken.

“Nein danke”, meinte Thomas mürrisch und fügte hinzu, “aber lieb von dir.”

Du hast noch nie so viel in so kurzer Zeit gelogen wie in den paar Stunden, in denen du bei mir warst, Tom, amüsierte sich Jerry. Dass mir diese Genugtuung noch zuteil werden durfte! Aber irgendwie habe ich das auch verdient, so als kleine ausgleichende Gerechtigkeit für all die Demütigungen. Und wenn ich mit ihm heute den Trip nach Trinidad und zurück gemacht habe, dann wird er dafür gesorgt haben, dass ich für den Rest der Woche nicht mehr zu arbeiten brauche. Anschließend wird er wieder abhauen, mal ganz egal, ob wir uns versöhnt haben oder nicht. Und dann kann ich mit Catarina die ganze Woche lang völlig ungestört eine Liebesnacht nach der anderen verbringen. Hm, das werde ich ihm noch stecken, dass ich so lange nicht arbeiten muss und wie ich die Zeit nutzen werde, aber nur für den Fall, dass das mit der Versöhnung nicht klappt.

Jerry hatte seinen Kaffee ausgetrunken und ging zur Tür. Thomas sah ihm irritiert nach und meinte: “Wo willst du hin?”

“Du wolltest doch nach Trinidad, oder?”

“Ja, natürlich.”

“Nun, ich werde das Boot jetzt startklar machen. Zähl schon mal die Schein­chen ab und futtere dir noch einen Happen, es wird eine etwas längere Fahrt.”

Sprach’s und verschwand im Freien.

Thomas setzte sich auf und stöhnte. Dann kramte er seine Sachen zusammen, ging an den Kühlschrank und holte nochmal die Salami heraus. Das war das einzige Lebensmittel, was ihm einigermaßen genießbar anmutete. Während er am Küchentisch saß und kaute, hörte er draußen ein Motorengeräusch.

Na, wenigstens das Boot ist funktionstüchtig, dachte er. Und Haupt­sache, es geht gleich los. Mir ist gar nicht wohl dabei, dass ich immer noch hier bin.

Nachdem er die Wurst verspeist hatte, wischte er sich die Hände an seiner Jeans ab, das Wasser war ihm zu suspekt, und holte sein Jeanshemd. Gerade in dem Moment, als er es angezogen hatte, meinte er, eine Bewegung an der Tür zu vernehmen. Er trat einen Schritt darauf zu und wollte sie eben öffnen, als das Inferno über ihn hereinbrach. Die Tür wurde mit Wucht aufgestoßen, und ins Zimmer stürmten zwei Polizisten mit Revolvern im Anschlag. Eine ganze Flut von spanischen Worten und Kommandos ging auf ihn nieder, während ein weiterer Beamter hereinstürmte, ihn packte und mit dem Gesicht gegen die Wand schleuderte.

“Hände gegen die Wand und Beine auseinander”, fuhr er ihn auf Englisch an. Thomas war so verdattert, dass er willenlos gehorchte. Der Fahnder tastete ihn nach Waffen ab, um dann, als er nichts fand, Thomas’ rechtes Handgelenk unsanft auf dessen Rücken zu ziehen. Thomas hörte das Geräusch von einrastenden Handschellen, dann wurde seine linke Hand auf den Rücken gezogen, und er spürte das kalte Metall an seinen Handgelenken.

Jetzt ist es vorbei, dachte er, das war’s. Hier kommst du nicht mehr ungeschoren raus.

Er hatte ein Gefühl, als würde ihm jemand die Kehle zudrücken, und er schluck­te unwillkürlich. Noch nie im Leben hatte er solche Angst gehabt. Er war den Tränen nahe und verdrehte die Augen, um nicht loszuheulen. Das wäre das Letzte gewesen.

Der Beamte packte ihn brutal und stieß ihn zur Tür hinaus. Thomas blinzelte in das grelle Morgenlicht.

“Vamos, amigo!”, meinte der Fahnder und gab ihm einen weiteren Stoß. Vor der Tür warteten ein Streifenwagen und ein Jeep in zivil.

Das war also das Motorengeräusch gewesen, das er gehört hatte. Wie hatte er nur so dumm sein können!

Die beiden Polizisten nahmen ihn in die Mitte und brachten ihn zu dem Streifenwagen. Die Tür wurde geöffnet und der Gefangene unsanft hinein geschubst. Thomas saß wie ein Häufchen Elend auf dem Rücksitz.

Wo ist Jeremiah wohl? überlegte Thomas, ob er mitbekommen hat, dass ich verhaftet worden bin? Ob sie ihn auch verhaften werden? Oder hat er mich verraten? Vielleicht hat er gestern in der Kneipe mitbekommen, dass ich gesucht werde, und sie haben ihm mehr geboten als ich? Das wäre doch die perfekte Chance, sich an mir zu rächen, wo er doch gar nicht scharf auf eine Versöhnung war? Das würde auch erklären, warum die so schnell hier aufgekreuzt sind.

Thomas’ Fragen wurden umgehend beantwortet. Er sah Jeremiah aus der Richtung der Boote auftauchen und bemerkte, wie einer der Polizisten auf ihn zuging. Anscheinend kannten sie sich.

“Hola, Angelo!”, meinte Jerry, “was liegt an?! Was macht die Polizei bei mir?”

“Hola, Solimár”, gab Angelo zurück, “alles in Ordnung, wir haben nur gerade einen Verdächtigen festgenommen.”

“Einen Verdächtigen? Bei mir? Machst du Scherze, Angelo?”, Jerry sah den Kumpel aus dem Dorf ungläubig an.

“Ja, deinen Bruder. Den Richter aus New York”, entgegnete Angelo.

“Moment mal, ihr habt meinen Bruder verhaftet!”

Jerrys Augen weiteten sich in ungeahntem Ausmaß. Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

“Sag das nochmal, Angelo, wen habt ihr verhaftet? Meinen Bruder? Das soll wohl ein Witz sein!”

“Nein, das ist mein voller Ernst, Solimár”, gab Angelo zurück, “und ich gebe dir auch was von der Belohnung ab, amigo!”

“Welche Belohnung?! Was läuft hier eigentlich, kannst du mir das mal erklären?!”

Jerry war völlig aus dem Häuschen.

“Nun, amigo”, klärte Angelo den Freund auf, “du hast doch gestern Abend bei José erzählt, dass dein Bruder aus New York zu Besuch gekommen ist und dass er mit dir nach Trinidad einen Bootstrip machen will.”

“Das habe ich Eugenio erzählt und José, aber...”

“Genau, und als du mit Catarina verschwunden warst, haben die beiden mir die ganze Geschichte erzählt. Nun ja, gestern ist nicht sonderlich viel passiert bei mir auf der Wache, ein langweiliger Tag. Aber als ich bei José war, bemerkte ich, dass ich mein Portemonnaie im Büro vergessen hatte. Deshalb bin ich spät am Abend nochmal dorthin gegangen. Als ich es geholt hatte und gerade wieder abschließen wollte, kam just ein Fax rein. Irgendwie war ich neugierig, weswegen spät am Abend noch ein Fax ankommt. Das musste ja wohl was sehr Wichtiges sein. Und dann hab ich gesehen, dass landesweit ein Dr. Thomas McNamara gesucht wird, der sich am frühen Nachmittag seiner Verhaftung durch Flucht entzogen hat. Tja, dein Bruder ist gar nicht der Saubermann, für den er sich immer ausgegeben hat. Er ist ein Schwein...”

“Das wusste ich immer schon”, unterbrach ihn Jerry grinsend.

“Nein, mal im Ernst, Solimár”, hielt Angelo dagegen, “dein Bruder ist ein Busenfreund von... halt dich fest... Señor Miguel Ramírez!”

Angelo machte eine Pause und betrachtete voller Genugtuung Jerrys blödes Gesicht.

“Damit hast du im Leben nicht gerechnet, nicht wahr?!”, amüsierte sich Angelo.

“Allerdings nicht”, hauchte Jerry völlig entgeistert.

“Tja, man soll sich nie zu sicher sein”, feixte Angelo, “ich hab also noch am selben Abend versucht, die Fahnder zu kontaktieren, aber bei denen liefen die Leitungen heiß. Schließlich habe ich es aufgegeben und es ganz früh am Morgen nochmal versucht. Und wie schön, wir haben euch ja noch erwischt. Natürlich habe ich den Kollegen gesagt, dass du okay bist. Von daher brauchst du nichts zu befürchten. Und weil du in gewisser Weise nicht ganz unbeteiligt an dem Erfolg bist, gebe ich dir die Hälfte der Belohnung ab. Na, was sagst du?”

“Mir fehlen die Worte”, erwiderte Jerry und konnte es immer noch nicht fassen, “das glaub ich alles erst, wenn ich es sehe. Meinst du, ich kann ihn mir mal ansehen?”

“Na klar, komm mit”, forderte Angelo ihn auf, “er sitzt dort im Wagen.”

Der Polizist nahm seinen Freund mit zu seinen Kollegen, die bei den Fahrzeugen warteten. Weil Angelo gesagt hatte, dass er eben noch Jerry informieren wollte, ehe einer der Beamten die Hütte des Bootsverleihers noch nach sachdienlichen Hinweisen absuchen wollte, warteten sie vorerst.

Jerry fing ganz locker ein Gespräch mit den anderen Polizisten an, erkundigte sich nach Einzelheiten und meinte, vielleicht könne er weiterhelfen, falls sie noch Informationen benötigten. Thomas, der die Unterredung zwar durch das um einen Spalt geöffnete Wagenfenster hören konnte, verstand leider kein Wort, denn die Unterhaltung verlief auf Spanisch, und die Männer sprachen so schnell, dass er noch nicht einmal Wortfetzen verstand.

Die scheinen sich ja prächtig zu verstehen, dachte Thomas bitter. Bestimmt hat er mich verraten. Die alte Ratte. Hat er nicht gestern sowas gesagt, dass es um meinen Kopf nicht schade wäre? So ein Miststück.

Schließlich meinte Jerry zu den Polizisten, ob sie ihm den Gefallen tun könnten und Thomas noch einmal aus dem Auto herausholen. Er wolle doch wenigstens einmal im Leben seinen Bruder, der immer so mächtig gewesen war, ohnmächtig und ausgeliefert sehen, und zwar in voller Größe.

Weil die Fahnder schon von Angelo die halbe Familiengeschichte der McNamaras gehört hatten, erfüllten sie Jerry diesen Wunsch, holten ihren Gefangenen aus dem Streifenwagen heraus und präsentierten ihn dem Bootsverleiher. Jerry blickte Thomas frontal in die Augen, verzog den Mund und schnaufte verächtlich.

“Muss ein tolles Gefühl sein”, fand Jerry, indem der Thomas musterte, “wenn man jahrelang erfolgreich ein Doppelleben geführt hat, und nun kriegen sie einen. Schade, dass ich keinen Fotoapparat in greifbarer Nähe habe, weil ich liebend gern ein Bild von dir machen würde. Dr. Thomas McNamara mit auf dem Rücken gefesselten Händen, weil die venezolanische Drogenfahndung ihn geschnappt hat. Von wegen Versöhnung. Das war mir eh klar, dass da was faul ist. Es ist schon eine Gemeinheit, dass du überhaupt sowas gemacht hast, aber es ist der Gipfel, dass du das als Versöhnungsaktion getarnt hast. Womöglich hättest du mich auch mit reingezogen. Sowas nenn ich Bruderliebe.”

Und damit spuckte er Thomas frontal ins Gesicht.

Es war schwer zu sagen, wer erstaunter über Jerrys Verhalten war, Thomas oder die Fahnder. Auch wenn Thomas wusste, dass Jerry nicht gerade gut auf ihn zu sprechen war, aber dass der Bruder so von Schadenfreude und Hass erfüllt sein konnte, schockte nicht nur ihn, sondern auch die Polizisten. Für einen Moment waren diese wie gelähmt. Und das war genau einen Moment zu lang. Denn Jerry riss dem Einsatzleiter blitzschnell den Revolver aus dem Halfter am Gürtel, verdrehte ihm den Arm und hielt ihn von hinten umklammert, wobei er ihm den Lauf der Waffe an den Hals drückte und den Hahn spannte. Dann zog er ihn ein Stück zurück.

“Okay, amigos, alles, was Recht ist, aber ihr werdet wohl ohne euren Gefangenen wieder abziehen müssen.”

Und zu Angelo gewandt fügte er hinzu: “Tut mir leid, Angelo, aber wir werden uns die Belohnung nicht teilen können. Mein Bruder ist zwar ein Arschloch, aber er ist mit Sicherheit nicht der Freund eines Drogenbarons. Und jetzt werdet ihr meinem Bruder die Handschellen abnehmen. Sofort! Und keine faulen Tricks, sonst ist euer netter Kollege hier ein toter Mann! Na, macht schon!”

“Tut, was er sagt”, meinte der Fahnder.

Einer der Polizisten nahm dem Richter die Handschellen ab. Thomas sah seinen Bruder währenddessen völlig verdattert an, kam schnell­stens zu ihm herüber und rieb sich die schmerzenden Handgelenke.

“Wieso?”, hauchte er.

“Das sagte ich doch bereits... weil du auf keinen Fall ein Freund von Ramírez bist. Aber wir haben keine Zeit für Sentimentalitäten!”, fuhr Jerry ihn an, “hör mir jetzt gut zu, sonst sitzen wir gleich beide da auf dem Rücksitz mit gefesselten Händen!”

Diese Drohung wirkte. Thomas war ganz Ohr. Aber zuerst wandte sich Jerry an die Polizisten.

“Okay, ihr werdet jetzt ganz langsam einer nach dem anderen eure Waffen vor euch in den Sand legen. Angelo fängt an!”

Nachdem das geschehen war, meinte Jerry: “So, nun tretet ihr allesamt zehn Schritte zurück, schön langsam. Eine hektische Bewegung und euer netter Kollege hier beißt ins Gras!”

Jerry sah mit Genugtuung, wie sich die Beamten langsam rückwärts bewegten.

“So, jetzt sammle die Revolver auf, Tom!”

Thomas tat, wie ihm geheißen. Inzwischen war Jerry mit seiner Geisel immer weiter in Richtung der Boote zurückgewichen. Er befahl den Polizisten, Thomas die Schüssel für die Autos und die Handschellen zu geben. Anschließend sollten sie einzeln zu den Booten herüberkommen, damit Thomas sie fesseln konnte.

Nachdem Thomas damit fertig war, zog er auf Jerrys Geheiß den Gefangenen eine lange Kette zwischen den gefesselten Händen durch und machte sie an einem der Boote mit einem Vorhängeschloss fest. Zum Glück hatte Jerry den Schlüssel für das Schloss nämlich an seinem Schlüsselbund.

“Okay, und jetzt hauen wir ab”, befand Jerry, “nimm die Knarre und zerschiess die Reifen und die Funkanlagen des Streifenwagens. Wir werden den Jeep zur Flucht benutzen, weil er ein ziviles Fahrzeug ist und somit wenig Aufsehen erregt. Ich werde alldieweil ein paar nützliche Utensilien zusammensuchen.”

Als Jerry zurückkam, hatte Thomas ganze Arbeit geleistet und saß schon auf dem Beifahrersitz des Jeeps, denn er war der Meinung, dass es vorteilhafter wäre, wenn Jerry führe, weil der sich bestimmt besser auskannte.

“Gute Arbeit”, meinte Jerry anerkennend, warf den Seesack und seinen Rucksack auf die Ablagefläche und startete den Wagen. Dann brauste er mit quietschenden Reifen los. Alles, was von den beiden übrig blieb, war eine Staubwolke, die sich nur langsam verzog.

Jerry fuhr nach Westen. Thomas war immer noch so verdattert und benommen von dem, was da gerade geschehen war, dass er einfach nur schweigend neben seinem Bruder saß. Als er aber merkte, dass Jerry nach Westen fuhr, schnauzte er ihn an: “Bist du wahnsinnig? Warum fährst du nach Westen? Willst du unseren Verfolgern in die Arme laufen?”

Jerry sah ihn nicht an, antwortete auch nicht und fuhr mit unvermindertem Tempo weiter.

“Hörst du nicht, was ich sage?!”, brüllte Thomas ihn an.

“Jetzt pass mal auf, Dr. Neunmalklug! San Juan de las Galdonas liegt auf einer Halbinsel. Wenn ich nach Osten fahren würde, kämen wir irgendwann ans Meer. Und da würde die Küstenwache auf uns warten. Das heißt, wenn wir überhaupt so weit kämen. Wahrscheinlich würden sie uns schon vorher schnappen.”

“Aber du hast die Polizisten doch im wahrsten Sinne des Wortes an die Kette gelegt?!”, wunderte sich Thomas.

“Richtig”, meinte Jerry gereizt, “aber wenn Angelo nicht in spätestens einer Stunde in seinem kleinen Büro auftaucht, werden die Leute im Ort misstrauisch. Zumal Angelo ihnen gewiss erzählt haben wird, dass er mit ein paar Leuten von der Drogenfahndung aus der Hauptstadt den fiesen Bruder von Solimár verhaften geht. Das ist doch mal was, das ist der Kracher. Davon reden die Leute noch eine Woche lang. Angelo wird diese Geschichte jeden Abend bei José erzählen müssen, und alle werden an seinen Lippen hängen und bei jedem Mal, wo er die Geschichte berichtet, wird er sie ein bisschen mehr ausschmücken. Na ja, wie dem auch sei, wir müssen versuchen, möglichst weit nach Süden zu kommen. Und da ich nicht quer durch den Turuepano-Nationalpark fahren kann, muss ich ihn westlich umgehen. Außerdem ist das gar nicht so dumm, nach Westen zu fahren, damit rechnen unsere Verfolger nämlich nicht. Die werden wahrscheinlich erstmal die Küstenorte im Osten verständigen, weil wir vorhatten, nach Trinidad überzusetzen, denn das hab ich gestern Abend in der Kneipe erzählt.”

“Aber meinst du nicht, wir könnten es doch nach Trinidad schaffen?”

“Es würde nur Sinn machen, nach Trinidad zu flüchten, wenn wir von der Insel abhauen könnten, bevor unsere Verfolger denen da gesteckt haben, dass wir zwei Verbrecher sind. Und diese Chance ist gleich null”, seufzte Jerry.

“Das liegt wahrscheinlich daran, dass du nicht James Bond bist und ich nicht Indiana Jones”, murrte Thomas sarkastisch.

“Pass mal auf, Dr. Besserwisser!”, zischte Jerry seinen Bruder an, “ich bin nicht hierher ausgewandert, um mich ausgerechnet von dir hier unschuldig ins Gefängnis bringen zu lassen. Geh mir jetzt nicht mit irgendwelchen saublöden Sprüchen auf den Keks, und strapazier meine Hilfsbereitschaft nicht unnötig. Und mal ganz abgesehen davon würde es mich auch nicht wundern, wenn du dich in deinem Größenwahn wirklich für Indiana Jones halten würdest, weil du Harrison Ford so verblüffend ähnlich siehst. Auf der anderen Seite bezweifle ich allerdings, dass du überhaupt weißt, wer Indiana Jones und Harrison Ford sind.”

“Stell dir vor, das ist mir bekannt”, zischte Thomas zurück.

“Wunder gibt es immer wieder”, bemerkte Jerry kopfschüttelnd, “und jetzt halt die Klappe.”

Thomas war zwar sehr erbost, weil Jerry ihn so schroff behandelte, aber er beschloss, mal lieber keine Widerworte zu geben. Außerdem fühlte er sich einfach nur entsetzlich. Und er hatte eine Heidenangst. Was, wenn ihre Verfolger sie beide doch noch schnappten? Dann war Jeremiah mit dran. Und obendrein kannte der noch nicht einmal die ganze Geschichte.

Oh weh, dachte Thomas, hoffentlich fragt Jeremiah nicht zu früh nach den Einzelheiten dieser verpatzten Aktion, sonst lässt er mich nachher doch noch im Stich. Obwohl das auch irgendwie unlogisch wäre, denn ihm wird schon klar sein, dass man im Grunde der Drogenmafia nicht entfliehen kann. Unsere einzige Chance ist die, dass ich nach New York zurückkomme bzw. Philip kontaktieren kann, damit der das Beweismaterial präsentiert. Aber... oh nein, das wird nichts nützen, wenn Philip das Beweismaterial ins Spiel bringt, weil meine Gegner behaupten werden, das sei nur ein Trick, und die Unterlagen seien gefälscht, denn ich hätte das nur zusammengestellt, um die Drogenbarone unter Druck zu setzen und von mir abzulenken. Vielleicht hätte ich das auch als Schach­zug benutzt, um Ramírez kaltzustellen und mir einen neuen Geschäftspartner zu suchen, bei dem mehr Geld für mich herausspringt. Also, Thomas, deine einzige Chance ist die, dass du beweist, dass man dich hereingelegt hat, und zwar ausgesprochen geschickt, so dass du deinen Gegnern nie wieder in die Quere kommen kannst.

“Kannst du mal schauen, ob hier im Wagen irgendwo eine Karte ist?”, wurde er von Jerry aus seinen Gedanken gerissen.

Thomas kramte und fand eine. Jerry bog von der Straße in einen Feldweg ab und parkte den Jeep hinter einem Strauch, so dass der Wagen von der Straße aus nicht sofort zu sehen war.

“Gib mal her!”

Jerry studierte die Karte und reichte sie Thomas zurück.

“Okay, du wirst mich jetzt führen. Pass auf, wir werden jetzt auf Nebenstraßen nach Caripito fahren und weiter runter nach Maturín. Mit ein bisschen Glück werden wir es bis dahin schaffen, ehe sie Straßensperren errichten und uns auch in diesem Gebiet suchen. Mal sehen. Und anschließend geht’s zu Fuß weiter.”

“Zu Fuß weiter?”, entgegnete Thomas ungläubig, “soll das ein Scherz sein?”

“Nein, das ist mein voller Ernst, Tom!”, erwiderte Jerry trocken.

“Aber dann haben sie uns doch sofort! Warum stellen wir uns nicht gleich an die Straße und winkten und rufen, damit sie uns mitnehmen!”

Thomas war ziemlich sauer.

“Du hast echt keine Ahnung, Tom. Wir können nicht ewig mit dem Jeep abhauen. Irgendwann kommen wir nicht weiter, weil sie das Kennzeichen und die Beschreibung des Wagen und unserer Person an jede Polizeidienststelle im Lande weitergegeben haben. Wir sind hier zwar in Südamerika, aber der technische Fortschritt ist auch bis hierher gekommen. Und sie sind zu viele. Wir können nicht durch ihr Netz schlüpfen, wenn wir nach ihren Regeln das Spiel spielen. Deshalb haben wir nur eine winzig kleine Chance, wenn wir ihnen entwischen wollen, und die lautet: Zu Fuß durch unbewohntes Gebiet. Im Klartext: Quer durch den Dschun­gel rüber nach Brasilien oder Guyana. Wohin, das entscheide ich dann spontan.”

“Ach, das entscheidest du dann spontan! Meinst du nicht, dass ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden habe, hä?!”, ereiferte sich Thomas.

“Nein, hast du nicht. Erstens kennst du dich hier nicht aus, und zweitens denke ich nicht, dass du einen konstruktiven Beitrag leisten wirst, nachdem du schon so viel Mist gebaut hast.”

Damit ließ Jerry den Motor wieder an und fuhr zurück auf die Straße.

Jerrys Plan ging auf. Sie schafften es wirklich bis Maturín mit dem Jeep. Jerry fuhr noch ein bisschen weiter nach Süden und hielt schließlich in einem kleinen Dorf, durch das sie kamen, in einer Seitenstraße an.

“Warum hältst du an?”, fragte Thomas, der die ganze Zeit über geschmollt und den Bruder lediglich gelotst hatte.

“Muss ein paar Sachen für unseren Sonntagsspaziergang kaufen”, brumm­te Jerry und peilte die Lage, “okay, rutsch’ rüber auf den Fahrersitz!”

Weil Thomas ihn nur irritiert ansah und nicht gleich gehorchte, ranzte Jerry ihn an: “Na, was ist? Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Wir haben nicht in alle Ewigkeiten Zeit!”

“Wie redest du denn mit mir?! Ist ja schon gut, ich mach schon. Aber warum? Was hast du vor?”, rechtfertigte sich Thomas und schwang sich hinters Lenkrad.

“Wie ich schon sagte, ich werde jetzt einige Einkäufe tätigen. Falls irgendjemand mich erkennt oder es Anzeichen dafür gibt, dass unsere Verfolger uns doch aufgestöbert haben, fährst du los. Wenn möglich, gabelst du mich vorher noch auf. Wenn nicht, fahr! Ist das klar?! Wir müssen uns dann halt trennen, wenn es nicht anders geht.”

“Hm, dabei ist mir aber gar nicht wohl”, räumte Thomas ein, “ich meine, wenn wir uns trennen müssen, dann kann ich mich auch gleich umbringen. Ich kann kaum Spanisch und falle überall auf wie ein bunter Hund! Und ich kenne mich hier nicht aus, im Gegensatz zu dir!”

“Du hast ‘ne Karte!”, gab Jerry zurück, “und hör’ das Jammern auf!”

“Das war eine rein sachliche Bemerkung”, murrte Thomas, aber Jerry war schon zu dem kleinen Lebensmittelladen losgegangen.

Alldieweil beobachte der Richter die Straße. Alles schien ruhig. Ab und zu sah ihn einer der Passanten schräg von der Seite an, als wolle er sagen: Was bist du denn für ein komischer Kauz? Du gehörst doch auch nicht hierher! Aber sonst geschah nichts Außergewöhnliches.

Der Laden ist doch gar nicht so groß, dachte Thomas. Selbst wenn Jeremiah alles aufkauft, was die haben, müsste er doch schon längst wieder zurück sein.

Thomas wurde unruhig. Vielleicht hatten sie Jeremiah geschnappt und pirschten sich jetzt an den Jeep ran. Aber er entdeckte auch keinen Polizisten auf der Straße.

Was für ein elendes Nest! dachte Thomas. Hier ist die Welt mit Brettern zu. Ein Wunder, dass die Hauptstraße überhaupt geteert ist.

Die Seitenstraßen hatten allerdings nur festgestampften Lehm als Belag. Der Supermarkt, in den Jeremiah gegangen war, würde in New York unter “historischer Tante-Emma-Laden” ein Museumsdasein fristen. Und die Häuser hätten auch mal ein paar Eimer Farbe gebraucht. Und nicht nur das. Dort vorn war allerdings eine Apotheke.

Unglaublich, dachte Thomas, die haben da bestimmt nur Naturheilmittel und Kräutertees. Das wäre was für die ganzen Alternativen und Ökospinner, die würden da reinpilgern wie in einen Tempel. Oh Mann, was für ein Alptraum. Ich wünschte, es wäre einer. Aber mir scheint, es ist keiner. So schlecht kann man doch gar nicht träumen.

Thomas war sehr erleichtert, als er Jerry endlich wieder erblickte. Allerdings sah er ihn aus der Apotheke kommen. Er hatte doch wohl nicht im Ernst da Medikamente gekauft?

Jerry kam schnurstracks über die Straße und hielt auf den Jeep zu.

“Na, alles klar?!”, fragte er mit - aus Thomas’ Sicht - einem provokanten Unterton in der Stimme.

“Ja”, erwiderte Thomas gereizt, “wo warst du so lange?”

“Im Laden und in der Apotheke!”, gab Jerry zurück, “was dagegen?!”

Thomas antwortete nicht.

“Fahr los!”, meinte Jerry, während er sich auf den Beifahrersitz schwang.

“Willst du nicht fahren?”, fragte Thomas zurück.

“Nein, wozu!”

“Na gut!”

Thomas startete den Jeep und fuhr los. Jerry bedeutete ihm, Richtung Süden weiterzufahren. Nach ein paar Kilometern wies er seinen Bruder an, die Straße zu verlassen und in einen Feldweg einzubiegen. Der Weg führte noch ein bisschen durch Felder und Kaffeeplantagen hindurch, um schließlich am Rande des Dschun­gels zu enden.

“Endstation”, meinte Jerry genervt, “ab jetzt gehen wir zu Fuß weiter.”

“Du meinst das mit der Flucht durch den Dschungel also Ernst?!”, horchte Thomas nach.

“Ganz genau!”, bestätigte Jerry mürrisch, “werden wir jetzt unsere Päckchen packen und unsere Ranzen schultern, und dann marschieren wir los!”

“Ich halte das für keine gute Idee, durch den Dschungel zu marschieren!”

“Aber dein Schlaumeierplan mit dem Übersetzen nach Trinidad hat nicht funktioniert! Deshalb machen wir es jetzt so, wie ich es sage, denn bisher ist die Rechnung aufgegangen, nicht wahr?”

“Du hast Glück gehabt!”, beschwerte sich Thomas, “und außerdem war es deine Schuld, dass mein Plan, nach Trinidad überzusetzen, nicht funktioniert hat. Wenn du nämlich nicht so ein Plappermaul wärst und deinen Fischerfreunden abends in der Bar deine und meine halbe Lebensgeschichte erzählt hättest, dann würde ich jetzt schon in einer Maschine sitzen, die Richtung New York unterwegs wäre. Und du wärst um mindestens fünfhundert Dollar reicher und könntest die ganze Woche mit deiner Karibikschlampe Liebe machen. Also tu jetzt nicht so, als wärst du James Bond, klar?!”

“Wie wäre es denn gewesen, mal ganz beiläufig bemerkt, wenn du mich nur ein klitzekleines bisschen eingeweiht hättest?!”, ereiferte sich Jerry, “woher soll ich ahnen, dass du die venezolanische Drogenfahndung auf den Fersen hast, hä?! Ich weiß nicht so recht, was du dir dabei gedacht hast, ausgerechnet bei mir in diesem Moment aufzukreuzen. Ich meine, du hast dich in all den Jahren, seit ich weggegangen bin, nicht ein einziges Mal gemeldet und...”

“Was dir doch sicher sehr recht war!”

“Allerdings, ich habe dich nicht einen Tag lang vermisst!”

“Eben, also hör auf, so zu tun, als ob ich der Spielverderber wäre!”

“Nur, dass das hier kein Spiel ist. Hier geht es nämlich um deinen bzw. jetzt auch zusätzlich noch um meinen Kopf!”, fauchte Jerry.

“Du hättest mich nicht da raushauen müssen!”

“Man tut sich auch bedanken oder wie?!”, giftete sich Jerry, “aber nein, dank mir nicht, ich brauche das nicht! Ich weiß nämlich allein, dass ich ein edler Mensch bin. Warum war ich nur so doof und habe dich befreit?! Du hast schon Recht. Wo ich schon so ein Plappermaul bin, hätte ich mir doch wenigstens die Hälfte von der Belohnung geben lassen sollen, als Angelo mir das netter Weise von sich aus angeboten hat. Aber Jeremiah McNamara betätigt sich ja caritativ für seinen elenden Bruder, Dr. Superschlau. Die Welt würde in Zukunft um Einiges besser werden, wenn du aus dem Verkehr gezogen wärst. Von daher ist es schon okay, dass sie mich mit verknacken wollen, denn ich habe soeben einen großen Dienst an der Menschheit verhindert. Toll, ganz toll!”

Jerry war ausgestiegen und gestikulierte wild mit den Armen, um schließ­lich mit den Händen gegen die Ladefläche zu schlagen.

“Ich werde dir jetzt mal was sagen, Mr. Tom: Mach deinen Scheiß alleine! Es ist mal wieder wie früher. Immer, wenn ich mit dir zusammen bin, gerate ich in Schwierigkeiten. Zehn Jahre lang hatte ich keine, weil du ja nicht da warst, aber kaum dass du bei mir aufgetaucht bist, bekomme ich welche! Es reicht mir inzwischen, ich hab die Schnauze voll. Du hast echt die Gabe, mein Leben zu zerstören, egal wo es stattfindet. Das ist ‘ne echte Leistung. Wenn es sowas wie den Anti-Friedensnobelpreis gäbe, du hättest ihn verdient!”

Jerry hatte sich einmal um seine eigene Achse gedreht und ließ sich gegen die Ladeklappe fallen, warf den Kopf in den Nacken und stöhnte. Dann fuhr er herum und meinte: “Runter da!”

Thomas starrte ihn verständnislos an.

“Na los, runter da vom Fahrersitz! Bist du taub?!”

Jerry kam wie eine Furie auf ihn zugeschossen. Thomas zuckte ein wenig zurück und meinte entgeistert: “Was hast du vor, Jeremiah?”

“Ich werde jetzt nach Maturín fahren und mich stellen. Und ich werde ihnen sagen, dass ich einen kleinen Anfall von Geistesgestörtheit hatte infolge einer familiären Sentimentalität, als ich dich befreite. Und dass es mir leid tut, dass der Anfall so lange gedauert hat. Und natürlich werde ich ihnen sagen, wo sie dich finden. Das wird dann nicht lange dauern, bis sie dich gefunden haben. Die andere Variante wäre allerdings, dass ich dir jetzt eins auf die Fresse haue, dich fessele und direkt mitnehme. Das wäre wesentlich praktischer und würde sicher mehr Eindruck machen, abgesehen davon, dass es meine Glaubwürdigkeit erhöhen würde. Möglicherweise käme ich sogar doch noch in den Genuss der Belohnung und könnte wirklich für den Rest der Woche mit Catarina Liebe machen. Du hast mich nämlich, nur so nebenbei erwähnt, um ein wirklich einmaliges sexuelles Erlebnis gebracht.”

“Sag mal, schämst du dich eigentlich nicht?!”

“Wofür?!”

“Du gehst mit jeder Schlampe ins Bett! Bei dir hat die ganze christliche Erziehung überhaupt nichts genützt. Du benimmst dich schlimmer als ein Heide!”, rügte ihn sein Bruder.

“Wenn die Güte des Christseins an der Anzahl bzw. der Qualität der Sexualpartner gemessen wird, dann haben aber eine Menge Leute schlechte Karten, und nicht nur Heiden. Ich möchte nicht wissen, wie viele sogenannte Ehrenmänner ihre Frauen betrügen oder regelmäßig ‘ne Nutte vögeln. Also spiel hier nicht den Moralapostel”, rechtfertigte sich Jerry, “und außerdem bist du doch bloß neidisch, weil du so eine Frau nie rumkriegen würdest. Wir hatten eine heiße Nacht, das kann ich dir flüstern.”

Jerry verzog den Mund zu einem sehr süffisanten Grinsen.

Thomas kochte.

“Es war ja unüberhörbar!”, schnaubte er.

“Ach ja?”, tat Jerry beiläufig, “konnte man uns hören?”

Hören ist gar kein Ausdruck, ich dachte, du brichst dieses Rattenloch ab, in dem du da haust!”, murrte Thomas.

“Och, dieses Rattenloch, wie du es nennst, ist sehr gemütlich und sehr stabil. Hat mir schon bei vielen Frauen gute Dienste geleistet. Weißt du, gerade die Ehefrauen von solchen Spießern, wie du einer bist, fahren auf sowas total ab. Da kommt endlich mal ein bisschen das Gefühl von Abenteuer und Romantik auf!”

Jerry bemerkte mit Genugtuung, wie sein Bruder sich giftete. Aber dann besann er sich und meinte: “Okay, Bruderherz, die Show ist vorbei. Beweg’ deinen Hintern vom Fahrersitz runter, ich hab nämlich keine Lust, mich so lange mit dir zu streiten, bis sie uns gefunden haben. Das ist es mir nicht wert.”

Thomas hatte den Eindruck, dass sein Bruder das wirklich ernst meinte. Deshalb tat er so, als würde er tatsächlich aussteigen, um im letzten Moment den Jeep zu starten, den Gang reinzuwerfen und zurückzusetzen.

Jerry, der schon mit sowas gerechnet hatte, sprang vor dem zurückfahrenden Wagen auf Seite, riss den Revolver, den er dem Drogenfahnder abgenommen hatte, aus dem Gürtel und zerschoss Thomas die Reifen. Der Jeep kam ins Trudeln und kippte schließlich seitlich weg. Jerry sah auf den qualmenden Kühler und grinste.

“Hola, Mr. Tom, wie geht’s denn so?!”, meinte er und näherte sich vorsichtig dem umgekippten Wagen. Da er nur gegen das Bodenblech sehen konnte, wusste er nicht, ob der Bruder sich verletzt hatte. Jerry spähte über den Rand der Fahrerseite... und blickte in einen Revolverlauf, der auf seine Stirn gerichtet war. Er war einigermaßen verblüfft, und das registrierte Thomas mit großer Zufriedenheit.

“Für wie blöd hältst du mich eigentlich?”, meinte Thomas mit einem überlegenen Grinsen.

“Hör mal, Thomas, wir sollten uns hier nicht gegenseitig fertigmachen”, lenkte Jerry ein.

“Das hört sich schon viel netter an”, erwiderte Thomas mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme, “und du hast dich doch tatsächlich daran erinnert, wie ich heiße, nicht wahr?!”

“Hey, nun sei doch nicht immer so kleinlich...”

“Nun denn, da du dich erfreulicher Weise daran erinnert hast, wie ich heiße, möchte ich dich jetzt höflichst bitten, deinen Revolver, den du ja sicherlich noch in der Hand hältst, weit weg zu werfen. Und dann legst du bitte die Hände hinter den Kopf. Tust du das für mich, ja? Nun, das ist aber lieb!”

Jerry tat, wie ihm geheißen.

“Was hast du vor?!”, fragte er angstvoll.

“Ich werde dich als Führer nehmen”, erklärte Thomas, “und weil du das offenbar nicht freiwillig machen möchtest, werde ich dich halt fesseln. Ein Paar Handschellen habe ich ja noch. Das ist bestimmt eine ganz besondere Erfahrung, mit gefesselten Händen durch den Dschungel zu laufen. Ist doch mal was anderes, nicht wahr?! Da wärst du besser kooperativ gewesen.”

Jerry hatte nun seinerseits den Eindruck, dass Thomas mit dem, was er sagte, überhaupt keine Scherze machte.

“Hör zu, Thomas”, setzte Jerry nochmal an, “wir sollten uns besser zusammentun. Wenn wir uns streiten, nützen wir nur unseren Verfolgern.”

“Ich glaube nicht, dass du dich in der Lage befindest, in der du Vorschläge machen kannst. Ich denke, ich werde das wohl ganz alleine mit mir selbst abmachen.”

“Thomas, bitte, ich hab’s nicht so gemeint...”

“Ach nein? Das sah aber eben gar nicht danach aus, als du mich verraten wolltest und mir die Reifen zerschossen hast!”

“Ich war sauer...”

“Ach, sauer warst du. Das liegt vielleicht an dem vielen Kaffee, den du zu trinken pflegst. Erzeugt eine Übersäuerung des Magens. Sehr ungesund. Du siehst ja, wohin das führen kann. Du solltest besser auf Tee umsteigen.”

“Thomas, komm schon, werd jetzt nicht ironisch.”

“Ich bin nicht ironisch, das ist wissenschaftlich erwiesen, dass Kaffee ungesund für den Säurehaushalt des Magens ist.”

“Thomas, du weißt ganz genau, wie ich das meine...”

“Weißt du, Jeremiah, ich glaube, du hast in deinem ganzen Leben noch nie so oft Thomas zu mir gesagt wie in den letzten fünf Minuten. Das ist wirklich ein ganz besonderer Genuss für mich. Und jetzt leg dich bitte mit dem Gesicht zum Boden der Länge nach hin, damit ich dich fesseln kann, ja?!”

“Thomas, ich...”

“Na, wird’s bald!”

“Hör mal, ich...”

“Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, Jeremiah, oder soll ich dir Beine machen?”, drohte Thomas und spannte den Hahn.

“Schon gut, schon gut, ich mach ja schon...”

Jerry ging auf die Knie und legte sich auf den Bauch, Gesicht zum Boden, so wie der Bruder es ihm befohlen hatte. Für einen Moment bezweifelte er, dass Thomas ihn wirklich fesseln würde, aber als er das Klirren der Handschellen hörte und die näherkommenden Schritte bemerkte, wurde ihm klar, dass Thomas Ernst machen würde.

Oh nein, dachte Jerry bitter, das ist die absolute Krönung. Ich befreie ihn, und zum Dank dafür nimmt er mich gefangen. Was bin ich doch für ein Vollidiot!

Thomas hatte ein Knie auf Jerrys Rücken gestützt und meinte: “So, dann gib mir mal das linke Patschehändchen...”

Jerry gehorchte.

“... und nun das rechte...”

Jerry hörte voller Angst das schnarrende Geräusch, das die Handschellen verursachten, als Thomas sie einrasten ließ. Dann packte der ihn an den Händen und zog ihn hoch. Nie zuvor im Leben hatte sich Jerry so vor seinem Bruder gefürchtet.

Der ist zu allem fähig, dachte er. Und sowas ist im Kirchenvorstand. Unglaublich. So ein Wolf im Schafspelz. Aber das sind die schlimmsten. Je frömmer sie daher kommen, desto fieser sind sie in Wirklichkeit. Lieber ein ehrlicher Heide sein als ein verlogener Christ.

Thomas hatte inzwischen den Revolver aufgesammelt, den Jerry weggeworfen hatte und war zum Jeep gegangen. Er holte den Seesack, den Rucksack und die Einkäufe aus dem Wagen und meinte dann: “Okay, sollen wir noch irgendwas mitnehmen? Denk daran, es ist auch in deinem Interesse!”

“Du solltest mal nachsehen, ob es brauchbare Utensilien im Handschuhfach oder in den Seitenfächern gibt. Am besten wäre es allerdings, du würdest mich mal nachsehen lassen.”

Jerry sah den Bruder unsicher an. Thomas zog die Augenbrauen hoch und meinte: “Damit ich dir die Fesseln abnehme und du mir anschließend einen über die Rübe ziehst?! Nein danke. Aber du kannst mal hier herumkommen und es dir ansehen. Herausholen kann ich es dann selbst.”

Jerry folgte der Aufforderung. Es befanden sich noch Karten und andere Kleinigkeiten im Wagen. Als Thomas sie herausholte, schaltete er durch Zufall das Radio an und vernahm ein Geräusch, das an den Anfang einer Nachrichtensendung erinnerte. Instinktiv sah Thomas auf seine Armbanduhr und bemerkte, dass es gerade 16.00 Uhr war. Er blickte Jerry fragend an, und der meinte: “Lass das Radio mal an.”

Einige Minuten verharrten sie schweigend, aber dann kam eine Nachricht, in der Thomas’ Name genannt wurde. Als die Sendung vorbei war, meinte Jerry: “Du kannst jetzt ausmachen. Schade, dass wir das Radio nicht mitnehmen können.”

“Was haben sie durchgegeben?”, wollte Thomas wissen, “sie nannten meinen Namen.”

“Hm”, erwiderte Jerry, “sie sagten, dass seit gestern ein amerikanischer Richter auf der Flucht sei, der mit der Drogenmafia unter einer Decke stecke. Er sei der hiesigen Polizei zweimal entwischt, als diese ihn festnehmen wollte. Der Bursche wäre schon seit Jahren im Geschäft, und sie hätten überhaupt nicht damit gerechnet, dass er das fehlende Glied in der Kette zu den Drogenbossen aus Kolumbien gewesen wäre. Ferner hätte er einen Verbündeten vor Ort, der ihm geholfen hätte zu fliehen. Jetzt suchen sie die beiden landesweit, wobei sie davon ausgehen, dass die Kerle nach Süden geflohen sind, weil sie nirgendwo an der Küste des Golfes von Paría gesichtet wurden. Schwer zu sagen, wie weit sie schon im Süden sind. Aber man hat eine Großfahndung eingeleitet.”

Jerry sah Thomas fragend an.

“Komm, lass uns abhauen”, meinte er schließlich, “das war ja ganz gut, dass wir die Sendung gehört haben, so wissen wir wenigstens, was unsere Verfolger wissen. Natürlich wissen die noch mehr, als in den Nachrichten durchgegeben wird, aber wenn sie so detailliert berichten, kann man davon ausgehen, dass sie dringend Hilfe brauchen, weil der Radius, in dem sie uns suchen müssen, einfach zu groß ist. Sie haben keinen Anhaltspunkt, in welcher Gegend wir uns aufhalten und hoffen auf Hinweise aus der Bevölkerung.”

Weil Thomas nicht reagierte, meinte Jerry: “Was ist? Bist du jetzt ge­schockt?”

“Nein”, erwiderte Thomas völlig geistesabwesend.

“Was ist dann? Hör mal, ich möchte lieber mit gefesselten Händen quer durch den Dschungel laufen müssen, als von den Spürhunden aufgegriffen zu werden und im Knast zu landen bzw. von der Drogenmafia umgebracht zu werden.”

“Ja... ja, schon gut, wir gehen ja gleich”, meinte Thomas immer noch nachdenklich, “Jeremiah, wirst du mich auch führen, wenn ich dir die Handschellen abnehme?”

“Du kannst Fragen stellen! Na klar!”

“So klar war mir das nicht. Schließlich wolltest du mich an meine Verfolger ausliefern und hast mir die Reifen zerschossen!”, ereiferte sich Thomas.

“Ich war wütend!”, meinte Jerry aufgebracht, “immerhin hattest du mir charmanterweise gesteckt, dass ich dich nicht hätte retten müssen.”

“Schon gut”, lenkte Thomas ein, “ich hab’s nicht so gemeint.”

“Dann sag’s auch nicht so, sondern sag’s, wie du’s meinst!”, murrte Jerry.

“Na komm, kleiner Bruder, sei nicht mehr sauer und dreh dich rum, damit ich dir die Fesseln abnehmen kann”, meinte Thomas versöhnlich.

Jerry wandte sich um, und Thomas schloss die Handschellen wieder auf.

“Also, dass du mich gefesselt hast, war ja wohl echt die Härte!”, murrte Jerry verärgert, während er sich die Handgelenke rieb.

“Kleines Missverständnis”, lenkte Thomas ein.

“Dann möchte ich aber nicht wissen, was du im Falle eines großen Missverständnisses machst”, brummte Jerry immer noch beleidigt.

“Ja, sorry, tut mir leid”, versuchte Thomas, Jerry zu besänftigen, “und, was schlägst du vor?”

“Lass uns das Gepäck schultern, und dann nichts wie ab. Wir haben schon genug Zeit durch unsere nutzlose Streiterei verloren.”

Jerry schnappte sich den Seesack und lud Thomas den Rucksack auf. Als er ihm das Gepäckstück hinhielt, bemerkte er, dass Thomas blutete.

“Warte mal, was ist das denn?”, meinte er.

“Wieso, was meinst du?”, gab Thomas zurück.

“Du blutest”, entgegnete Jerry und sah den Bruder sorgenvoll an.

“Ach, ist bestimmt nur ein kleiner Kratzer.”

“Du solltest das nicht zu leicht nehmen, Tom, damit ist nicht zu spaßen. Ich werde mir das später mal ansehen. Es ist nämlich nicht angebracht, dass du hier den Helden spielst. Wenn sich das entzündet und du Fieber kriegst, brauchen wir nämlich erst gar nicht loszugehen.”

“Meinetwegen sieh es dir an, aber wenn wir uns jetzt nicht langsam beeilen, brauchen wir wirklich nicht mehr loszugehen”, drängte Thomas.

“Okay, dann wollen wir mal, Tom”, stimmte Jerry zu, “alles hört auf mein Kommando!”

Er sah den Bruder grinsend an und ging voraus.

“Und denk daran, Jeremiah”, entgegnete Thomas mit gespieltem Ärger, “mein Name ist Thomas!”

“Alles klar, ich werd’s mir merken, Tom!”

“Ich werd dir Beine machen!”, meinte Thomas jetzt doch ein wenig säuerlich.

Jerry spurtete vorsichtshalber ein Stückchen voraus. Als er merkte, dass Thomas ihm nicht hinterher kam, verlangsamte er sein Tempo und drehte sich um.

“Na, was ist, wo bleibst du denn? Wir sind auf der Flucht!”

“Hey, ich bin schon etwas älter”, konterte Thomas.

“Etwas älter”, erwiderte Jerry spöttisch, “wie alt bist du jetzt... neun und vierzig oder schon fünfzig?!”

“Ich werde in ein paar Wochen fünfzig.”

“Na, dann wollen wir doch mal sehen, dass du zu deinem runden Geburtstag wieder im Kreise deiner Lieben bist”, meinte Jerry aufmunternd.

“Das macht mir jetzt echt Mut”, gab Thomas erfreut zurück.

“Nur dass ich leider nicht in den Kreis meiner Lieben zurückkehren kann”, seufzte Jerry.

“Wieso? Das tust du doch, wenn wir es bis nach New York schaffen.”

“Diese lieben Verwandten in Amerika meinte ich auch nicht”, erklärte Jerry, “sondern meine neue Familie in San Juan.”

“Aber wenn das hier vorbei ist, kannst du doch zurückgehen.”

“Wenn das hier vorbei ist, werde ich nie wieder in San Juan de las Galdonas vorbeischauen können”, erwiderte Jerry missmutig, “ich habe den Ort und mein trautes Heim heute zum letzten Mal gesehen!”

“Wieso, ich bin doch unschuldig!”

“Das ist doch egal, ob du unschuldig bist oder nicht! Wenn du unschuldig bist, habe ich anschließend die Drogenbarone am Hals, weil die sauer sind, dass ich es ihnen vermasselt habe, dich zu kriegen. Wenn du schuldig bist, dann habe ich einem Verbrecher zur Flucht verholfen.”

“Aber ich bin unschuldig, und außerdem werde ich die Drogenbarone fertigmachen!”, fuhr es aus Thomas heraus, “ich habe echt geniales Beweismaterial. Und ich werde meine Unschuld beweisen. So schnell gebe ich nicht auf. Dann kannst du an deinen geliebten Strand zurück!”

“Träum’ weiter, juristischer Held. Kein Mensch kann die Drogenbarone fertigmachen.”

“Doch, ich kann es schaffen mit dem Beweismaterial, das ich habe!”

“Sicher”, entgegnete Jerry müde.

“Du glaubst mir nicht!”, erregte sich Thomas.

“Nein, und bitte hör jetzt auf damit. Es ist mir so egal. Ich bin müde und genervt. Erzähl es mir ein anderes Mal. Und glaub mir, diese Geschichte interessiert mich wirklich. Ich werde dich mit Sicherheit daran erinnern, sie mir zu erzählen. Das wäre nicht nur eine nette Unterhaltung vor dem Schlafengehen, sondern auch extrem wichtig, damit ich weiß, was gelaufen ist.”

“Du nimmst mich nicht ernst!”

“Doch, das tue ich. Und ich meine es sogar sehr ernst. Wir können nämlich nicht im Dunkeln durch den Dschungel wandern. Das ist ausgeschlossen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit, so gegen 18.30 Uhr bis 19.00 Uhr sind es nur noch knapp zwei Stunden. Dann müssen wir rasten. Also, lass uns mal ein bisschen Tempo machen, damit wir heute noch ein gutes Stück vorankommen und unseren Vorsprung ausbauen.”

Jerry zog das Tempo an, und schweigend wanderten sie hintereinander her.

Für einen Taugenichts ist er erstaunlich clever, dachte Thomas, Jeremiah hat wirklich an alles gedacht. Sogar an einen Kompass. Und er besitzt ebenfalls ein Buschmesser. Das kommt uns hier sehr zunutze.

Weil sie sich in Äquatornähe befanden, brach die Dunkelheit sehr schnell herein. Jerry hatte gerade einen geeigneten Platz zum Lagern ausgesucht, da wurde es auch schon dunkel. Thomas fühlte sich unbehaglich. Der Wald war voller unbekannter Geräusche, feucht, dunkel und unheimlich. Außerdem musste es eine Ewigkeit her gewesen sein, dass er im Freien übernachtet hatte. War es in einem Ferienlager in seiner Kinderzeit gewesen oder beim Militär? Thomas hatte es schon in seiner Kindheit gehasst zu zelten oder Nachtwanderungen zu machen. Er fand das absolut sinnlos, weil man doch genügend Geld hatte, um in einem richtigen Bett schlafen zu können, und nachts sah man eh nichts, wozu also im Dunkeln durch die Gegend laufen und womöglich noch über die eigenen Beine fallen.

Von daher war Thomas froh, dass Jerry eine kleine Petroleumlampe angezündet hatte, die wenigstens den Platz, wo sie lagerten, ein wenig erhellte. Jerry kramte in dem Seesack und beförderte einige Lebensmittel zu Tage. Erst jetzt merkte Thomas, was für schrecklichen Hunger er hatte.

Jeremiah hat wirklich an alles gedacht, dachte Thomas anerkennend, Kompliment.

Der Bruder kam auf ihn zu und reichte ihm eine Art Riesenkräcker, ein ziemlich hart gebackenes Brot.

“Hier, Abendbrot”, meinte er, “teil’s dir gut ein, mehr gibt’s nicht. Wir müssen sparen mit unserem Proviant.”

“Was hast du denn gekauft?”, wollte Thomas wissen.

“Einige von diesen Broten und Tütenfutter, das man mit Wasser zubereiten kann. Außerdem hab ich einen kleinen Spirituskocher dabei, weil man ja hier kein Feuer machen kann. Es ist zu nass. Und ich wollte auch den Regenwald nicht abfackeln.”

“Und wie sieht’s mit Wasser aus?”

“Ich habe welches in der Feldflasche. Und ich habe ein paar Plastikschüsseln gekauft, die können wir aufstellen, wenn es regnet. Wir sollten aber trotzdem vorsichtig damit umgehen. Ich weiß nicht, wie ergiebig das sein wird, wenn wir Regenwasser in Schüsseln auffangen. Ferner werden wir es zur Sicherheit abkochen und Kaffee machen. Du wirst in der nächsten Zeit ziemlich viel Kaffee trinken, Bruderherz!”

Jerry sah seinen Bruder grinsend an.

“Auf keinen Fall!!!”, wehrte Thomas ab, “und wenn ich sage, auf keinen Fall, dann meine ich auch auf keinen Fall!”

“Und wenn ich sage, du wirst, dann wirst du. Kaffee desinfiziert, und da du eine Zivilisationsmimose bist, wirst du wohl nicht drum herumkommen. Ferner habe ich auch einige Medikamente dabei, so eine Art Notfallapotheke.”

“Deshalb warst du in der Apotheke...”

“Richtig. Wenn nämlich einer von uns krank wird, haben wir ein extrem großes Problem!”

Jerry blickte den Bruder gebieterisch an.

“So, und jetzt werde ich mir deine Verletzung ansehen, denn ich glaube nicht, dass es nur ein kleiner Kratzer ist, wie du behauptest. Das Blut war bis in den Ärmel des Jeanshemdes durchgesaftet, es ist bestimmt eine größere Wunde. Am besten wird sein, du machst den Oberkörper frei.”

Thomas tat, wie ihm geheißen und hängte Jeanshemd und T-Shirt an einen abgestorbenen Ast, um sich sofort wieder dem Bruder zuzuwenden.

“Hm, sieht nicht gut aus”, murmelte er besorgt, holte sich die Petroleumlampe heran und leuchtete auf die Stelle.

“Was ist?”, erkundigte sich Thomas, der jetzt auch ein wenig besorgt war.

“Sieht aus wie ein Streifschuss”, erklärte Jerry, “hat ein schöne Fleischwunde gegeben. Dabei hab ich doch nur auf die Reifen gezielt.”

“Vielleicht hast du einen Knick in der Optik”, entgegnete Thomas gereizt.

“Jetzt werd mal nicht frech”, rechtfertigte sich Jerry, “kann ja auch von einer verirrten Kugel stammen. Und außerdem hab ich’s nicht absichtlich gemacht. Im Gegensatz zu dir. Das war echt ein starkes Stück von dir, Tom, dass du mich in Handschellen gelegt hast. Werd ich bestimmt nicht so schnell vergessen.”

“Mann, sei nicht so nachtragend. Ich hatte Angst. Immerhin wolltest du mich meinen Feinden ausliefern. Und du hast mich erst auf die Idee mit den Handschellen gebracht, weil du sagtest, du wollest mich k.o. schlagen, fesseln und bei der nächsten Polizeistation abliefern. ‘Das wird meine Glaubwürdigkeit erhöhen!’ Deine Worte, Jeremiah!”, konterte Thomas.

“Okay, und jetzt nimm deine neugierige Nase mal da weg, du behinderst mich.”

Jerry war aufgestanden und holte aus dem Seesack ein Päckchen. Er drückte Thomas einige Utensilien in die Hand und holte ein sauberes Tuch hervor, mit dem er die Wunde notdürftig säuberte, so gut es eben ging. Thomas zuckte ganz schön zusammen.

“Tut’s weh?”, fragte Jerry besorgt.

“Nein, du kitzelst mich!”, gab Thomas mit einem säuerlichen Unterton zurück.

“Nun sei mal nicht so zimperlich”, murrte Jerry, “ein Indianer kennt keinen Schmerz.”

“Und ein Indiana Jones schon gar nicht oder wie?”, hielt Thomas dagegen.

Jerry musste lachen.

“Scheinst dich da ja auszukennen.”

“Nein, nicht wirklich, aber in der letzten Zeit bin ich von diversen Leuten damit genervt worden.”

“Das verstehe ich nicht.”

“Ach, ich war da auf einer elenden Cocktailparty beim Bürgermeister. Als ein paar von den Typen in der Gesprächsrunde hörten, dass ich nach Venezuela fahren will, meinten sie, das wäre ja wie bei Indiana Jones.”

Jerry kriegte einen Lachanfall und wand sich.

“Was ist daran so komisch?!”, fuhr Thomas ihn an.

“Aber sie haben dir nicht empfohlen, an Hut und Peitsche zu denken, wie?!”

Jerry krümmte sich immer noch.

“Wenn dein Heiterkeitsanfall irgendwann mal beendet sein sollte, Jeremiah, wäre ich dir sehr verbunden, wenn du mir erzählen würdest, was dich so erheitert hat!”, grummelte Thomas.

“Ich denke, du kennst dich aus”, meinte Jerry und kicherte immer noch ein wenig.

“Nein, nicht wirklich”, knurrte Thomas verstimmt.

“Hut und Peitsche sind sozusagen das Markenzeichen von Indiana Jones, so wie die schlechte Laune dein Markenzeichen ist.”

“Vielen Dank!”, entgegnete Thomas eingeschnappt.

“Hey, war nicht bös gemeint”, lenkte Jerry ein.

“Bei dir ist anscheinend nie was bös gemeint”, murrte Thomas und war immer noch ein wenig beleidigt.

“Okay, jetzt halt still, damit ich ein bisschen Jod auf die Wunde tun kann. Es wird brennen, das kann ich dir prophezeien, und ich halte dich auch nicht für eine Mimose, wenn du schreist. Okay, es geht los. Der böse Onkel Doktor Jeremiah verarztet jetzt den kleinen Tom.”

Jerry hatte nicht zu viel versprochen. Als er die Wunde mit Jod beträufelte, schrie Thomas auf.

“Das macht dir wohl Spaß!”, jammerte Thomas.

“Ja, ohne Ende!”, meinte Jerry ironisch, “in meinem früheren Leben war ich Folterknecht!”

“Oh Mann, das brennt wie Feuer”, stöhnte Thomas.

“Kleiner Kratzer, hä? Ich sag dir jetzt mal was: Das ist eine ernstzunehmende Sache. Tut mir leid, dass es jetzt weh tut, aber es muss sein. Wenn es sich entzündet, kriegen wir richtig Freude. Also, halt still. Es ist gleich vorbei”, entgegnete Jerry tröstend.

“Na gut.”

Beim zweiten Mal ging’s schon besser. Thomas verzog zwar das Gesicht und biss die Zähne zusammen, aber es ließ sich besser aushalten als eben.

“Das war wohl der Schreck, dass du so geschrieen hast”, meinte Jerry mütterlich, “und jetzt werde ich dich verbinden. Dann kannst du dich wieder anziehen, großer Meister. Und leg dich bitte heute Nacht nicht auf die rechte Seite, damit die Wunde nicht gereizt wird, okay?”

“Ich werd mich bemühen”, versprach Thomas, “aber ich kann für nichts garantieren.”

“Schon gut, der gute Wille zählt”, erwiderte Jerry versöhnlich.

“Allerdings glaube ich, dass ich sowieso kein Auge zumachen kann in der Nacht”, meinte Thomas.

“Solltest du aber”, mahnte ihn sein Bruder, “wir haben morgen viel vor. Von daher musst du Kräfte sammeln. Da du sonst den ganzen Tag im Büro bist, dürfte unser Marsch sehr anstrengend für dich werden.”

“Ich treibe Ausgleichssport”, rechtfertigte sich Thomas.

“Ja, aber der besteht bestimmt nicht darin, bei mindestens 90° F (entsprechen 32° C) und 98% relativer Luftfeuchtigkeit einen Gewaltmarsch durch den Dschungel zu machen. Und ehrlich gesagt, ich bin an sowas auch nicht gewöhnt. Höchstens an die Temperaturen. Das wird also noch richtig ätzend für uns, so viel ist sicher.”

“Mach mir noch Mut”, maulte Thomas.

“Hey, ich wollte das nur mal realistisch darstellen. Also, es wird anstrengend, aber wir wissen ja auch, wofür wir das machen. Schließ­lich wäre die Alternative Gefängnis oder Tod. Apropos Alternative, morgen musst du mir erzählen, was du angestellt hast, dass sie so hinter dir her sind, damit ich endlich im Bilde bin und uns nicht um Kopf und Kragen bringe.”

“Ja, das war allerdings sehr blöd von dir, dass du in der Bar geplaudert hast.”

“Komm, komm, du hattest mich doch nicht eingeweiht. Im Gegenteil, du hast mir diese Versöhnungsgeschichte aufgetischt. Ich weiß bis heute noch nicht, was passiert ist, und warum Ramírez dich abschießen will.”

“Kann’s dir gern erzählen!”

“Morgen, für heute habe ich die Schnauze voll vom Abenteuer.”

“Wie du meinst!”

“Ja, ich meine, und jetzt halt die Klappe, damit ich schlafen kann.”

Jerry rollte sich an einem Baumstamm zusammen und schlief schon bald ein. Thomas hatte sich ebenfalls zurückgelehnt und starrte in die undurchdringliche Dunkelheit. Nachdem Jerry die Lampe ausgemacht hatte, um Petroleum zu sparen, war es stockfinster geworden. Thomas fühlte sich wie in einer Sauna, wenn jemand das Licht ausgeknipst hat. Die hohe Luftfeuchtigkeit machte ihn ganz schön fertig. Und dazu diese modrigen Gerüche. Irgendwie stank es hier. Aber man konnte halt nichts machen. Eben auf der Wanderung war der Gestank nicht so penetrant gewesen. Oder er hatte sich das nur eingebildet, weil er jetzt mehr darauf achtete?! Am schlimmsten fand er die Geräusche. Wer wusste schon, was für Viechzeug hier unterwegs war. Er hatte daheim mal einen Ausschnitt einer Dokumentation im Fernsehen gesehen, als er nach Hause kam und Sophie suchte. Als er dann Sophie vor dem Fernseher fand, sah sie sich gerade eine Sendung über den südamerikanischen Regenwald an und diese ganzen Probleme, die mit dem Raubbau daran zu tun hatten. Es wurden u. a. nachtaktive Tiere gezeigt. Raubtiere waren auch dabei gewesen. Und alle möglichen komischen Tiere, die er noch nie zuvor gesehen hatte und die eklig aussahen. Und giftige Tiere. Bei dem Gedanken, dass ihm irgend so eine gefährliche Spinne in die Kleidung kriechen oder eine große Schlan­ge ihn einwickeln und erwürgen könnte, standen ihm die Haare zu Berge. Wie konnte Jeremiah da so ruhig schlafen?! Auf der anderen Seite konnte man eh nichts dagegen unternehmen. Man sah ja die Hand vor Augen nicht. Selbst wenn irgend so ein Vieh es auf einen abgesehen hatte, würde man es erst bemerken, wenn es einen schon fast gefressen hatte.

Schöne Aussichten sind das, dachte Thomas.

So blieb er sehr lange wach und lauschte mit weit aufgerissenen Augen auf die Geräusche des Waldes.

Irgendwann in der Nacht gesellte sich ein neues Geräusch hinzu. Zuerst wusste er nicht, was es war und bekam schreckliche Angst, weil es immer lauter wurde. Aber dann bemerkte er, dass es vom fallenden Regen herrührte. Die Tropfen kamen nur spärlich am Boden an, aber nach einiger Zeit ging so ein Guss nieder, dass er geduscht wurde.

Jerry wurde vom Regen wach. Er verzog den Mund und meinte mit dem Mut der Verzweiflung in Thomas’ Richtung: “Darum heißt das hier Regenwald! Aber einen Trost haben wir. Wir werden uns bei der Wärme nicht so schnell erkälten. Hoffe ich zumindest.”

“Das baut mich jetzt echt auf”, erwiderte Thomas.

“Versuch, wieder zu schlafen!”, mahnte Jerry.

“Wieder?”, meinte Thomas fragend, “ich hab die ganze Nacht noch kein Auge zugetan.”

“Dann versuch es nochmal. Es wird morgen ein anstrengender Tag!”

“Na schön, ich werde mich bemühen!”

“So ist’s brav. Gute Nacht, großer Bruder!”

Thomas saß trotz seiner Bemühungen noch lange wach. Aber irgendwann übermannte ihn doch der Schlaf. Trotzdem fühlte er sich am nächsten Morgen wie gerädert, und alles tat ihm weh. Wie sehnte er sich nach Jerrys unbequemem Canapé. Das war ja der reinste Luxus gegen diesen modrigen Boden.

Jerry schien das alles nicht so viel auszumachen. Er war schon wach, als Thomas müde die Augen öffnete. Inzwischen war es wieder hell geworden, und Jerry kochte Kaffee.

Davon werde ich bestimmt nichts trinken, schließlich kann er mich nicht zwingen, dachte Thomas energisch.

Jerry sah von seiner Arbeit auf und bemerkte, wie sich Thomas streckte und die Augen rieb.

“Guten Morgen, Tom! Na, wie hast du geschlafen?”, meinte er voller Energie.

“Frag’ nicht”, entgegnete Thomas mit muffeligem Gesicht, “ich habe das Gefühl, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen!”

“Das immer so, wenn man die erste Nacht in einer unbekannten Umgebung ist. Morgen Abend wird es schon besser gehen. Und glaub mir, nach ein paar Monaten schläfst du wie ein Baby!”

“Nach ein paar Monaten?!”, fuhr Thomas entsetzt hoch.

“Na ja, kleiner Scherz von mir, aber ein paar Wochen werden wir wahrscheinlich schon brauchen.”

“Dann werden wir aber nicht zu meinem Geburtstag in New York sein, wie du gemeint hast.”

“Nein, das sieht nicht gut aus.”

“Hm, na ja, auch nicht so schlimm. Hauptsache, wir schaffen es, und sie kriegen uns nicht. Alles andere ist unwichtig.”

“Das ist eine gute Einstellung, Tom. Und jetzt werden wir frühstücken. Hier ist dein Kaffee!”

Jerry reicht dem Bruder einen Aluminiumbecher mit schwarzem Kaffee.

“Milch und Zucker haben wir leider nicht, aber der Kenner trinkt ihn eh schwarz”, fügte er grinsend an.

“Tja, Jeremiah, wirklich sehr lieb, dass du dir so viel Mühe gemacht hast, aber leider war das umsonst. Ich werde keinen Kaffee trinken. Vergiss es. Keine zehn Pferde bringen mich dazu!”

Thomas machte eine abwehrende Handbewegung.

“Okay”, entgegnete Jerry, “wie du willst. Ich würde allerdings warmen Kaffee bevorzugen.”

Er nahm den Becher zurück und stellte ihn vorsichtig beiseite.

“Was wird das jetzt?!”, wollte Thomas wissen.

“Ich lasse den Becher auskühlen, damit ich den Kaffee später in eine Plastikflasche umfüllen kann. Auf diese Weise hebe ich dir deinen Kaffee auf”, befand Jerry mit stoischer Ruhe, “für gleich, wenn du Durst be­kommst.”

“Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich gleich kalten Kaffee trinken werde, wenn ich Durst bekommen sollte. Ich habe schon keinen heißen Kaffee getrunken, also denk nicht, dass ich kalten Kaffee trinke. Ich werde überhaupt niemals Kaffee trinken, lieber verdurste ich!”, erregte sich Thomas.

“Glaub mir, du wirst”, hielt Jerry dagegen, “und wenn ich dich niederschlagen und ihn dir löffelweise einflößen muss. Du musst trinken. Du schwitzt doch hier ohne Ende. Natürlich ist Kaffee nicht sonderlich zum Durstlöschen geeignet, weil er dem Körper Wasser entzieht, aber es ist wenigstens etwas Flüssigkeit. Nur solange, bis du dich akklimatisiert hast. Dann kannst du auch Wasser trinken.”

“Warum hast du keinen Tee gekauft?”

“Hab keinen gesehen.”

“Du lügst! Du hast alles Mögliche gekauft, warum also keinen Tee!?”

“Hör mal, ich konnte kein 5-Gang-Menü mit auf die Flucht nehmen!”

“Ich rede hier auch nicht von Gourmetfutter, sondern von ein paar extrem leichten Teeblättern!”

“Wir haben nur ein Gefäß, um Getränke darin zuzubereiten, und ich wollte mich mit dir nicht deswegen streiten, dass du behauptest, in dem Gefäß dürfe ich keinen Kaffee kochen, nur weil dann der ganze Teegeschmack verdorben wird.”

“Also hast du’s doch extra gemacht!”

Thomas war wütend.

“Na ja, es ist wirklich nicht von ungefähr, dass die Leute hier unten ziemlich scharf würzen und viel scharf gerösteten Kaffee trinken. Das muss wohl wirklich desinfizieren, so dass sie nicht so schnell Durchfall bekommen”, lenkte Jerry ein.

“Du willst mir nur einen Bären aufbinden!”, ereiferte sich Thomas immer weiter.

“Nein, ehrlich, kein Witz!”, rechtfertigte sich Jerry, “aber frag mich nicht, in welcher medizinischen Fachzeitschrift das gestanden hat. Es ist einfach eine Lebenserfahrung. Die Leute haben hier nicht so viel Geld, dass sie es in alle möglichen Medikamente investieren können. Da behilft man sich eben so.”

“Mit Kaffee!”

“Ja, mit Kaffee, wenn’s denn recht ist!”

“Ich glaube, dass das deine ganz private Jeremiah-McNamara-Lebenserfahrung ist. Also erzähl mir hier nicht einen vom Pferd.”

“Na schön, was soll’s. Aber ich glaube nicht, dass du im Zweifelsfall lieber verdursten würdest.”

“Nun, das werden wir ja dann sehen!”, brummte Thomas.

Nach dem Frühstück brachen die beiden auf. Jerry ging voraus und bahnte den Weg. Trotzdem kamen sie nur langsam voran. So ein Marsch durch unwegsames Gelände war eben kein Spaziergang. Immer wieder gingen auch Regenschauer nieder, denn es war Regenzeit. Außerdem machten die hohe Luftfeuchtigkeit und die Wärme den beiden Männern zu schaffen. Gegen Mittag legten sie eine kurze Rast ein. Jerry teilte für sie eins der seltsamen hartgebackenen Brote, gab Thomas einen kleinen Schluck aus der Feldflasche zu trinken und trank selbst auch.

“Hoffentlich kriegst du keinen Durchfall”, meinte er besorgt, “das schwächt.”

“Glaub ich nicht, ich bin nicht so empfindlich”, gab Thomas zurück.

Am Nachmittag merkte Thomas allerdings schon, wie es in seinem Leib rumorte.

Vielleicht hat Jeremiah doch Recht gehabt, dachte Thomas besorgt.

Kurze Zeit später schlug er sich seitlich ins Gebüsch.

Jerry grinste.

Na, Bruder Besserwisser, hat’s dich erwischt?! dachte er mit einer gewissen Häme.

Einige Zeit später erschien Thomas wieder und meinte: “Hattest du auch Kohletabletten gekauft?”

“Hm”, meinte Jerry und reichte ihm die Schachtel. Thomas nahm sich zwei Tabletten heraus und wollte gerade sagen ‘Hast du etwas Wasser für mich?’, als er sich besann, dass das Wasser wohl so eine anregende Wirkung auf seinen Verdauungstrakt gehabt hatte. Aber Jerry reichte ihm schon eine Flasche mit einer wasserhellen Flüssigkeit.

“Hier, spül’ sie damit runter!”

“Was ist das?”, fragte Thomas misstrauisch.

“Schnaps”, antwortete Jerry.

“Tabletten und Alkohol!? Bist du verrückt?!”, ranzte Thomas ihn an.

“Das ist in Form gepresste Kohle, also zier dich nicht so!”

“Und der Schnaps desinfiziert, wie?!”, meinte Thomas argwöhnisch.

“Genau!”, kommentierte Jerry grinsend die Szene.

“Gib schon her!”, entgegnete Thomas muffelig und riss ihm die Flasche fast aus der Hand.

“Na also, klappt doch”, befand Jerry hochzufrieden.

“Du findest das wohl komisch, wie?”, murrte Thomas.

“Nein, ehrlich gesagt, nicht so sehr. Nur dein Geterze ist amü­sant!”, meinte Jerry und zog die Augenbrauen hoch.

“Werd jetzt nicht frech, Jeremiah!”, brummte Thomas.

“Oh, dank mir nicht!”, gab Jerry verärgert zurück.

“Schon gut”, lenkte Thomas ein, “okay, dann lass uns mal weitergehen.”

Als sie einen Lagerplatz gefunden hatten und die Dunkelheit hereinbrach, waren beide so fertig, dass sie fast auf der Stelle einschliefen. Jerry wollte seinen Bruder noch daran erinnern, ihm zu erzählen, warum er die Verfolger am Hals hatte, aber er war zu müde, und Thomas ging es genauso. In Minutenschnelle hatten sie gegessen und schliefen vor Erschöpfung ein.

Paradoxe Gerechtigkeit

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