Читать книгу Paradoxe Gerechtigkeit - Stefanie Hauck - Страница 7
Teil 1 – Kapitel 4
ОглавлениеThomas hatte sich durch den Abend mit Martha wieder abgeregt. So war er am nächsten Morgen glücklicherweise einigermaßen genießbar. Er verbarrikadierte sich den ganzen Tag mit Philip in seinem Büro und klärte seinen Kollegen genau über alles auf, was Smith recherchiert hatte. Dann wies er ihn an, das Material am besten in einem Bankschließfach zu deponieren, bis er wieder zurück in New York wäre. Ferner sollte Philip die Schlüssel zu dem Fach bei zwei absolut vertrauenswürdigen Freunden von ihm, die sich nicht kannten, hinterlegen. Falls nun Thomas oder Philip etwas zustoßen sollte, könnten diese Leute an die Unterlagen herankommen, damit den Tod der beiden Männer rächen und die Drogenbarone doch noch zur Strecke bringen.
Am Morgen seines Abflugtages schaute Thomas kurz bei seinen beiden Sekretärinnen herein und packte ihnen noch ein bisschen mehr Arbeit auf die Schreibtische.
“Wo ich schon bis Ende der Woche außer Haus bin”, meinte er jovial, “nicht, dass Ihnen langweilig wird, wenn ich weg bin.”
Haha, dachten Maggie und Sally, unseretwegen kannst du bleiben, wo der Pfeffer wächst. Der wächst nämlich ungefähr da, wo du hinfährst. Vielleicht frisst dich ja auch ein Hai oder sonst ein wildes Tier. Das wäre kein Verlust. Höchstens schade um das Tier, das dich frisst. Du wirst ihm bestimmt schlecht bekommen, und womöglich krepiert es noch an dir, du Kotzbrocken.
Nachdem Thomas zum Flughafen aufgebrochen war, beeilte sich Philip, das hochbrisante Beweismaterial in Sicherheit zu bringen. Er ging zu der Bank, die dem Gerichtsgebäude gegenüberlag, mietete dort ein Fach für die Unterlagen und war sehr zufrieden, als er die beiden Schlüssel dazu ausgehändigt bekam. Nun stand er allerdings vor einer wichtigen Frage: Bei wem sollte er die Schlüssel hinterlegen?
Tja, jetzt wird es erst richtig interessant, dachte er, wer dürfen die beiden “Glücklichen” sein, die die Schlüssel aufbewahren sollen und im Zweifelsfalle Thomas’ und meinen Tod rächen? Hm, sie dürfen in nicht zu engem Kontakt zu mir stehen, damit sie nachher nicht selbst dran sind. Maggie und Sally wollte Thomas ja verständlicherweise nicht einweihen, weil der Gegner auf sie als erstes kommen wird. Die beiden tun mir leid. Wenn etwas schiefgeht, hängen sie mit drin, und niemand wird ihnen glauben, dass sie von der ganzen Sache nichts gewusst haben. Die sitzen, ohne es zu ahnen, auf einem Pulverfass, das jederzeit hochgehen kann.
Philip fiel ein alter Studienkollege ein, der drüben in Connecticut eine Anstellung als Richter hatte. Martin war ein langjähriger Freund, aber sie hatten nicht viel Kontakt, weil sie beide sehr beschäftigt waren. Trotzdem hatte das der Freundschaft keinen Abbruch getan. Auch wenn sie sich wenig sahen, so brauchte es nicht lange, bis sie wieder auf einer Wellenlänge waren. Sie wussten, wo der andere stand und hatten großes Vertrauen zueinander.
Das macht sich ganz prima, dachte Philip, Martin gehört nicht zu dem Kreis der Leute, die ich regelmäßig sehe. Auf den würden die Kolumbianer nicht so schnell kommen. Und er ist absolut vertrauenswürdig. Wenn ich ihn um einen Gefallen bitte und ihm sage, dass ich ihm leider nicht die näheren Umstände erklären kann, wird er diskret sein und keine Rückfragen stellen. Na gut, ihn werde ich heute Abend besuchen. Oder nein, noch besser, ich fahre gleich rüber zu ihm und besuche ihn im Gericht, denn mein Anliegen ist ja dienstlicher Natur. Ferner fällt es gar nicht auf, wenn ich ihn während der Arbeitszeit treffe, weil man nur schwerlich damit rechnet, dass es um so eine brisante Sache geht. Und den zweiten Schlüssel hinterlege ich bei einem Notar mit einer Anweisung, was er machen soll, wenn ich ins Gras beiße.
Martin war positiv überrascht, als Philip bei ihm kurz vor Dienstschluss auftauchte. Er nahm den Freund mit in sein Büro und erkundigte sich nach dessen Ergehen sowie dem Grund des unverhofften Besuches.
“Eine dienstliche Angelegenheit! Ich brauche deine Hilfe”, erwiderte Philip.
“Na, dann schieß mal los, Philip, worum geht es?!”
“Tja, es ist ein wenig außergewöhnlich. Ich hoffe, dass du für das, was ich dir jetzt erzähle, Verständnis haben wirst.”
Philip sah den Freund unsicher an.
“Philip, ich bin dein Freund!”
“Okay, ich weiß”, wiegelte Philip ab, “aber ich bin da in etwas hineingeraten, was mir über den Kopf wachsen könnte bzw. mich den Kopf kosten könnte.”
“Es ist doch nicht etwas Illegales?!”, meinte Martin besorgt.
“Nein, aber es ist eine sehr zweischneidige Sache”, entgegnete Philip seufzend, “Martin, ich kann dich leider nicht einweihen. Bitte stell keine Fragen. Alles, um was ich dich bitte, ist, diesen Schlüssel hier für mich aufzubewahren. Er ist eine Art Lebensversicherung. Falls mir was zustoßen sollte, geh bitte zu der Bank, die dem Gerichtsgebäude, wo ich arbeite, gegenüberliegt. Er passt zu einem Kundentresorfach, die Nummer ist auf dem Schlüssel eingraviert.”
“Was liegt da drin?”
“Beweismaterial.”
“Warum deponierst du als Richter des Obersten Gerichtshofs von New York City Beweismaterial in einem Kundentresor?!”
“Weil der vorsitzende Richter es mir aufgetragen hat.”
“Tickt McNamara jetzt völlig aus?”
“Allerdings”, erwiderte Philip, “er ist nach Venezuela gereist. Offiziell in einer privaten Angelegenheit.”
“Und inoffiziell?”
“Er will das letzte Mosaiksteinchen des Beweismaterials besorgen”, Philip sah sehr bekümmert drein, “genauso gut könnte er sich mit einem Fanfarenstoß ankündigen! Er ist besessen! Besessen von dem Gedanken, er könne sie alle vernichten. Und er kann absolut nicht warten, bis ihm sein Informant, der ihm bisher die brisanten Unterlagen besorgt hat, auch noch jenes letzte Dokument zukommen lässt. Das ist eine ganz große Sache, Martin. Es geht hier nicht um einen Verbrecher, sondern um eine ganze Organisation.”
“Sag jetzt nicht, er will die Drogenmafia ausrotten!”, entgegnete Martin entsetzt und verdrehte nur die Augen.
Philip nickte.
“Oh mein Gott”, entfuhr es Martin.
“Der möge uns behüten”, stöhnte Philip, “aber wenn er das nicht tut und mir was passiert, gehst du zu dem Tresorfach und holst das Beweismaterial raus. Und dann machst du die Schweine bitte in meinem Namen fertig, okay?”
Philip sah Martin flehend an.
“Mit oder ohne Polizeischutz?”, konterte Martin mit gespieltem Sarkasmus.
“Am besten unter den Augen der New Yorker Öffentlichkeit. Geh damit zur Presse. Je mehr Mitwisser es gibt, desto sicherer ist dein Leben.”
“Das hört sich ja wunderbar an”, kommentierte Martin zerknirscht, “weißt du eigentlich, was du da von mir verlangst?!”
“Ja, Martin, aber ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Bitte, wenn ich schon sterben muss, weil mein Kollege größenwahnsinnig ist, dann möchte ich wenigstens sicher sein, dass nicht alles umsonst war. Falls die Mafia ihn da unten in Venezuela lang macht, dann ist sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Und ich habe so ein komisches Gefühl, als wenn das nicht gut gehen kann. Sollte es aber doch gut gehen, dann wird Thomas am kommenden Montag eine Hetzjagd anfangen, wie du sie noch nie gesehen hast.”
Martin nickte und biss sich auf die Lippen.
“Aber du hast ihm schon gesagt, dass er offiziell nicht der Jäger sein kann?”, erkundigte sich Martin.
“Na klar, aber er wird schon einen Staatsanwalt finden, den er sozusagen als Bauern vorschickt. Und außerdem ist für ihn die Genugtuung, seine Feinde aburteilen zu können, doch viel größer, als wenn er sie nur anklagen würde. Schließlich kann er als Richter das Strafmaß festlegen.”
Martin schnaufte nur leicht.
“Warum gerät euer Dr. Gnadenlos eigentlich so in Hektik?”, wollte er wissen.
“Keine Ahnung”, seufzte Philip, “vielleicht weil er sich davon Vorteile für eine Berufung an den Obersten Gerichtshof in Washington erhofft. Schließlich macht er damit einen ziemlichen großen Karrieresprung, zu dem die Gelegenheit so schnell nicht wiederkommen wird. Im richtigen politischen Lager ist er ja schon, jetzt muss nur noch irgend so ein Knalleffekt her à la ‘Seht mal her, das macht mir keiner so schnell nach!’. Ferner passt diese Versöhnungsnummer mit dem Bruder wunderbar ins Bild, zeigt das doch, dass er durchaus diplomatisch und differenziert agieren kann. Ich weiß zwar nicht, ob ihm nur hier im Umkreis der Titel Dr. Gnadenlos vorauseilt, aber grundsätzlich könnte das ein ziemlicher Minuspunkt bei einer Berufung sein.”
“Ich denke, ich werde dir schon deshalb helfen, damit ihr diesen schrecklichen Kerl möglichst bald los seid”, befand Martin, “gib mir den Schlüssel, ich lege ihn zuhause in meinen Tresor.”
“Vielen Dank, Martin”, freute sich Philip.
“Keine Ursache, Philip, du bist mein Freund.”
“Trotzdem, es ist viel verlangt. Das hätte nicht jeder für mich getan. Wenn alles gut ausgeht, werde ich mich revanchieren. Wenn nicht, weißt du ja, was du zu tun hast!”
Philip sah den Richter grinsend an.
“Ja, ich werde dich rächen”, entgegnete der mit seinem schönsten Lächeln.
“Genau!”
Nachdem sich Philip von Martin verabschiedet hatte, fuhr er direkt bei dem Notar vorbei, regelte dort alles bezüglich des Schlüssels und hinterlegte Anweisungen, was dieser im Falles seines Todes zu tun hatte.
Puh, das wäre erledigt, seufzte Philip in sich hinein. Dann wollen wir mal hoffen, dass Thomas wirklich erfolgreich sein wird. Sonst kann ich mir wahrscheinlich schneller die Radieschen von unten ansehen, als mir lieb ist. Warum bin ich nicht Zeitungsverkäufer oder U-Bahn-Fahrer geworden? Da verdient man zwar nicht so viel wie als Richter, aber es ist auch nicht so gefährlich, vor allem, wenn man einen Kollegen wie Thomas McNamara hat.