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Teil 1 – Kapitel 2

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“Wer ist der Mann auf dem Foto?!”, wollte Eugenio wissen.

“Welcher?”, entgegnete Jerry, ohne aufzusehen.

“Da, der hier!”, Eugenio hielt das Foto in Jerrys Richtung und deutete auf die Person, die er nicht kannte.

Jerry seufzte, weil er keine Lust hatte, mit Eugenio Fotos zu begucken, während er Ausbesserungen an seinen Booten vornahm, legte aber den Pinsel beiseite.

“Zeig mal. Welchen meinst du?!”

“Na, den hier, der direkt neben dir steht!”

“Oh nein, wo hast du das Foto her, Eugenio?!”, fuhr Jerry ihn an und wollte ihm das Bild aus der Hand reißen. Aber Eugenio war schnel­ler und zog die Fotografie blitzartig zurück.

“Eugenio!”, meinte Jerry drohend, “du gibst mir jetzt sofort dieses Foto!”

“Wieso regst du dich so auf, amigo?!”, wehrte Eugenio mit einer lässigen Handbewegung ab, “ist doch ein nettes Foto. Ein Familienfoto, nicht wahr?”

“Ja, und deshalb gehört es mir. Wo hast du es her?!”

Jerry schnaubte noch immer vor Wut.

“Aus dem Stapel Altpapier, den du mir vor einigen Tagen gegeben hast”, erwiderte Eugenio grinsend, “es muss dir ja wahnsinnig viel bedeuten, wenn du es im Altpapier aufbewahrt hast. Oder war das nur ein gutes Versteck, weil es so wertvoll ist? Komm schon, sei nicht mehr sauer und erzähl deinem alten Kumpel, wer der Typ neben dir ist!”

Eugenio wurde jetzt erst recht neugierig, weil er merkte, dass Jerry sich aufregte. Das war so gar nicht die Art seines Freundes. Der hatte sonst immer gute Laune. Deswegen hatten die Leute aus San Juan de las Galdonas ihn auch “Solimár” getauft, was so viel bedeutete wie “Sonne und Meer”. Der Amerikaner strahlte stets wie die Sonne und war so spritzig wie das Meer. Manche Leute behaupteten auch, es läge an seinen Augen. Sie waren blau wie das Meer und strahlten wie die Sonne. Auf jeden Fall aber strahlte Jerry Lebensfreude aus, man hätte förmlich sagen können, dass die Freude in ihm zuhause sei. Von daher passte dieser Spitzname sehr gut zu ihm. Und vor allem hatte der nicht so eine frustrierende Bedeutung wie sein richtiger Vorname. Durch Zufall hatte er von einem Pater hier vor Ort erfahren, dass Jeremiah Hebräisch war und übersetzt “Gott hat ihn verlassen” hieß.

Na fein, hatte Jerry gedacht, ich wusste ja schon aus der Sonntagschule, dass es da im Alten Testament diesen Propheten namens Jeremiah gab. Der hatte immer nur Schwierigkeiten, wurde permanent von irgendwelchen Wichtigtuern fertiggemacht und war nachher schon fast depressiv. Von daher konnte ich meinen Vornamen eh nicht leiden. Voll der Versagername. Und wenn ich mir überlege, dass er obendrein noch eine Versagerbedeutung hat, dann wundert mich nichts mehr. Wahrscheinlich hat mein Vater das extra gemacht, dass er mir einen Versagernamen verpasst hat. Aber mir das dann ständig vorzuhalten, dass ich ein Versager bin, das finde ich echt sowas von gemein! Und wenn wir schon mal bei Namensbedeutungen und diesen ganzen Parallelen sind, dann wäre es viel sinnvoller gewesen, wenn mein ätzender Herr Papa meinen großen Bruder Zedekiah genannt hätte, weil so auch der König in der Bibel hieß, der den Propheten Jeremiah immer fertiggemacht hat. Aber wer konnte schon ahnen, dass ich noch geboren werden würde? Und schließlich konnte diese Nervensäge von meinem Vater seinen Lieblingssohn Thomas nicht mehr in Zedekiah umbenennen. So ein Pech aber auch. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, dann passt der Vorname Thomas wirklich sehr gut zu meinem Bruder Besserwisser. Thomas war doch der Jünger von Jesus, der das mit der Auferstehung erst glauben wollte, wenn er seine Hände in Jesu Wunden legen konnte. (Die Bibel, NT, Evangelium nach Johannes, Kap. 20, Verse 24 – 29) Das hätte mein Bruderherz bestimmt genauso gesehen, nur dass das dem Herrn Richter noch nicht gereicht hätte. Er hätte mit Sicherheit von Jesus noch Fingerabdrücke genommen und sie kriminaltechnisch untersuchen lassen.

Tatsache war aber ferner, dass die Einheimischen sich gern gegenseitig Spitznamen verpassten. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft, die zusammenhielt, und Jeremiah McNamara gehörte schon seit langem zu ihnen, hatte er doch alles in seiner Heimat hinter sich gelassen, um hier bei ihnen nochmal von vorn anzufangen. Von daher fand Jerry es ganz angenehm, dass die Leute hier ihm so einen netten Spitznamen verpasst hatten. Der klang sehr attraktiv und machte sich besonders gut bei den Damen. Vor allem die ausländischen Touristinnen ließen sich von sowas schwer beeindrucken. Ein bisschen charmanter Augenaufschlag, einen Drink spendiert oder zum Tauchen, Segeln oder Fischen eingeladen, schon wurden sie weich. Wenn man ihnen dann noch gestattete, ihn mit diesem Spitznamen anzureden, was nur gute Freunde durften, hatte man sie schon so gut wie rumgekriegt. Manche Frauen schienen es auch förmlich darauf abgesehen zu haben, ein Abenteuer mit ihm zu erleben. Ihm sollte es recht sein, schließ­lich hatte er keine feste Freundin. Und wenn er schon einen derart elenden Vornamen hatte, so war er wenigstens mit einem äußerst attraktiven Aussehen gesegnet. Das machte sich in seiner Branche besonders gut. Als Bootsverleiher mit seinem charmanten Auftreten und smarten Aussehen hatte er schon so manchen Gast eingewickelt. Jerry betrog nicht, aber er verstand es auf eine unnachahmliche Art, Leute dazu zu bewegen, sich ein Boot bei ihm zu mieten, ohne dass er dabei aufdringlich gewirkt hätte. Er wäre wahrscheinlich ein unheimlich erfolgreicher Vertreter geworden, der einen Kunden hätte überzeugen können, direkt zwei Waschmaschinen zu kaufen, damit man eine in Reserve hatte, falls die andere mal nicht funktionierte. Allerdings hätte man ihn nicht dazu bewegen können, Vertreter zu werden. Erstens hätte er das total aufdringlich gefunden, zweitens hätte man dann ständig mit Schlips und Kragen herumlaufen müssen - was Jerry hasste - und drittens hätten seine Bosse ihn wieder einen Versager geschimpft, wenn er irgendwelche Vorgaben nicht erfüllte. Nein danke, das mit dem Versager hatte er oft genug gehört. Aber hier war er sein eigener Herr, und niemand redete ihm herein. Niemand verlangte, dass er Rücklagen bildete, sich um eine Altersversorgung bemühte oder Berge von Verantwortung übernahm. Er lebte jetzt, nicht erst in zwanzig Jahren. Sowas würde sein langweiliger Bruder Thomas niemals verstehen. Der würde seine kleine Hütte am Strand sicher nur mit einer Flasche unverdünntem Desinfektionsmittel in der Hand betreten aus Angst, sich alle möglichen Krankheiten zu holen. Dabei war es doch ganz hübsch dort. Ein bisschen unaufgeräumt vielleicht, aber wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen, und es fand sich immer alles wieder. So wie dieses Foto, das Eugenio ihm jetzt unter die Nase hielt. Eigentlich hatte Jerry es für immer in Eugenios Ofen entsorgen wollen. Aber irgendwie war es in Eugenios Hände geraten, bevor es den Flammen zum Opfer fallen konnte.

“Das ist eine ganz private Angelegenheit, und es geht dich überhaupt nichts an”, konterte Jerry.

“Solimár, du siehst aus wie eine Gewitterfront! Was ist los, dass du so ärgerlich wirst?”, Eugenio sah etwas besorgt drein, “ich wollte dich nicht kränken, ehrlich!”

“Dann kram nicht in meinen Privatsachen”, ereiferte sich Jerry, “wieso hast du das Foto überhaupt? Es war im Altpapier, das ich dir zum Anzünden des Holzes gebe, mit dem du die Fische räucherst. Also schnüffele gefälligst nicht darin herum!”

“Nun mach’s mal halblang, Solimár, redet man so mit seinem langjährigen Freund? Wir haben uns immer über alles unterhalten. Du hast mir sogar erzählt, wie die Touristinnen, die du aufgerissen hast, im Bett waren, und nun bist du so stachelig wegen dieses Fotos?! Was stimmt damit nicht?”

Eugenio hatte langsam die Nase voll.

“Sorry, Eugenio, es ist nur, weil ich das Foto nicht mehr haben wollte und dachte, es verbrennt mit dem anderen Papier. Ich habe halt ausgemistet. Und ich hatte Skrupel, es selbst zu verbrennen, obwohl das blöd ist. Ich dachte, wenn du es tust, dann weiß ich nichts davon, und nun präsentierst du es mir. Ich wollte daran einfach nicht erinnert werden.”

“Der andere Mann ist dein Bruder, nicht wahr?”, mutmaßte Eugenio, “ist er tot? Ist das der Grund, warum du daran nicht erinnert werden willst? Hey, ich bin dein Freund, mir kannst du es sagen! Und ich sag’s auch keinem weiter. Ehrenwort!”

Eugenio legte seinem Freund die Hand auf die Schulter.

“Es wäre jedenfalls nicht schade um ihn, wenn er tot wäre”, entgegnete Jerry finster, “ja, du hast Recht, der andere ist mein Bruder. Mein Bruder Superschlau. Weißt du, was noch zehnmal schlimmer ist, als impotent zu sein? Einen solchen Bruder zu haben. Er ist der geborene Besserwisser, weshalb er auch Jurist geworden ist. Sollte er es jemals schaffen, Bundesrichter der Vereinigten Staaten zu werden, werden die USA binnen kürzester Zeit ein totalitärer Staat sein, gegen den die Militärdiktaturen Südamerikas wie spielende Kinder im Sandkasten anmuten. Alles hört auf sein Kommando. Hör zu, Eugenio, ich will an diesen Kotzbrocken nicht mehr erinnert werden. Also, gib jetzt das Foto her!”

“Einen Moment noch”, meinte Eugenio und betrachtete die Aufnahme ein letztes Mal gründlich, “eigentlich sieht er ganz nett aus. Sym­pathisch...”

Aber Jerry hatte ihm das Foto schon aus der Hand gerissen und holte aus der Hosentasche ein Feuerzeug.

“Jetzt ist endgültig Schluss damit!”, meinte er grimmig und zündete das Bild an, “mein Bruder ist nicht sympathisch!”

“Ich habe auch nicht behauptet, dass er sympathisch ist, sondern nur, dass er sympathisch aussieht”, rechtfertigte sich Eugenio, “ist immer schade, wenn es in der Familie nicht stimmt.”

“Ihr seid jetzt meine Familie”, erwiderte Jerry, “diese Spießer in den Staaten konnten noch nie was mit mir anfangen. Aber ihr! Ihr lebt ein einfaches aber fröhliches Leben ohne all die spießbürgerlichen Zwänge und Wertvorstellungen. Zu sowas wären diese Amerikaner nie fähig. Die mühen sich von morgens bis abends ab, bekommen mit fünfzig einen Herzinfarkt und zum Dank noch einen Tritt in den Hintern. Dann kannst du froh sein, wenn du mit fünfundfünfzig nicht als Penner unter einer Brücke schlafen musst, weil die Arzt- und Krankenhauskosten deine Ersparnisse aufgefressen haben, deine Frau dich wegen eines anderen, erfolgreicheren Mannes verlassen und dich obendrein noch auf Unterhaltszahlungen verklagt hat. Nein danke, ich will heute leben. Und ihr bequatscht mich wenigstens nicht, dass ich alles falsch mache.”

Jerry hatte die Asche in den Sand fallen lassen und verteilte sie mit dem Fuß, als hätte er Angst, das Foto könne sich wie von Geisterhand wieder zusammensetzen. Nun war es in alle Winde verweht oder besser gesagt versandet. Auf nimmer Wiedersehen. Gut so.

Jerry wandte sich wieder seinen Malerarbeiten zu und strich mit geradezu zärtlicher Liebe den Bug eines seiner Boote an.

Eugenio betrachtete den Freund mit schiefgelegtem Kopf. So hatte er Solimár selten erlebt. Dieser Bruder musste ihm schwer zugesetzt haben. Eugenio war tief betroffen. Der Freund hatte nie einen Bruder erwähnt. Auch von seiner Familie hatte er so gut wie nicht gesprochen. Als der Amerikaner damals bei ihnen auftauchte, dachten sie zuerst, er habe etwas mit Drogen zu tun. Kein Amerikaner hatte es bisher als besonders erstrebenswert angesehen, an diesem venezolanischen Ort auf Dauer zu leben. Die Touristen, die hier ihren Urlaub verbrachten, schwärm­ten zwar von der schönen Landschaft, dem Strand und der Idylle, aber keiner war darauf erpicht, auf seinen gewohnten Komfort zu verzichten. Sie hätten niemals so wohnen und leben wollen wie die Einheimischen.

Deshalb waren die Fischer und anderen Einwohner sehr argwöhnisch gewesen, als Jerry auf der Bildfläche erschien. Amerikaner, die sich auf Dauer hier ansiedelten, waren nicht selten in undurchsichtige Geschäfte verwickelt. Mit solchen Sachen wollten die Leute in San Juan nichts zu tun haben.

Jerry hatte damals irgendetwas davon erzählt, dass er aus gesundheitlichen Gründen in einem anderen Klima leben müsste, hatte ein hochgestochenes Zeug zum Besten gegeben, das sich sehr logisch anhörte und allen einleuchtete. Außerdem hatte er versichert, dass seine gesundheitlichen Probleme nicht ansteckend seien und dass es ihm bestimmt bald schon besser gehen würde, wenn er erst einige Zeit hier wäre. Tatsächlich ging es Jerry schnell besser, was seine Glaubwürdigkeit erhöhte. Zudem sah er völlig fit aus. Und er hatte von Anfang an gefragt, wo er sich nützlich machen könnte. Er wolle einfach nur ein bisschen leben und brauche keinen Komfort. Weil er auch keine Sonderwünsche anmeldete oder Empfindlichkeiten zeigte, akzeptierten ihn die Einheimischen schnell als einen von ihnen. Und er brach­te sie zum Lachen. Schließlich hatte er sich mit Hilfe der Leute vor Ort eine kleine Existenz aufgebaut. Als Bootsverleiher war er sein eigener Herr, niemand schrieb ihm vor, wann und wie viel er zu arbeiten hatte. Und deshalb arbeitete er manchmal nur, wenn er Lust dazu hatte oder das Geld gerade mal wieder knapp geworden war. Oft half er auch seinen Freunden aus, wenn die besonders viel zu tun hatten. Für die Leute hier war Jerry die längste Zeit ein US-Amerikaner gewesen, auch wenn er noch die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß. Sie warteten allerdings nur noch darauf, dass er einen Antrag auf Einbürgerung stellte. Genau das hatte Jerry auch vor. Aber man musste ja nichts überstürzen. Es eilte ja nicht.

Jerry sah nun aber von seiner Arbeit auf, weil er den Eindruck hatte, dass Eugenio ihn beobachtete. Tatsächlich starrte der Fischer ihn an wie ein Mondkalb.

“Hey, Eugenio, was ist?”, fragte Jerry verwundert, “was starrst du mich so an?”

“Ach, ich habe nachgedacht. Sag mal, Solimár, du bist mir doch nicht böse wegen dieser Sache mit dem Foto?”

“Ach Quatsch, das hab ich schon vergessen. Welches Foto?”, erwiderte Jerry mit betonter Lockerheit.

“Na, dann ist es ja gut. Ich wollte da nicht in Sachen rühren, die schmerz­haft für dich sind”, meinte Eugenio, aber er spürte, dass er da in einen Fettnapf getreten war und eine alte Wunde wieder aufgerissen hatte.

“Nun mach dir mal nicht so schwere Gedanken, Eugenio”, beteuerte Jerry, “denken wir einfach nicht mehr dran. Thomas ist es nicht wert, dass man auch nur einen Gedanken an ihn verschwendet. Wie sieht’s aus, holst du uns ein Bier aus der Küche?”

“Klar, amigo”, meinte Eugenio und verschwand im Haus.

Paradoxe Gerechtigkeit

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