Читать книгу Paradoxe Gerechtigkeit - Stefanie Hauck - Страница 6
Teil 1 – Kapitel 3
ОглавлениеEinige Zeit nachdem Philip verschwunden war, summte die Gegensprechanlage zum Büro von Thomas.
“Sally, kommen Sie mal zu mir rein! Sofort! Es ist dringend!”, forderte Thomas seine Sekretärin in nicht gerade liebenswürdigem Ton auf.
Sally sah Maggie an, als habe der Großinquisitor persönlich sie vorgeladen. Und laut sagte sie: “Ja, selbstverständlich, ich komme sofort.”
Fünf Minuten später stand Sally wieder im Vorzimmer, und ihre Augen leuchteten.
“Maggie, es geschehen noch Zeichen und Wunder. Er will nach Venezuela fliegen! Diese Woche noch! Nimmt sich privaten Urlaub. Ich soll ihm einen Flug und ein Hotel in Cumaná buchen. Und jetzt rate mal, warum...”
Maggie sah ihre Kollegin an, als habe es gedonnert.
“Sag das nochmal”, meinte sie wie durch einen Nebel.
“Er will nach Venezuela fliegen, um eine persönliche Angelegenheit zu regeln und nimmt ganz privat Urlaub”, wiederholte Sally, “keine Dienstreise, sondern ein privater Besuch! Und jetzt kommt’s: Er will sich mit seinem Bruder versöhnen. Er meinte, er habe so ein schlechtes Gewissen, und er könnte es nicht mehr ertragen, dass sie so verfeindet wären. Das müsse man doch bereden können, was damals schiefgelaufen sei. Vielleicht wäre ja auch alles nur ein großes Missverständnis gewesen.”
“Woher kommt denn dieser plötzliche Sinneswandel?”, fragte Maggie kopfschüttelnd, “ich meine, wir wissen doch alle, dass die beiden sich zum Fressen gern haben genau wie die Zeichentrickfiguren Tom & Jerry. Normalerweise durfte man den Namen seines Bruders ja noch nicht mal in seiner Gegenwart erwähnen, dann flippte er schon aus.”
“Vielleicht liegt es auch daran, dass er sich auf diese Stelle des Obersten Bundesrichters bewirbt und beim Präsidenten bzw. den Leuten auf dem Empfang heute Nachmittag Eindruck schinden will”, mutmaßte Sally, “ich meine, hier in New York, da ist es egal, ob der Herr Richter ein übellauniger Kerl ist. Und außerdem sitzt er schon viel zu fest im Sattel, war bisher sehr erfolgreich. Da sägt keiner an Dr. Gnadenlos’ Stuhl wegen einer kleinen Familienfehde. Aber wenn man in ein so hohes Verfassungsorgans will, macht es sich nicht gut, wenn man im Streit mit seinem einzigen Bruder lebt, wo in unserem lieben Heimatland die Familie einen derart hohen Stellenwert hat.”
“Damit könntest du Recht haben”, fand Maggie, “obwohl... wer weiß schon, ob Jeremiah sich mit ihm versöhnen will?!”
“Wenn nein, kann Dr. Gnadenlos aber immer noch behaupten, es sei die Schuld seines Bruders, dass der Streit nicht beigelegt werden konnte.”
“Auch wieder wahr.”
Es entstand eine Pause.
“Aber was war mit Philip?”, meinte Maggie plötzlich und sah Sally irritiert an, “er kam doch völlig verstört aus dem Büro. Sonst hatte er immer noch ein freundliches Wort für uns oder hat einen Witz erzählt oder sonst irgendwas Nettes gemacht. Aber eben hat er uns noch nicht einmal beachtet. Als ob wir Luft wären!”
“Vielleicht hat Dr. Gnadenlos ihm das mit der Versöhnungsaktion auch erzählt, und Philip konnte es einfach nicht glauben”, erwiderte Sally achselzuckend.
“Das erklärt aber nicht, warum Philip vor sich hin gemurmelt hat ‘Er hat den Verstand verloren!’. Da steckt noch was anderes dahinter”, beharrte Maggie.
“Du hättest Detektiv werden sollen, Maggie!”, bemerkte Sally langsam ungehalten, “aber soll ich dir mal was sagen? Es ist mir egal, warum Philip so verstört war. Hauptsache, McNamara macht mal was Positives. Klar, es ist alles sehr sonderbar, aber ich finde, wir sollten uns einfach mal über so eine Sache freuen. Und obendrein bin ich heute nicht in der Stimmung, die Ursache dieses Sinneswandels zu ergründen. Ich werde jetzt die Buchungen für ihn vornehmen.”
“Such ihm was Hübsches raus”, stichelte Maggie.
“Ich werde schon was finden, womit Dr. Pingelig zufrieden ist. Oder willst du das lieber machen, Maggie, du kennst seine Unarten und Vorlieben schon etwas länger als ich!”
“Nein, mach du das mal. Erstens hast du es in letzter Zeit immer gemacht, deshalb hat er auch dich zu sich reingerufen, und zweitens bekommst du dann den Abriss, wenn er was zu beanstanden hätte”, meinte Maggie mit ihrem süßesten Lächeln.
“Wenn ich nicht wüsste, dass du meine Freundin bist, würde ich jetzt...”, Sally hob scherzhaft drohend einen Ordner hoch.
“Na, was würdest du tun, Sally?”, Maggie amüsierte sich köstlich, “würdest du den Aktenordner nach mir werfen?!”
“Genau”, schnaubte Sally grinsend, “aber jetzt werde ich die Buchungen vornehmen. Sei stille, und stör mich nicht, hörst du?!”
“Ich bin ganz ruhig, mucksmäuschenstill!”
Pünktlich um 16.00 Uhr erschien Philip in Thomas’ Vorzimmer. Sally sagte ihrem Chef Bescheid, dass sein Kollege jetzt da sei.
“Ja, ich komme”, entgegnete Thomas, warf sich sein Jackett über und verließ sein Büro.
“Na dann, Philip”, begrüßte er seinen Kollegen, “lassen Sie uns den Vertretern unserer Stadt unsere Aufwartung machen.”
Und zu Sally gewandt meinte er: “Sally, haben Sie meinen Flug gebucht?”
“Ja, Sir, Sie fliegen übermorgen um 11.00 Uhr ab John F. Kennedy-Airport. Ankunft in Caracas um...”
“Ja, schon gut, Sally, so genau wollte ich es gar nicht wissen! Ich hab’s eilig! Wo sind die Unterlagen?”
“Kommen morgen.”
“Warum erst morgen? Das hätte alles viel schneller gehen können!”
“Tut mir leid, Sir, ich dachte, dass es morgen noch reicht, weil Sie erst übermorgen fliegen...”
“Sie dachten, Sie dachten! Na ja, was soll’s, ich muss jetzt los. Ich hoffe, dass Sie morgen alles zusammen haben. Kommen Sie, Philip, ich möchte auf dem Empfang pünktlich erscheinen!”
Thomas schob seinen Kollegen mit sanftem Druck aus dem Zimmer.
“Mann, hat der heute eine Laune”, stöhnte Sally, “ich kann nur hoffen, dass er nicht öfter seinen Glückstag hat, dann ist er ja noch ungenießbarer als sonst!”
“Hauptsache, er ist ein paar Tage weg”, erwiderte Maggie achselzuckend, “dann bring ich meine Kaffeemaschine von zuhause mit. So geht uns die Arbeit doppelt so schnell von der Hand!”
“Wehe, du machst das Arbeitstempo kaputt!”, empörte sich Sally im Scherz, “wenn du dann nämlich keinen Kaffee mehr auf der Arbeit trinken kannst, bist du auch nicht mehr so produktiv, aber er erwartet dasselbe Tempo. Das wird dann vielleicht ‘lustig’.”
“Schon gut, wir werden uns schon was einfallen lassen. Auf jeden Fall wird es die nächsten Tage nicht so stressig sein, als wenn er anwesend wäre. Das ist doch schon mal was!”
“Da hast du allerdings Recht”, meinte Sally versöhnlich.
Die beiden Richter erschienen pünktlich auf dem Empfang.
Thomas hasste Empfänge und Cocktailpartys, denn dort war alles in konzentrierter Form auf kleinstem Raum versammelt, was er ums Verrecken nicht ausstehen konnte: Politiker, Show-Größen, Alkohol, Kaffee und dümmliches Geschwätz. Diese Art von Konversation, die es auf derlei Anlässen gab, fand er nur langweilig, peinlich und unwürdig. Aber dieses Mal musste er da hin. Außerdem kam Philip mit, und das war ein kleiner Lichtblick.
Wenigstens ein normaler Mensch in einer Ansammlung von Einfaltspinseln und Angebern. Warum konnten nicht alle Leute so sein wie er? Die Welt würde sicher ein großes Stück besser aussehen, wenn es noch mehr Leute von seiner Sorte geben würde. Thomas seufzte leise bei dem Gedanken daran, dass es leider nur wenige Leute von seiner Sorte gab z. B. seinen Sohn Justin. Der war sein ganzer Stolz. Justin hatte das College mit Bravur gemeistert und studierte jetzt in Harvard Jura. Er würde ein würdiger Nachfolger für Thomas sein und die Dynastie der McNamaras aufrechterhalten. Immerhin waren sie schon in der siebten Generation Juristen.
Zum Glück ist Justin nicht aus der Art geschlagen wie Jeremiah oder meine Tochter Sophie, dachte Thomas. Bei Sophie wundert es mich nicht, schließlich ist sie ein Mädchen, und davon kann man nicht viel erwarten. Wenn es Frauen in den Rechtswissenschaften zu etwas bringen, ist das eher die Ausnahme. So wie bei meiner Frau Martha. Martha ist wirklich brillant, eine absolut hochangesehene Professorin für Rechtswissenschaften in Yale. Und natürlich hat sie einen Doktortitel. Wenn ich mir überlege, dass manche Männer bei der Wahl ihrer Ehefrau nur nach dem Aussehen gehen, wird es mir schlecht. Ich brauche doch eine Frau, mit der ich mich vernünftig unterhalten und austauschen kann. Und sie muss meiner auch würdig sein.
Dass Thomas Martha seiner für würdig hielt, lag daran, dass sie zum einen aus einer Intellektuellenfamilie stammte, die seit Generationen in Connecticut wohnte, wahrscheinlich schon seit Gründung der USA. Zum anderen hatte er sie während des Jurastudiums kennengelernt. Sie war außerordentlich engagiert, zu Hochleistung motiviert und deshalb auch sehr erfolgreich, allerdings nicht so arrogant wie Thomas. Die beiden hatten während des Studiums vermehrt dieselben Kurse belegt, ferner in denselben Projekten gearbeitet und waren sich dadurch nähergekommen. Irgendwann hatte es dann zwischen den beiden gefunkt. Thomas konnte nämlich im wahrsten Sinne des Wortes sehr leidenschaftlich und charmant sein, wenn er seine Leidenschaft für ein bestimmtes Thema oder bestimmte Person entdeckt hatte. In diesem Fall kam es zu einer idealen Übereinstimmung: Eine absolut brillante Juristin, die ferner mit einem sehr attraktiven Aussehen gesegnet war. Das war eine perfekte Ehe, und seit Jeremiah nicht mehr in den Staaten wohnte, gab es auch so gut wie keine Auseinandersetzungen mehr zum Thema: Was erfüllt mich mit wirklicher Lebensfreude? Sophie hatte immer zu Jeremiah gehalten und gemeint, dass die Art, wie die Familie Thomas McNamara lebte, überschrieben werden könnte mit: Wie mache ich mir das Leben zur Hölle? Das hatte sie ihrem Vater allerdings nicht gesagt, weil der ob solch einer Aussage ausgerastet wäre.
Die Mutter hatte mehr Verständnis dafür, dass Sophie den Leistungsdruck, den Thomas auf sie ausübte, für übertrieben hielt. Martha bemühte sich sehr, der Tochter ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Leistung und Entspannung zu vermitteln. Sie befürchtete nämlich, dass Sophie sich sonst zu sehr ein Beispiel an Jeremiah nehmen würde. Zudem wusste sie, dass die Tochter über Laetitia in Kontakt mit dem Onkel stand, was sie ihrem Mann aber nicht erzählte. Kontakt zu Jeremiah zu haben und ihn sogar gut zu finden, das war Rebellion in Thomas’ Augen. Er war der Meinung, dass sein Bruder nie etwas von Wert zustande gebracht hatte. Der absolute Schandfleck der Familie McNamara sei er. Das College hatte der Bruder gerade mal eben so geschafft, das Jurastudium direkt im ersten Semester abgebrochen. Dabei hätte er doch dankbar sein müssen, dass der Vater ihm diesen großartigen Studienplatz in Harvard verschafft hatte bei der schlechten Abschlussnote am College. Ohne Beziehungen wäre das gar nicht möglich gewesen. Dass Jeremiah viel lieber ein Ingenieursstudium gemacht hätte, hatte den Vater kein bisschen interessiert. Ein McNamara studierte Jura, Ende der Diskussion. Und natürlich hatte es den Vater auch nicht interessiert, warum Jeremiah so einen schlechten Collegeabschluss gemacht hatte. Oder besser gesagt, er wusste es schon. Denn ausgerechnet in dem Abschlussjahr war Grace McNamara, die Mutter, an Bauchspeicherdrüsenkrebs erkrankt und nach langem qualvollem Leiden gestorben. Jeremiah hatte ein sehr inniges Verhältnis zu seiner Mutter gehabt, und das alles ging natürlich nicht spurlos an ihm vorüber. Im Gegensatz zu Thomas, der zwar trauerte, sich aber nicht zu den Emotionen hinreißen ließ, die Jeremiah an den Tag legte. Das trieb den Vater erst recht zur Weißglut. Wieso konnte sich der jüngere Sohn nicht mehr zusammenreißen?
Jeremiah war auf jeden Fall ein kluger Kopf, aber er ließ sich nicht in die Formen pressen, die andere ihm vorschrieben. Das werteten der Vater und der Bruder allerdings als Unfähigkeit, etwas wirklich durchziehen zu können und Verantwortung zu übernehmen. Wie man einen solchen Menschen lieben konnte, war Thomas nie klar geworden. Sein Bruder war ein einziges Ärgernis. Und als ob dieser Lebenswandel nicht schon genug seinen Unmut geweckt hätte, musste Jeremiah obendrein noch seinen und Thomas’ Vornamen auf so lächerliche Weise verunstalten, indem er ihn immer mit Tom ansprach und sich selbst mit Jerry anreden ließ. Wenn ihre Eltern gewollt hätten, dass man ihn mit Tom ansprach, hätten sie ihn bestimmt nicht Thomas genannt. Sein Name war Thomas, und er hasste Abkürzungen und Kosenamen. Deshalb hatte er seinen Kindern Namen gegeben, die nicht irgendwelche Dummköpfe verunstalten und unnötig verkürzen konnten. Und außerdem Namen, die eine sinnvolle Bedeutung hatten. Justin stammte aus dem Lateinischen und hieß übersetzt: Der Gerechte. Das war doch wirklich ein passender Name für einen Juristen. Sophie war griechischen Ursprungs und bedeutete: Die Weisheit. Böse Zungen behaupteten, dass Thomas seiner Tochter diesen Namen extra gegeben hatte, weil er an der weiblichen Intelligenz zweifelte und, hoffte dass diese Namensgebung einen positiven Einfluss auf ihre geistige Entwicklung haben könnte. Allerdings hatte Thomas nicht das Gefühl, dass dieser Wunsch bei seiner Tochter in Erfüllung gegangen war. Er dachte zwar nicht, dass seine Tochter dumm sei, aber er hielt sie für kindisch und unweise.
Vielleicht wird sich das noch geben, hoffte er, sie ist ja erst siebzehn, und Mädchen sind sowieso schwieriger als Jungen. Solche Probleme habe ich mit Justin nie gehabt. Schon früh konnten wir uns über juristische Fragen unterhalten. Ich bin wirklich sehr, sehr stolz auf meinen Sohn. Ein echter McNamara. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.
Aber diesmal wurde es gar nicht so schlimm für Thomas auf dem Empfang. Relativ schnell stellte der Bürgermeister ihn einigen Staatssekretären und Beratern aus dem engsten Mitarbeiterkreis des Präsidenten vor. Thomas fühlte sich diesen Männern zwar überlegen, aber es erfüllte ihn mit Genugtuung, dass sie ihn bewunderten, und er lachte sich eins ins Fäustchen, dass er noch nicht einmal selbst von seinen Erfolgen erzählen musste, sondern dass der Bürgermeister von ihm in den höchsten Tönen sprach. Eine wunderbare Werbekampagne. Das würde ebenfalls sehr förderlich sein, wenn auch die Sache mit der Überführung der Drogenbarone natürlich wesentlich mehr wog.
Der Tag wäre perfekt geworden, wenn nicht, kurz bevor Thomas und Philip gehen wollten, die Stimmung hohe Wellen geschlagen und der vertrauliche Ton zu Scherzen und Scharaden Anlass gegeben hätte. Einer aus der Runde hatte Thomas für das kommende Wochenende mit seiner Familie einladen wollen. Er, Peter, habe eine Segelyacht in der Nähe vor Anker liegen. Das wäre doch nett, wenn man sich auch privat ein bisschen näher käme, und die Familie würde es bestimmt genießen. Thomas hatte dankend abgelehnt, weil er ja am Wochenende noch in Venezuela sein würde. Zuerst sagte er nur entschuldigend, er sei verhindert, denn er habe einen wichtigen Termin. Aber der freundliche Gastgeber ließ nicht locker. Er meinte, dass es für einen Richter bestimmt immer sehr viele wichtige Termine geben würde, selbst am Wochenende. Aber Thomas solle sich doch mal einen Ruck geben oder zumindest für einen Tag reinschauen. Oder nur für einen Abend. Es wäre doch schade, wenn der Jurist so ausgelastet wäre, dass er noch nicht einmal am Wochenende ein paar Stunden Zeit erübrigen könnte.
Thomas hatte sich ob dieses sehr anhänglichen Zeitgenossen zu der Bemerkung hinreißen lassen, dass das leider wirklich nicht ginge, weil er am Wochenende nicht in New York sei.
“Nun, das wäre allerdings nicht schlimm, wenn Sie nicht in New York wären”, versuchte Peter es noch einmal, “vielleicht wären wir ja auch, ohne es zu wissen, am selben Ort, so dass es kein Problem wäre, sich doch noch zu treffen. Oder vielleicht segele ich ja auch dort vorbei, wo Sie gerade sind?!”
Langsam reichte es Thomas mit diesem Peter. Der war ja derart penetrant!
“Hören Sie, können wir den Termin nicht verschieben?!”, versuchte Thomas sich herauszuwinden, “diese Woche ist es leider gar nicht möglich, ich konnte mich schon kaum für diesen Empfang freimachen.”
Hoffentlich gibt er jetzt endlich Ruhe, seufzte Thomas im Stillen und verdrehte innerlich die Augen.
“Nein, leider nicht.”
“Und warum nicht?”, horchte Thomas leicht verärgert nach, um mit einem schon etwas versöhnlicheren Grinsen anzufügen, “und sagen Sie nicht, es liegt an Ihrem vollen Terminkalender.”
“Nein”, erwiderte Peter lächelnd, “obwohl in gewisser Weise schon. Ich bin zu diesem Empfang gekommen, weil ich mir dort einen Eindruck von Ihrer Person verschaffen wollte. Bisher sind mir nur Lobeshymnen über Sie und Ihre Fähigkeiten zu Ohren gekommen, und nun wollte ich den Mann, über den man so viel Gutes sagt, wenigstens einmal persönlich treffen und, wenn möglich, mich auch etwas intensiver mit ihm unterhalten, was auf einem Empfang ja schlecht geht. Na ja, ich wollte das hier eigentlich nicht so heraus posaunen, aber wir haben Sie in Washington in den engeren Kreis der Personen aufgenommen, die wir gern für die in Kürze zu besetzende Stelle am Obersten Gerichtshof vorschlagen wollen. Daher wäre mir eine Unterredung über Ihre juristischen und politischen Ansichten sehr willkommen. Und natürlich möchte ich auch die Person, die ich dem Präsidenten vorschlagen will, ein wenig näher kennenlernen. Allerdings steht der Termin, wo ich dem Präsidenten meinen Kandidaten vorschlagen will, schon nächste Woche an. Deshalb wollte ich Sie gerade an diesem Wochenende auf meine Segelyacht einladen. Denn leider hatte ich vorher keine Zeit, mich mit Ihnen persönlich in Verbindung zu setzen.”
Und zu den anderen Männern in der Runde gewandt, fügte er hinzu: “Ich hoffe, meine Herren, Sie empfinden das nicht als Mauschelei, es geht mir nur darum, mich gut über die Person zu informieren, die mir am Herzen liegt. Denn schließlich bin ich ein Berater des Präsidenten, und wenn ich ihn beraten soll, muss ich auch gut informiert sein.”
Diese nickten verständnissinnig und waren ganz Peters Meinung. Thomas allerdings verwünschte sich selbst, weil er jetzt in einen Interessenkonflikt geriet. Was sollte er nun machen? Die Reise nach Venezuela absagen und sich mit Peter treffen oder lieber erst seine verhassten Gegner zur Strecke bringen und auf Peters geniales Angebot verzichten? Er entschied sich für die Reise nach Venezuela, weil er der Meinung war, dass ein Erfolg bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens den Präsidenten wesentlich mehr beeindrucken würde, als wenn Peter ihn als seinen Wunschkandidaten vorschlug. Schließlich hatte dieser Peter doch gesagt, dass es mehrere Personen gäbe, die zum engeren Kandidatenkreis gehörten. Wer konnte schon dafür garantieren, dass Peters Vorschlag so ins Gewicht fallen würde, dass der Präsident Thomas den anderen Kandidaten vorzog? Aber wenn er, Thomas, einen solchen Erfolg bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität erzielen sollte, würde er Peters Sympathie gar nicht mehr benötigen. Wer war dieser Peter schließlich schon? Von dem hatte er noch nie gehört. Wer wusste schon, ob der überhaupt so wichtig war, wie er tat.
“Peter, ich danke Ihnen für Ihren Einsatz und für Ihre positive Haltung meiner Person gegenüber”, setzte Thomas also an, “wirklich, ich fühle mich außerordentlich geehrt...”
Und im Stillen dachte er sich: Ich brauche deine Sympathie nicht. Du hast keine Ahnung, was ich in den nächsten Tagen alles auf die Beine stellen werde.
“... aber so sehr es mich auch schmerzt, ich kann leider wirklich nicht.”
Es entstand eine Pause. Irgendwie hatte Thomas das Gefühl, dass es mit dieser allgemeinen Erklärung noch nicht getan sei, dass er sich sozusagen dafür rechtfertigen müsste, dass er Peters unglaubliches Angebot ausschlug. Zwar fuchste ihn das sehr, aber er wollte auch keine schlafenden Hunde wecken. Denn er befürchtete, dass die Männer misstrauisch werden würden, und man wusste ja nie, wo sich Mittelsmänner der Mafia befanden. Also fuhr er fort: “Nun, es ist eine persönliche Angelegenheit.”
“Das muss aber eine sehr wichtige persönliche Angelegenheit sein, dass Sie dafür so eine Chance sausen lassen”, bemerkte einer der Männer aus der Runde.
“Allerdings”, erwiderte Thomas.
“Wie wichtig denn?”, wollte ein anderer wissen, um anschließend süffisant grinsend fortzufahren, “oder ist die persönliche Angelegenheit etwa zu delikat?”
Thomas hätte sein Gegenüber am liebsten ob dieser Aussage geköpft und kochte, denn diese Bemerkung hatte jetzt umso mehr die Neugier der anderen Männer in der Runde geweckt. Logischerweise wollten sie nun konkret wissen, was denn für den Richter derart wichtig war, dass er absolut gar keine Zeit für den Präsidentenberater erübrigen konnte.
Allerdings beschloss der Jurist, in die Offensive zu gehen und den Mann, der ihm da anscheinend etwas unterstellen wollte, zurechtzuweisen.
“Ich finde es einfach nur unerhört, dass Sie mir irgendwelche schlüpfrigen Dinge unterstellen und das auch noch im persönlichen Bereich”, murrte Thomas und blickte dabei sein Gegenüber bitterböse an, “das klingt ja gerade so, als würde ich ein Doppelleben führen. Wenn ich keine weiße Weste hätte oder in sogenannte delikate Angelegenheiten verwickelt wäre, wäre ich nicht schon seit nahezu zehn Jahren Richter von New York City.”
“Sorry, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten”, nahm sich der so Gemaßregelte zurück.
Thomas sah sein Gegenüber mit giftigem Blick an und murrte nicht sonderlich überzeugend: “Na ja, schon gut.”
Es entstand eine betretene Stille. Irgendwie war die schöne Stimmung dahin. Thomas wurde es zunehmend unwohler in seiner Haut, denn in ihm keimte der Gedanke auf, dass Peter ihn vielleicht als sehr nachtragend einschätzen würde, nachdem er so brüskiert reagiert hatte. Und schließlich wollte er doch wenigstens bei diesem kurzen Zusammentreffen einen möglichst positiven Eindruck hinterlassen. Deshalb fügte er jetzt wirklich sehr versöhnlich und mit einem charmanten Lächeln an: “Nun ja, Peter, Ihr Angebot, mich bei Ihrem Segeltörn unterwegs mit an Bord zu nehmen, ist wirklich sehr entgegenkommend, aber ich befürchte, dass Sie wohl kaum an der Nordküste Venezuelas vorbeisegeln werden.”
Die Männer in der Runde waren absolut überrascht, als Thomas das sagte. Dass der Richter sogar außer Landes sein würde, damit hatte niemand gerechnet, und obendrein noch in einer persönlichen Angelegenheit!
“Oh, das klingt aber abenteuerlich”, wunderte sich ein anderer in der Runde, “klingt fast wie bei... ach, jetzt hab ich den Namen gerade vergessen... wie hieß noch dieser Typ... hach, ich hab den Namen auf der Zunge...”
“Indiana Jones?!”, warf ein weiterer ein.
“Genau!”, freute sich der andere, “genau, Indiana Jones.”
“Ja, das passt, der hat schließlich auch einen Doktortitel”, warf der nächste ein.
“Allerdings”, bestätigte wieder ein anderer und musterte dabei Thomas, “Indiana Jones, das passt. Finden Sie nicht auch, dass unser guter Thomas eine ziemlich große Ähnlichkeit mit Harrison Ford hat? Doch, das ist verblüffend!”
Thomas kam sich vor wie eine Kuriosität, die von einem dümmlichen Publikum bestaunt wird, denn jetzt musterten ihn alle, um zu sehen, ob er wirklich diesem, wie hieß der noch, ach, das war ja auch egal, also diesem Typen da oder wem auch immer ähnlich sah.
“Ja, ich finde Lionel hat Recht”, meinte Peter, und die anderen nickten zustimmend, “Sie sehen dem Schauspieler wirklich sehr ähnlich, Thomas!”
Und zu Philip gewandt, fügte er hinzu: “Finden Sie nicht auch, Philip?!”
Philip, der die ganze Zeit darauf gewartet hatte, dass sein Kollege explodierte und sich gleichzeitig köstlich amüsierte, schreckte hoch wie ein Erstklässler, dem der Lehrer mitten im Dösen eine Frage gestellt hat.
“Äh, nun ja, ich weiß nicht, ich...”
“Aber unser Dr. McNamara macht natürlich etwas ganz anderes”, versuchte der Bürgermeister die Situation zu retten, denn er wusste, dass Thomas sich nicht sonderlich für den Berufsstand der Schauspieler erwärmen konnte, “das kann man überhaupt nicht vergleichen.”
“Sicher”, bestätigte Lionel, “es fiel mir nur gerade so auf.”
Es entstand eine Pause. Philip überlegte allerdings fieberhaft, wie er Thomas unauffällig aus dieser Runde heraus manövrieren konnte. Denn er befürchtete, dass sich der Richter gleich nicht mehr beherrschen konnte. Nur leider war für die Männer in der Runde die Frage noch nicht geklärt, warum Thomas in einer persönlichen Angelegenheit nach Venezuela fahren wollte und warum diese Sache so dringend war, dass sie keinen Aufschub duldete.
Deshalb beschloss Thomas, eine möglichst neutrale und gleichzeitig plausible Erklärung abzugeben.
“Ich muss eine persönliche Angelegenheit mit meinem Bruder bereden”, entgegnete er, “und möglicherweise kann es bald dafür zu spät sein. Das würde ich mir nie verzeihen.”
“Das klingt ja beinahe so, als ginge es um Leben und Tod”, befand einer der Männer, “irgendwie erinnert einen das schon an Indiana Jones, auch wenn man das natürlich nicht vergleichen kann, wie unser Bürgermeister schon sagte.”
Damit nicht noch mehr Vergleiche gezogen werden konnten, leitete Philip jetzt möglichst schnell die “Verabschiedungssequenz” ein.
“Meine Herren”, meinte er, “Sie mögen uns verzeihen, aber uns ruft die Pflicht! Ich denke, Sie werden uns sicher entschuldigen, wenn wir etwas früher aufbrechen!”
“Aber sicher”, entgegnete der Bürgermeister, “wir haben Verständnis für Ihren vollen Terminkalender.”
“Tja, auch wenn es schade ist, Thomas, dass wir uns an diesem Wochenende nicht treffen können”, fügte Peter noch an, “so bleiben Sie doch mein Wunschkandidat für das Amt des Bundesrichters. Ich werde sehen, was sich machen lässt.”
“Vielen Dank”, erwiderte Thomas sichtlich beeindruckt, “das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich fühle mich außerordentlich geehrt.”
Thomas und Philip verabschiedeten sich kurz und verließen den “Ort des Grauens”. Auf dem Nachhauseweg nahmen sie sich gemeinsam ein Taxi, da sie relativ nahe beieinander wohnten. Thomas schwieg fast die ganze Zeit über, nur manchmal brummte er irgendwelche unverständlichen Schimpfworte vor sich hin.
Als Philip, der den kürzeren Weg hatte, aussteigen musste, meinte Thomas: “Danke, dass Sie uns da herausgeholt haben. Ich frage mich immer wieder, wie solch taktlose Leute in so hohen politischen Positionen sein können, wenn man mal von diesem Peter absieht!”
“Tja, da haben Sie Recht”, erwiderte Philip, “ich empfand einige der Anwesenden als sehr indiskret und die Vergleiche unpassend. Also dachte ich mir, dass es wohl besser wäre, zu verschwinden.”
“Allerdings!”, meinte Thomas gequält, “und ich weiß nicht, was es da für einen Zusammenhang mit dem Besuch bei meinem Bruder und dieser Indianergeschichte gibt.”
“Welche Indianergeschichte?!”, erwiderte Philip irritiert.
“Na, die haben mich doch mit einem Indianer namens Jones verglichen, der auf irgendwelche Abenteuerreisen geht!”, erregte sich Thomas.
Philip musste sich schwer zusammennehmen, um nicht loszulachen, als er antwortete: “Oh ja, ja natürlich.”
Oh weh, dachte Philip, Thomas kennt diese Filmfigur wirklich nicht. Allerdings ist es auch sehr gut, dass Thomas nicht den Vornamen seines Bruders genannt hat. Denn dann wären bestimmt einem der Männer diese Zeichentrickfiguren Tom & Jerry eingefallen, und dabei ist ja Kater Tom der Trottel und Verlierer. Also dann schon lieber mit Indiana Jones bzw. Harrison Ford verglichen werden. Der ist schließlich ein geschickter und charmanter Mann.
“Na ja, wir haben es mit Anstand hinter uns gebracht, Thomas”, fuhr Philip fort, “erholen Sie sich ein bisschen heute Abend, und denken Sie nicht mehr an diese Nervensägen. Wir sehen uns dann morgen im Büro!”
Philip wollte schon gehen, als Thomas ihn zurückrief.
“Philip”, raunte er ihm zu, “meinen Sie, die sind misstrauisch geworden?!”
“Wegen der Reise nach Venezuela?”, fragte Philip.
“Hm...”
“Ach nein, das glaube ich nicht”, beruhigte Philip seinen Kollegen.
“Dann ist es ja gut”, seufzte Thomas erleichtert, “einen schönen Abend und nochmals danke!”
Als Thomas nach Hause kam, saßen seine Frau und seine Tochter bereits in der Küche beim Abendbrot. Thomas schloss auf, sah sich missmutig um und gab der Tür einen ziemlich heftigen Schubs, so dass sie krachend ins Schloss fiel. Er quetschte sich ein “hallo” heraus und ging geistesabwesend in sein häusliches Arbeitszimmer, um nach der Post zu schauen. Da er auch nach geraumer Zeit nicht zum Essen erschien, schickte Martha ihre Tochter los, um nachzuschauen, wo der Vater bliebe, und um ihn an den Tisch zu holen.
Sophie erhob sich wenig erfreut, denn sie ahnte, dass der Vater schlechte Laune hatte. Normalerweise kam er sofort an den Tisch, weil er Verspätungen bei den gemeinsamen Mahlzeiten hasste. Und er musste doch gemerkt haben, dass das Essen bereits fertig war.
Kurze Zeit später erschien sie wieder in der Küche, aber ohne Thomas.
“Was ist los?”, fragte die Mutter, “wo bleibt er denn? Hast du ihm nicht gesagt, dass das Abendbrot fertig ist?!”
“Doch”, entgegnete Sophie, “aber er hat heute megaschlechte Laune. Kommt mir vor wie ein Pharisäer, der versucht hat, Jesus mit ‘ner hinterhältigen Frage zu linken und dabei von Jesus langgemacht wurde zur Belustigung des erstaunten Publikums (Die Bibel, NT, z. B. Evangelium nach Lukas, Kap. 20, Verse 1 – 8 und 20 – 10). Ganz dicke Luft!”
“Sophie, du sollst doch nicht in so einer Art und Weise über biblische Inhalte sprechen. Ein bisschen mehr Respekt vor dem Wort Gottes wäre angemessen. Außerdem hat sich Jesus nie über andere Leute lustig gemacht. Er war immer voller Barmherzigkeit und Liebe und...”
“Das hab ich auch nicht behauptet, dass Jesus sich über andere lustig gemacht hat. Aber er hat seinen Zeitgenossen schon die Wahrheit auf’s Brot geschmiert. Was glaubst du, warum die derart sauer auf ihn waren?! Wenn Jesus heute leben würde, hätte er noch ganz andere Sprüche drauf. Also hab dich nicht so!”, rechtfertigte sich Sophie.
“Wie redest du eigentlich mit deiner Mutter?!”, empörte sich Thomas, der gerade im Türrahmen erschien. Martha hatte gerade zu einer ähnlichen Rüge angesetzt, aber ihr Mann war ihr zuvorgekommen.
“Ach Leute, seid doch nicht so humorlos!”, meinte Sophie, “hab’s doch nicht böse gemeint. Sorry, Mama, ich wollte dich nicht verletzen!”
Sie hatte sich entschlossen, besser ein wenig einzulenken, weil die Stimmung des Vaters eh schon schlecht genug war. Und sie musste ja keine Eskalation der Lage herbeiführen.
“Na, das wollte ich aber auch gemeint haben”, ranzte Thomas sie an und ließ sich erschöpft auf seinen Stuhl fallen, “was gibt’s denn heute Schönes, Schatz?!”, meinte er fragend in Marthas Richtung.
“Lasagne al forno mit Gorgonzola überbacken”, kam es aus der Nähe des Backofens.
Oh nein, dachte Thomas, heute bleibt mir aber auch nichts erspart. Ein Nudelgericht! Und dazu noch mit diesem elenden stinkenden Käse überbacken.
Aber laut sagte er: “Na, da bin ich ja mal gespannt.”
Er wollte Martha nicht verletzen und außerdem gar nicht erst Diskussionen über den Speisenplan aufkommen lassen, denn sonst würde es noch soweit kommen, dass Sophie ständig meuterte, weil es zu wenig Rohkost gab. Normalerweise machte Martha “anständiges” Essen, nur ab und zu kam so ein Nudelfraß auf den Tisch. Sie liebte die italienische Küche. Da konnte man nichts machen.
“Na, wie war dein Tag?”, erkundigte sich Martha, während sie ihm eine große Portion auf den Teller schob.
Thomas dachte: Oh, bitte nicht so viel. Mir ist der Appetit sowieso schon vergangen.
“Eigentlich ganz gut”, seufzte Thomas, “um genauer zu sein, er hätte perfekt werden können, wenn nicht... hach, nichts weiter.”
“Wenn nicht was?”, fragte Martha nach und setzte ihm seinen Teller vor, “was ist passiert, dass du derart schlechte Laune hast?”
Auch wenn Thomas Marthas Einschätzung seiner Stimmungslage fuchste, hütete er sich davor, sie anzuschnauzen.
“Ach”, meinte Thomas ärgerlich, “die Verhandlung lief spitzenmäßig. Wir waren schon kurz vor Mittag fertig. Die Geschworenen haben diesen Lumpen schuldig gesprochen, und ich konnte die Höchststrafe verhängen...”
“Na, dann ist doch alles in Ordnung!”, unterbrach ihn Sophie verwundert.
“Könnte ich vielleicht mal ausreden?!”, giftete sich Thomas.
“Schon gut”, murmelte Sophie.
“Dass du einen aber auch immer unterbrechen musst, Sophie!”, schimpfte Thomas, “das scheint in unserer Gesellschaft anscheinend immer mehr um sich zu greifen. Diese ganze Respektlosigkeit gegenüber Eltern ist einfach unglaublich!”
“Ach komm, Sophie hat es nicht bös gemeint. Sie wollte dich doch nur aufmuntern. Du bist wirklich nicht gut drauf, Schatz!”, verteidigte Martha ihre Tochter.
“Na schön, was soll’s. Ich komme also aus der Verhandlung und erwische meine Sekretärinnen beim Kaffeeklatsch. Und damit nicht genug. Denn diese Typen beim Empfang des Bürgermeisters, die haben mich total verhöhnt. Einer dieser Kerle wollte uns doch partout für das kommende Wochenende auf seine Segelyacht einladen, aber...”
“Das verstehe ich nicht, warum du deswegen böse bist”, wunderte sich Martha, “das ist doch sehr nett.”
Jetzt wurde es Thomas aber doch zu bunt. Schon wieder war er unterbrochen worden.
“Könnte ich vielleicht mal die ganze Geschichte erzählen?”, knurrte er.
“Ja, ja natürlich”, entgegnete Martha in einer Mischung aus Irritation und Reue.
“Deswegen bin ich ja auch nicht sauer”, fuhr Thomas genervt fort, “aber ich musste ablehnen, weil ich am Wochenende verhindert bin. Und dann mussten diese impertinenten Kerle in meinen Privatangelegenheiten wühlen. Als wenn das nicht reicht, wenn man sagt, dass man verhindert ist. Sowas Ungehobeltes, dann auch noch nachzubohren, was man denn vorhat.”
“Und was hast du vor, wenn ich fragen darf?”
Martha sah ihren Mann etwas irritiert an. Er hatte ihr gegenüber nichts erwähnt, was auf ein ausgefülltes Wochenende schließen ließ, und sie war außerdem ziemlich enttäuscht, dass das mit der Segelyacht nicht klappte. Das hätte ihr nämlich gut gefallen. Man saß ja sowieso zu viel drinnen. Da wäre ein Wochenende auf einer Segelyacht gerade recht gekommen. Und es wäre bestimmt nett gewesen, neue Leute kennenzulernen.
“Ich fliege übermorgen nach Venezuela”, brummte Thomas, “und bleibe bis zum Wochenende.”
“Nach Venezuela!”, Martha zog die Augenbrauen hoch, “wieso denn das?!”
“Na ja, ich... nun ja, nun, es kommt vielleicht ein wenig unvermutet und plötzlich, aber ich... ich habe ein schlechtes Gewissen bekommen. Weißt du, ich spekuliere doch auf das Amt des Bundesrichters. Und solche Leute sollen einen einwandfreien Ruf haben. Aber da gibt es doch diesen Streit zwischen Jeremiah und mir. Und ich fände es peinlich, wenn sowas öffentlich würde.”
Wieso öffentlich würde? wunderte sich Sophie im Stillen. Das ist doch wohl schon lange allgemein bekannt!
“Und was willst du dagegen machen?”, forschte Martha nach.
“Na ja, ich habe mir überlegt, dass ich das aus der Welt schaffen sollte”, entgegnete Thomas und gab sich schuldbewusst, “deshalb will ich auch möglichst schnell mit Jeremiah darüber sprechen. Und ich bin froh, dass ich es mir schon vorgenommen hatte, bevor dieser Typ da auf dem Empfang mich auf seine Yacht einladen wollte. Der war nämlich ein Präsidentenberater und wollte mich näher kennenlernen. Stell dir mal vor, wie peinlich das geworden wäre, wenn er das mit dem Zerwürfnis herausbekommen hätte.”
“Ich denke, du kannst es nicht leiden, wenn andere Leute in deinen Privatangelegenheiten wühlen, Paps?!”, wunderte sich Sophie.
“Sophie!”, zischte Thomas seine Tochter an, “treib mich nicht zur Weißglut!”
“Ich glaube, ich sage heute Abend besser nichts mehr”, murrte Sophie, “egal was ich sage, es ist immer verkehrt.”
“Ja, wahrscheinlich ist das besser, wenn du den Mund hältst”, befand Thomas.
“Mann, du bist heute wirklich ungenießbar”, ärgerte sich jetzt Martha, “und irgendwie habe ich immer noch keinen Zusammenhang zwischen deiner schlechten Laune und dieser Einladung herstellen können. Der Bursche, der uns einladen wollte, war also Präsidentenberater. Kenne ich den vielleicht?”
“Weiß nicht, ich kannte ihn jedenfalls nicht. Hatte auch keinen außergewöhnlichen Namen. Er hieß Peter.”
“Aha, und wie weiter?”
“Irgendwas mit ‘M’. War auch so ein langweiliger Nachname. Aber ich habe ja zum Glück... oh nein, habe ich nicht”, stöhnte Thomas.
“Was hast du nicht?!”
“Ich habe mir seine Telefonnummer nicht geben lassen, so ein Mist!”, murrte Thomas, “das kam bestimmt nur von diesem ganzen elenden Nachbohren und dümmlichen Indianergequatsche, dass ich das vergessen habe. Zum Glück hat Philip dafür gesorgt, dass wir uns unauffällig abseilen konnten, ehe die noch dreister wurden.”
“Tja, und was willst du machen, wenn die Versöhnungsaktion mit Jeremiah nicht klappt?”, wollte Martha wissen, “dann hast du so eine geniale Chance vertan und liegst immer noch im Streit mit deinem Bruder.”
“Dann kann ich diesen Peter immer noch anrufen und ihm sagen, dass das mit der Versöhnung nicht geklappt hat. Vielleicht wirkt das dann noch positiver, als wenn ich die Einladung angenommen hätte. Wer schlägt schon solch ein Angebot aus, weil er sich lieber mit seinem Bruder versöhnen will? Das ist was wirklich Edles. Und was die Telefonnummer von diesem Peter angeht, so soll mir Philip die besorgen, der war schließlich auch auf dem Empfang. Bestimmt kann der Bürgermeister ebenfalls weiterhelfen. Von daher ist doch alles in Butter.”
“Okay, akzeptiert”, entgegnete Martha, “und jetzt wüsste ich nur noch gern, was der Grund für deine schlechte Laune ist. Du sagtest eben was davon, dass sie dich verhöhnt hätten. Bisher hast du aber nur Positives erzählt.”
“Ach ja”, erwiderte Thomas unwirsch, “die haben mich mit einem Indianer verglichen.”
“Na, ein guter Fährtenleser bist du aber allemal”, hielt Martha dagegen.
“Tja, das meinten die aber nicht”, murrte Thomas, “die meinten, ich sähe einem Indianer ähnlich, der Jones heißt und einen Doktortitel hat!”
Martha sah ihren Mann nicht besonders intelligent an, als er das sagte. Darauf konnte sie sich keinen Reim machen.
“Na siehste, da fehlen euch auch die Worte”, fügte Thomas noch an.
Kaum dass er das gesagt hatte, machte es bei Sophie “klick”, und sie prustete los.
Thomas blickte ziemlich böse zu seiner Tochter herüber und meinte brüskiert: “Darf ich vielleicht erfahren, was der Grund für deine plötzliche Heiterkeit ist?”
“Ich denke, ich soll für den Rest des Abends den Mund halten”, rechtfertigte sich Sophie.
“Ich hab dich was gefragt!”, zischte Thomas zurück.
“Na schön, wenn du es nicht anders willst”, entgegnete Sophie, sah ihren Vater prüfend von der Seite an und musste schon wieder grinsen, “die Typen da auf dem Empfang meinten nicht einen Indianer, sondern Indiana Jones.”
“Macht das einen Unterschied?!”
“Und ob”, erklärte Sophie, “Indiana Jones ist ein Weißer und ein Doktor der Archäologie...”
“Na schön, aber ich wüsste nicht, was es da für Ähnlichkeiten mit meiner Person gäbe!”, murrte Thomas.
Erzähl du mir nicht nochmal, dass ich Leute ausreden lassen soll, Paps, dachte Sophie verärgert, wo du auch andauernd andere unterbrichst. Aber das werde ich dir nicht unter die Nase halten, weil du wahrscheinlich jetzt den größten Schock deines Lebens erleiden wirst, und man muss die Sache ja nicht noch schlimmer machen, als sie eh schon ist.
“Paps”, setzte Sophie an, “du musst jetzt sehr tapfer sein. Paps, Indiana Jones existiert nicht wirklich. Er ist eine Filmfigur. Und du siehst dem Darsteller, der ihn gespielt hat, wirklich zum Verwechseln ähnlich.”
Thomas sah seine Tochter an, als habe es gedonnert.
“Sag das nochmal!”, hauchte er entgeistert.
“Indiana Jones ist eine Filmfigur, und der Typ, der ihn gespielt hat, heißt Harrison Ford. Und dem siehst du wirklich zum Verwechseln ähnlich.”
“Das kann ich nicht glauben”, murmelte er fast tonlos.
“Du musst es auch nicht glauben, Schatz”, schaltete sich Martha nun wieder ein, “es ist eine Tatsache. Und reiß Sophie jetzt bitte nicht den Kopf dafür ab, dass sie dir das erklärt hat.”
“Äh, nein, schon gut”, stammelte Thomas fassungslos, um dann plötzlich aufzufahren, “und warum erfahre ich das erst jetzt? Ihr habt das mit diesem... wie hieß der noch?”
“Harrison Ford”, meinte Sophie.
“Ja genau, den Namen hab ich da auch gehört von den Männern auf dem Empfang, also, ihr habt das mit diesem Harrison Ford und mir doch bestimmt schon länger gewusst. Warum habt ihr es mir dann verheimlicht?!”
“Es hätte dich doch bloß verärgert”, fand Martha, “und ist das so wichtig? Das gibt es öfter, dass man einen Doppelgänger hat.”
“Dieser Kerl ist ein Schauspieler!”, fuhr Thomas hoch.
“Ja, allerdings”, konnte sich Sophie den Kommentar jetzt nicht verkneifen, “nur dass er ein sehr berühmter, gut aussehender, beliebter und deshalb auch sehr erfolgreicher Schauspieler ist. Von daher kannst du froh sein, dass der nicht so unfähig ist, dass er mehr im Schnellrestaurant an der Fritteuse als vor der Kamera steht.”
“Du halt dich da raus!”, wies der Vater sie zurecht, “hat dieser Harrison Ford auch einen Vornamen?”
“Wieso?”, fragte Sophie irritiert zurück.
“Wieso, wieso”, zeterte Thomas, “jeder Mensch hat einen Vor- und einen Nachnamen. Davor kann sich noch nicht mal ein Schauspieler drücken. Also, wie heißt dieser Harrison Ford mit Vornamen?”
Sophie musste sich schwer zusammennehmen, um nicht schon wieder loszulachen.
“Sein Vorname ist Harrison”, meinte sie milde.
“Red kein dummes Zeug, kein Mensch heißt Harrison mit Vornamen.”
“Anscheinend doch!”
“Dann ist es bestimmt ein Künstlername, sowas kann sich auch nur ein Schauspieler ausdenken, typisch!”
“Ich glaube, dass das sein bürgerlicher Name ist und dass sich seine Eltern das ausgedacht haben.”
“Oh Mann, sowas kann es auch nur beim Film geben”, Thomas konnte sich gar nicht beruhigen, “ein Kerl, der noch nicht einmal einen vernünftigen Vornamen hat, spielt einen Typen, der mit Vornamen wie ein Bundesstaat der USA heißt. Ebenso gut hätte ich dich Connecticut nennen können.”
“Da hab ich aber nochmal Glück gehabt”, meinte Sophie mit stoischer Ruhe.
Thomas wollte seine Tochter gerade am liebsten für diesen frechen Ausspruch maßregeln, als Martha ihm zuvorkam.
“Na gut, dann hätten wir das jetzt wohl geklärt”, fand sie, “und tu mir bitte einen Gefallen, Thomas, und reg dich wieder ab. Es mag sein, dass du für die Berufsgruppe der Schauspieler nicht viel übrig hast, aber diese Leute haben auch einen Lebensberechtigungsschein. Und wie Sophie schon sagte, ist Harrison Ford nicht erst seit gestern im Geschäft. Und er ist gut im Geschäft. Und er hatte meines Wissens keine Affären und keine Skandale. Allgemein bekannt ist aber, dass er als sehr bescheiden gilt und man tendenziell nur von ihm hört, wenn er gerade wieder einen neuen Film herausgebracht hat. Das dürfte dann auch erklären, warum du gar nichts von ihm wusstest. Von daher kannst du noch nicht einmal sagen, dass die Männer auf dem Empfang dich verhöhnt hätten. Sie haben dir wohl eher ein Kompliment gemacht, wobei es noch nicht mal ein Kompliment ist, denn sie haben lediglich eine Tatsache festgestellt.”
“Ja, aber es kam so plötzlich”, nahm sich Thomas etwas zurück, “na ja, und ich habe da halt was missverstanden...”
“Du scheinst öfter was misszuverstehen, Paps”, seufzte Sophie, “ich kann nur hoffen, dass sich dieses Missverständnis zwischen Onkel Jerry und dir in Wohlgefallen auflösen wird. Allerdings solltest du nicht ganz so schlecht gelaunt sein wie heute, wenn du mit ihm sprichst. Dann klappt das mit der Versöhnung garantiert nicht.”
“Jetzt reicht’s!”, fuhr Thomas seine Tochter an, “du gehst sofort auf dein Zimmer und bleibst dort. Eine Woche Stubenarrest. Alles klar?!”
“Ich bin siebzehn, Paps!”, protestierte Sophie, “aber ich wäre auch freiwillig gegangen. Die Luft ist mir zu dick hier.”
Und damit erhob sich Sophie, um mit demonstrativer Lässigkeit die Küche zu verlassen.
“Raus!”, brüllte Thomas hinter ihr her.
Als Sophie die Küche verlassen hatte, sah Martha Thomas genervt an.
“Das musste doch jetzt nicht sein”, murrte sie, “wo sie Recht hat, hat sie Recht. Wenn du mit solch einer Laune mit Jeremiah sprichst, dann schlagt ihr euch eher gegenseitig den Schädel ein. Das wird Peter nun absolut nicht beeindrucken.”
“Ja, entschuldige, ich bin heute wirklich nicht gut drauf”, lenkte Thomas ein, “ich hatte einen anstrengenden Tag. Und dann diese Belehrungen von Sophie. Die kennt sich im Showbusiness besser aus als in der Bibel. Das macht mir Sorgen.”
“Das würde ich nicht sagen, Thomas. Sophie ist Sonntagschulmitarbeiterin, hast du das vergessen? Die anderen Mitarbeiter sprechen in den höchsten Tönen von ihr, und die Kinder sind einfach hingerissen.”
“Und wieso kennt sie dann diese ganzen Schauspieler und Filme?”, grollte Thomas.
“Kam letztens im Fernsehen”, erwiderte Martha trocken, “und jetzt hör endlich auf zu schmollen. Lass uns ‘nen schönen Abend machen, wenn ich dich schon die restliche Woche entbehren muss!”
Martha hatte sich hinter ihn gestellt und kitzelte das kleine bisschen Bauchspeck, den er hatte. Thomas quiekte und musste lachen.
“Okay, du hast gewonnen. Ich ergebe mich. Gnade!”
Sophie hatte sich inzwischen auf ihr Zimmer verzogen. Sie war immer noch wütend auf ihren Vater, und deshalb rief sie jetzt ihre Großtante Laetitia an, um ihr brühwarm von der ganzen Auseinandersetzung zu erzählen. Laetitia amüsierte sich köstlich ob Sophies Ausführungen, gleichzeitig tat ihr das Mädchen aber auch leid.
“Oh Tante Laetitia”, seufzte Sophie, “du bist echt der einzige Lichtblick in dieser Familie von Besserwissern.”
“Na, deine Mutter ist aber doch ganz okay, oder?!”, befand Laetitia.
“Ja, stimmt”, bestätigte Sophie, “aber eins sage ich dir, wenn ich im Herbst volljährig werde, ziehe ich hier aus. Ich hab keinen Bock mehr auf Papa Nervensäge. Dieses ewige Genörgel. Das Leben ist staubtrocken und anstrengend. Lachen verboten. Das geht mir voll auf den Keks!”
“Na ja, vielleicht besteht noch Hoffnung”, versuchte die Tante ihre Großnichte aufzumuntern, “immerhin will er sich mit Jeremiah versöhnen. Und er hat dafür sogar die Einladung auf die Segelyacht des Präsidentenberaters ausgeschlagen.”
“Das funktioniert sowieso nicht, so wie der drauf ist”, seufzte Sophie, “pass auf, nachher kommt er noch auf die Idee, Onkel Jerry wegen irgendeiner Belanglosigkeit verhaften zu lassen, zum Beispiel mit der Begründung, dass Jeremiah in der Nase gepopelt hat, und das sah danach aus, als würde er Kokain schnupfen. Nun suchen wir ihn per Interpol, weil er ein Drogendealer ist.”
Laetitia musste losprusten, als Sophie das sagte.
“Wo nimmst du nur diese witzigen Ideen her?!”, wunderte sie sich vergnügt.
“Galgenhumor”, entgegnete Sophie, aber grinsen musste sie doch, “allerdings kann ich nur hoffen, dass sich Onkel Jerry schnell genug aus dem Staub machen kann, falls Paps zum großen Halali auf ihn bläst.”
“Tja, eigentlich hatte ich Jeremiah schon vorwarnen wollen”, bestätigte Laetitia, “aber ich will mich da auch nicht einmischen. Nachher gibt einer der beiden Männer oder sogar beide mir die Schuld daran, dass das mit der Versöhnung nicht geklappt hat. Und weißt du, bei aller Liebe, aber der plötzliche Sinneswandel deines Vaters bezüglich Jeremiah ist mir nicht koscher.”
“Mir allerdings auch nicht”, seufzte Sophie, “wir sollten mal dafür beten, dass doch was Gutes daraus wird.”
“Hm, genau das wollte ich gerade auch vorschlagen”, bestätigte die Tante, “und, was ich noch sagen wollte, Sophie, wenn du im Herbst wirklich ausziehen willst, dann komm zu mir. Ich habe genügend Platz, und außerdem bin ich dann nicht mehr allein. In gewisser Weise fällt mir das inzwischen schon schwerer als früher, auch wenn ich oft Besuch von ehemaligen Schülern bekomme.”
“Danke, Tantchen, das mache ich”, freute sich Sophie, “und außerdem wäre ich auch nicht so gern bei Cedric eingezogen, zumal wir noch nicht zusammen sind. Ich weiß nicht, ich möchte mich nicht von einem Mann abhängig machen, mit dem ich nicht verheiratet bin.”
“Gute Einstellung”, entgegnete Laetitia, um dann verschmitzt fortzufahren, “aber du erzählst mir doch, wie es mit euch beiden weitergeht? Du weißt doch, alte Frauen sind extrem neugierig.”
“Klar, das ist doch Ehrensache”, bestätigte Sophie grinsend, “und überhaupt, wie könnte ich dich enttäuschen, Tantchen.”
“Dann ist es ja gut. Und Sophie, halte durch. Du hast es so lange geschafft, dieses alte Stinktier von deinem Vater zu ertragen, da wirst du doch nicht auf den letzten Metern aufgeben.”
“Ja, da hast du Recht.”
Puh, dachte Sophie, nachdem sie aufgelegt hatte, das tat jetzt echt gut. Großtante Laetitia trägt ihren Vornamen jedenfalls zu Recht. Sie ist die Fröhlichkeit in Person, ohne albern oder oberflächlich zu sein. Das ist irgendwie toll, wenn man Freude bzw. Fröhlichkeit mit Vornamen heißt. Das klingt jedenfalls nicht so arrogant wie Weisheit, vor allem aber kann das peinlich werden, wenn man in Wirklichkeit strohdoof ist. Und Laetitia hat ein Herz für die Menschen, deshalb war sie auch so eine beliebte Lehrerin. Kein Wunder, dass sie immer noch Besuch von ehemaligen Schülern bekommt. Sie ließ sich noch nie von Äußerlichkeiten täuschen, sondern blickte immer hinter die Maske. Ob jemand etwas taugt oder nicht, das hängt für sie nicht von seinen Leistungen und Erfolgen, sondern von seinen Beweggründen ab. Und sie kann unheimlich gut motivieren und Menschen anspornen, mal etwas zu wagen und Neues auszuprobieren. Ich glaube, wenn sie nicht gewesen wäre, dann hätte Onkel Jerry schon längst Selbstmord begangen. Sie hat ihn immer gegenüber Paps verteidigt, auch wenn sie seinen Lebenswandel nicht durchweg guthieß. Onkel Jerry hat es echt nicht leicht gehabt mit einem Bruder wie Paps. Ständig wurde er an seinem älteren Bruder gemessen. Dass er es irgendwann leid gewesen ist, nie gut genug zu sein und Papa immer als leuchtendes Beispiel vor Augen gehalten zu bekommen, ist nur zu gut verständlich, hatte er sich doch zeitlebens abgemüht, ein Ideal zu erreichen, dass unerreichbar war. Onkel Jerry ist wahrhaftig nicht dumm, sondern sehr intelligent, aber nicht so verbiestert wie Paps. Er will neben all der Schufterei auch noch ein bisschen Lebensqualität haben. Aber Strebsamkeit ist in dieser freudlosen Familie ja die höchste Tugend. Kein Wunder, dass für Onkel Jerry Probleme schon vorprogrammiert waren. Und dann noch Papas elende Arroganz. Er bildet sich doch tatsächlich etwas darauf ein, ein McNamara zu sein. Als wenn er was dafür könnte! Das finde ich ja absolut unpassend und überheblich! Tja, und irgendwann ist das Fass dann übergelaufen. Onkel Jerry hat alles hingeschmissen, weil er dieses ganze großkotzige Gehabe nicht mehr ertragen konnte. Schließlich musste er sich ständig anhören, dass er ein Versager ist, weil er das Jurastudium nicht gepackt hat. Nach dem Militärdienst in Vietnam hat er dann auch kein Bein mehr auf die Erde gekriegt. Schließlich jobbte er mal hier, mal da und lebte in den Tag hinein. Als Paps ihm dann eines Tages vorwarf, er sei ein Schmarotzer, der ihn nur ausnutzen würde, hat es Onkel Jerry gereicht. Das fand ich ja so fies von Paps. Onkel Jerry hatte ihn doch nur gebeten, ihm ein wenig Geld zu leihen, weil er gerade mal wieder arbeitslos war. Aber kaum dass er wieder einen Job hatte, hat er ihm alles zurückgezahlt. Dabei hatte Paps genug Knete, da hätte er ihm den Betrag doch mal schenken können, denn so viel war das nun auch wieder nicht. Aber wenn Paps meinte, Onkel Jerry sei ein Schmarotzer, dann war Onkel Jerry auch ein Schmarotzer, und zwar deshalb, weil Paps es sagte, dass es so sei. Oh, diese ewige Besserwisserei. Paps hat immer Recht. Von Berufs wegen und überhaupt. Selbst wenn er im Unrecht ist, hat er noch Recht. Ich weiß noch gut, wie das war, als Onkel Jerry die Fliege gemacht hat. Paps hatte mal wieder Recht, und Onkel Jerry hat zu ihm gesagt: “Du lebst wohl nach dem Motto: ‘Bleiben wir schlicht, ihr könnt ‘Gott’ zu mir sagen, was?!’.”
Paps hat getobt und ihn angeschrien und beschimpft und etwas von Blasphemie und all solchen Sachen gesagt. Onkel Jerry hat ihn dann noch mehr gereizt, indem er ihn immer mit Tom anredete, weil er ganz genau wusste, dass sein Bruder das auf den Tod nicht leiden konnte, wenn man ihn Tom nannte. Beinahe wären die beiden in echt christlicher Nächstenliebe mit Fäusten aufeinander losgegangen, aber Mama war dazwischen gefahren und hatte die Kampfhähne auseinander gebracht. Dann hatte Mama Onkel Jerry böse angesehen und gesagt, es sei wohl besser, wenn der jetzt gehen würde. Und Onkel Jerry hatte gesagt, dass er das schon viel eher hätte tun sollen und dass es ihm jetzt endgültig reichen würde.
“Ja, geh nur, und komm ja nicht so schnell wieder”, hatte Paps gewettert, “und bleib schön lange weg. Je weniger ich dich sehen muß, umso besser! Das ist sowieso besser für uns alle. Du bist der Schandfleck unserer Familie. Wenn du nicht mehr auf der Bildfläche erscheinst, kannst du auch niemandem mehr im Wege stehen!”
Onkel Jerry hatte geantwortet, dass er sich mit Sicherheit so weit entfernen würde, dass er, Punkt eins, niemandem mehr im Wege wäre, und dass er, Punkt zwei, hoffe, dass niemand aus dieser elenden Familie von Besserwissern ihm im Wege stehen würde in Zukunft. Paps solle ja nicht dort aufkreuzen, wo er jetzt hinginge, denn er würde ihn mit Sicherheit rausschmeißen. Er wolle sich was Eigenes aufbauen, wo die Gesetze des Herrn Doktor McNamara nicht gelten würden.
“Auf nimmer wiedersehen, Tom”, hatte er geschlossen und sich auf dem Absatz rumgedreht, das Haus verlassen und die Tür so heftig hinter sich zugeknallt, dass die Glasscheibe gesplittert war.
“Ich schick dir die Rechnung für die Scheibe”, hatte Paps ihm hinterher geschrieen, aber Onkel Jerry hatte ihn gar nicht mehr beachtet.
“Und da soll das mit einer Versöhnung klappen?”, murmelte Sophie seufzend vor sich hin.
Laetitia dachte ihrerseits noch eine Weile über das Gespräch mit Sophie nach.
Hoffentlich wird sich nicht etwas Ähnliches zwischen Vater und Tochter abspielen, wie es sich zwischen den beiden Brüdern abgespielt hat, fuhr es ihr durch den Kopf. Sophie hat von Thomas nicht nur die Cleverness, sondern auch den Dickkopf geerbt. Sie ist zwar nicht so verbissen und verkniffen wie ihr Vater, aber sie weiß, was sie will. Und sie hat eine spitze Zunge. Das gefällt Thomas natürlich gar nicht. Sophie ist wirklich ganz schön schlagfertig, und oft weiß Thomas dann nichts darauf zu sagen. Kein Wunder, dass ihn das ärgert. Er kann halt nicht verlieren. Das ist noch so eine negative Eigenschaft an ihm. Hoffentlich wird ihm das mal nicht zum Verhängnis.