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Teil 1 – Kapitel 9
ОглавлениеAm Abend des 13. Juli befand sich Philip in großer Spannung. Immer wieder hörte er Nachrichten, um zu erfahren, ob es irgendwelche Meldungen gab, in denen sein Kollege erwähnt wurde. Fehlanzeige. Philip war sehr froh. Um ganz sicher zu gehen, dass alles in Ordnung war, rief er Dr. Martha McNamara an und erkundigte sich, ob Thomas schon bei Jeremiah gewesen wäre. Martha erzählte Philip von dem Telefonat am frühen Nachmittag. Beide freuten sich, dass Thomas sich anscheinend wirklich aufgerafft hatte, zu seinem Bruder zu fahren und eine Klärung herbeizuführen.
Am nächsten Morgen brachte er den Sekretärinnen Kaffee mit. Schließlich wollte er doch nicht als Schmarotzer verschrien sein. Er plauderte mit den beiden, bekam natürlich auch eine Tasse und begab sich wieder an seine Arbeit. Der Tag verlief anschließend sehr hektisch, weil er viele Außentermine hatte und deshalb viel unterwegs war. Deshalb hörte er auch kein Radio, das hätte ihn dann nur zusätzlich genervt.
Hauptsache, Thomas kriegt das mit der Versöhnung hin, dachte Philip zwischenzeitlich. Dann ist er hoffentlich etwas genießbarer, mal abgesehen davon, dass er vielleicht wirklich mehr Chancen für eine Berufung hat. Aber noch viel wichtiger ist, dass er sich da unten nicht langmacht bzw. langemacht wird.
Philip liebte seinen Beruf, aber manchmal war auch ihm Thomas’ Gehabe einfach zu viel. Für einen Moment dachte er, dass er gar nicht traurig wäre, wenn Thomas nicht aus Venezuela wiederkäme, das würde seine Lebenserwartung mit Sicherheit um mindestens zehn Jahre erhöhen. Aber im nächsten Augenblick tat ihm dieser abscheuliche Gedanke schon wieder leid.
Hoffentlich wird Thomas bald befördert, dachte er. Dann sind wir ihn los. Das ist doch die wesentlich schmerzlosere Variante für uns alle. Und das “Kleinkind” hat seinen Willen mal wieder bekommen. Aber glücklicher wird es deshalb nicht sein. Thomas, du bist ein armer Wicht! Ich frage mich ernsthaft, ob es irgendwas gibt, was dir Glück und Frieden verschafft. Vorstellen kann ich es mir jedenfalls nicht. Na, was soll’s, es ist ja auch nicht mein Problem.
Als er abends nach Hause kam, sich auf einen ruhigen Feierabend freuend, blieb ihm fast das Herz stehen. Als er in die Straße einbog, in der er wohnte, sah er vor seinem Haus eine riesige Menschentraube.
Ach du Schande, dachte er entsetzt, was ist denn da passiert?!
Als die Leute, die vor Philips Haus standen, ihn kommen sahen, stürmten sie in seine Richtung wie ein Schwarm Hornissen. Philips Augen weiteten sich in wildem Entsetzen. Das waren ja Reporter. Was wollten die hier? Philip fuhr im Schritttempo durch die wild durcheinander laufenden Menschen. Polizisten waren anscheinend auch darunter. Was um alles in der Welt war hier los?
Kaum dass er auf der Auffahrt geparkt hatte und ausgestiegen war, stürzte sich die Meute auf ihn.
“Dr. Banks, was können Sie zu dem Fall Dr. McNamara sagen?”
“Seit wann ist Dr. McNamara Ihrer Meinung nach schon ins Drogengeschäft verwickelt?”
“Wieso konnte er so lange unerkannt ein Doppelleben führen?”
“Was wussten Sie darüber, Dr. Banks?”
“Sie sind sein engster Vertrauter. Was wussten Sie?!”
“Warum konnte die Polizei Dr. McNamara nicht schon früher entlarven?!”
Um Philip drehte sich alles. Er wusste überhaupt nicht, wo die Glocken hingen. Was war das gerade gewesen: ‘Seit wann ist Dr. McNamara schon ins Drogengeschäft verwickelt?’ Da musste er sich doch wohl verhört haben. Thomas bekämpfte die Drogenbosse, er würde niemals gemeinsame Sache mit ihnen machen!
Irgendwie gelang es Philip, sich ins Haus durchzukämpfen. Dort erwarteten ihn schon seine völlig aufgelöste Ehefrau neben Agenten des CIA und des FBI sowie ein paar Streifenpolizisten und sogar der Bürgermeister von New York.
“Oh Schatz”, stieß sie verzweifelt aus, “in was bist du da hineingeraten?!”
“Bitte”, meinte Philip, “könnten Sie mir sagen, was das alles soll?”
“Nun, Dr. Banks, vielleicht hätten Sie heute über Tag mal Radio hören sollen!”, meinte einer der Agenten.
“Ich hatte heute noch etwas anderes zu tun, als die vielen unerfreulichen Nachrichten aus aller Welt zu hören!”, gab Philip ein ziemlich eingeschnappt zurück.
“Tja, nur manchmal kann das sehr erhellend sein, wenn man informiert ist.”
“Also”, wandte sich der Bürgermeister an Philip, “wir stehen vor einem der größten Justizskandale der Nachkriegszeit, Philip. Unser allseits geschätzter Jurist, Dr. Thomas McNamara, ist gestern von der venezolanischen Drogenfahndung auf frischer Tat ertappt worden, wie er Kontakt zu seinem langjährigen Freund Miguel Ramírez aufgenommen hat. Man fand bei ihm einen Brief, in dem Ramírez ihn in seine Villa am Strand einlud. Leider ist McNamara den Fahndern zweimal entwischt. Jetzt läuft eine landesweite Großfahndung nach ihm und seinem Komplizen. Kam heute Morgen als erstes in den Nachrichten durch und wurde stündlich als die Schlagzeile wiederholt. Er hat jahrelang Kontakt zu den Drogenkartellen gehabt, und keiner von uns wusste davon. Oder wusste vielleicht doch jemand etwas, zum Beispiel Sie, Philip?”
“Moment, Moment mal, das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein! Thomas ein Freund der Drogenbarone. Da lachen ja die Hühner!”, ereiferte sich Philip, aber ihm war schrecklich unwohl bei der Sache.
“Tja, das haben wir auch jahrelang gedacht, dass er dazu nicht fähig wäre. Aber es hat allen Anschein, dass es die bittere Wahrheit ist.”
“Das glaub ich einfach nicht, das glaub ich einfach nicht”, murmelte Philip vor sich hin, um dann mit voller Lautstärke aufzufahren, “das glaub ich einfach nicht!!! Niemals! Eher wird der Präsident der Vereinigten Staaten Kommunist. Nein. Thomas ist kein Freund der Drogenbarone. Ausgeschlossen!”
“Hören Sie, Dr. Banks, es ist uns egal, was Sie glauben, aber die Beweise, die wir haben, sprechen eine deutliche Sprache. Um nicht zu sagen, eine absolut eindeutige!”, bemerkte einer der CIA-Agenten mit ziemlich scharfem Unterton.
“Philip, ich verstehe ja, dass das alles ein bisschen viel für Sie ist”, lenkte der Bürgermeister ein, “aber Ihr Kollege ist privat da runter gefahren, nicht wahr?”
“Ja und? Ist es ein Verbrechen, privat nach Venezuela zu fahren? Ist man dann direkt ein Drogenhändler? Vielleicht sollte man mal eine Liste der Staaten herausgeben, in die man nicht fahren darf, weil man sonst als Drogenhändler bezeichnet wird!”, regte sich Philip auf.
“Nun, es ist kein Verbrechen, privat nach Venezuela zu fahren”, erwiderte der Bürgermeister und war schon ziemlich pikiert, “nur dass bei ihm ein Brief gefunden wurde, in dem Ramírez ihn seinen langjährigen Freund nennt und eine persönliche Angelegenheit als geniale Tarnung bezeichnet. Wenn man mit solch belastendem Material geschnappt wird, dann wird es ziemlich schwierig, es glaubhaft zu machen, dass man mit der ganzen Sache nichts zu tun hat. Und es gab ja auch nie Fahndungserfolge in der ganzen Zeit, in der McNamara Richter in New York war. Komisch, nicht wahr?”
“Gab es denn vorher welche?!”, fragte Philip höchst verärgert, “doch wohl nicht! Und mal abgesehen davon: Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Thomas ist Richter, kein Kriminalkommissar oder Staatsanwalt! Er muss neutrale Urteile fällen.”
“Stimmt!”, hielt der Bürgermeister dagegen, “aber er hat Einblicke in die Unterlagen, und zwar in alle Unterlagen. Und er hat Hintergrundinformationen, kennt die Vorgänge und Abläufe. Wir wissen beide, dass in den letzten Jahren einige Ermittler vom organisierten Verbrechen liquidiert wurden. Ein Richter mit Doppelleben ist von daher ein perfekter Verbündeter und hat wenig von der Drogenmafia zu befürchten, denn die braucht ihn ja bzw. er kann sie relativ leicht hochgehen lassen. Stellen Sie sich mal vor, unser Richter wechselt die Seiten und sucht sich einen Verbündeten, mit dem er die sauberen Herrschaften fertigmachen kann, womöglich noch, um sich zu profilieren.”
Sag jetzt nicht: Und um Bundesrichter zu werden, dachte Philip, oh mein Gott, im Prinzip ist genau das passiert, was der Bürgermeister da vermutet, bis auf die Tatsache, dass ich Thomas wirklich nicht zutraue, ein Doppelleben geführt zu haben.
“Und was wäre, wenn Thomas auf’s Kreuz gelegt worden ist?”, ließ sich Philip deshalb vernehmen, “wir haben beide auf dem Empfang gehört, dass er seinen Bruder besuchen will, mit dem er etwas zu klären hatte...”
“Tja, das hat er auch getan!”, fauchte ihn der Einsatzleiter des FBI an, “und das muss ja etwas sehr Wichtiges gewesen sein, da er die Einladung des Präsidentenberaters ausgeschlagen hat, wie der Herr Bürgermeister uns mitteilte. Denn die Ermittler vor Ort hatten den sauberen Herrn Richter nämlich schon verhaftet, aber dummerweise hat sein Bruderherz ihn ganz unvermutet befreit.”
“Das sagt noch gar nichts!”, knurrte Philip den Agenten nun seinerseits an, “wenn Thomas gelinkt worden ist, ist es völlig normal, Hilfe bei seinem Bruder zu suchen. Und genauso normal ist es auch, dass der Bruder ihn befreit hat.”
Obwohl es eigentlich nicht normal ist, dachte Philip, so verfeindet, wie die beiden waren.
“Das einzige, was Sie gegen Dr. McNamara in der Hand haben”, fuhr Philip verärgert fort, “ist doch anscheinend nur dieser Brief. So einen Brief kann jeder schreiben. Das muss noch nicht einmal Ramírez gemacht haben.”
“Nur dass dessen Fingerabdrücke drauf sind”, unterbrach ihn der CIA-Agent.
“Na und?”, murrte Philip, “wenn ich Ihnen einen Brief schreibe, dass Sie in Wirklichkeit für den KGB arbeiten, ist das lediglich eine Unterstellung. Das müsste ich erst mal beweisen. Wie heißt es noch so schön? Im Zweifel für den Angeklagten!”
“Das hört sich alles langsam so an”, befand der Agent lauernd, “dass Sie McNamara decken, zumal die Sekretärinnen bestätigten, dass er mit Ihnen am vergangenen Montag und Dienstag einiges recht intensiv zu bereden hatte, weshalb er seinen Vorzimmerdamen eingeschärft hatte, ja niemand zu ihm ins Büro zu lassen.”
Es entstand eine Pause.
“Nun, ich höre?”, meinte der Agent schließlich.
“Es gibt aber nichts, was ich zu sagen hätte”, entgegnete Philip, “natürlich klingen ihre Argumente sehr einleuchtend. Auf der anderen Seite kann man auch sehr schnell falsche Schlüsse ziehen, wenn man nur ein Beweisstück hat. Das hat Thomas jedenfalls immer zu bedenken gegeben. Mit ein wenig Phantasie könnte man auch folgendes annehmen: Bei dem Mann, den die Kollegen in Venezuela verhaften wollten, handelt es sich gar nicht um Thomas McNamara, sondern um Harrison Ford. Wie wollen Sie das so schnell unterscheiden können? Mein Kollege sieht dem Schauspieler derart zum Verwechseln ähnlich, das haben sogar die völlig fremden Leute auf Ihrem Empfang am Montag bemerkt, Herr Bürgermeister. Aber natürlich war nicht Harrison Ford in Venezuela, sondern Dr. McNamara. Nicht dass Sie Ford jetzt aufsuchen und ihn womöglich noch beschuldigen, dass er und Thomas gemeinsame Sache machen, weil man die beiden ja so schlecht unterscheiden kann. Ich wollte Ihnen anhand dieses Beispiels lediglich demonstrieren, wie schnell man sich irren kann, wenn man voreingenommen ist.”
“Sehr richtig, es geht hier nicht um Harrison Ford, sondern um Dr. McNamara bzw. um Sie, Dr. Banks”, fuhr ihn der Agent an, “für wie blöd halten Sie mich eigentlich! Dr. McNamara war vormittags in einem Immobilienbüro, wo er sich nach einigen sehr teuren Objekten erkundigt hat, die für sein Budget einfach zu kostspielig waren. Der Makler hat ausgesagt, dass der Herr Richter nicht nur für sich, sondern auch für Bekannte Erkundigungen einziehen wollte. Den Brief mit der Einladung hat ein Bote zu Dr. McNamara ins Hotel gebracht. Ramírez war nämlich gerade in Cumaná. Und erzählen Sie mir nicht, dass das Zufall war, dass McNamara und Ramírez gerade gleichzeitig an einem Ort waren. Das sieht ziemlich eindeutig nach einem vereinbarten Treffen aus. Ferner waren Sie selbst bei dem Empfang zugegen, wo Ihr Kollege nur widerwillig mit dem Grund seiner Reise herausrücken wollte.”
“Und abgesehen davon”, fügte der Agent noch an, “ist allgemein bekannt, dass unser ziemlich zickiger Herr Richter sich mit Ihnen am besten verstand. Also seien Sie jetzt ein bisschen kooperativer.”
“Ja, Sie haben ja Recht”, meinte Philip seufzend, “es sieht alles sehr eindeutig aus. Aber ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen. Ich weiß auch nicht mehr.”
Puh, dachte Philip, auch wenn ich es ziemlich dreist von Thomas fand, dass Beweismaterial in einem Kundentresor zu verstauen und die Schlüssel bei Dritten zu deponieren, so bin ich jetzt richtig dankbar dafür. Allerdings kann ich nur hoffen, dass Martin und vor allem der Notar nicht die Nerven verlieren und womöglich noch zur Polizei gehen, weil sie die Ermittlungsarbeiten nicht behindern wollen.
“Okay, was soll’s”, murrte der Einsatzleiter verstimmt, “das hier führt doch zu nichts. Leider können wir Sie nicht verhaften, was ich liebend gern tun würde, denn wir haben keine Beweise gegen Sie in der Hand. Es ist ja kein Verbrechen, sich intensiv mit einem Kollegen zu unterhalten.”
“Allerdings sollten Sie noch mal ganz scharf nachdenken”, bemerkte der eine Agent verärgert, “ob Ihnen nicht doch noch was einfällt. Sie wissen schon, was ich meine, nicht wahr?”
Philip verzog den Mund, sagte aber nichts.
“Dann hoffentlich bald auf Wiedersehen”, befand der Einsatzleiter, “und natürlich sind Sie bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert. Schönen Abend noch, Herr Richter.”
“Arschlöcher”, zischte Philip ihnen hinterher, als die Tür ins Schloss gefallen war.
“Philip”, ließ sich nun seine Frau vernehmen, “warum haben die dich so auf dem Kieker? Du hast doch hoffentlich nichts Verdächtiges getan?!”
“Nein, habe ich nicht, Zoe”, versuchte er seine Frau zu beruhigen und erzählte ihr, was man ihm gerade vorgeworfen hatte.
“Martha tut mir leid”, befand Zoe, “bei der waren sie bestimmt schon. Hoffentlich denken sie nicht, dass sie Thomas’ Komplizin war, genauso wie Jeremiah.”
“Tja, hoffentlich ist das so”, gab Philip zurück, “obwohl es mich auch irgendwie amüsiert, wenn ich mir vorstelle, wie Thomas und Jeremiah auf der Flucht sind. Ich kann mir nämlich kaum vorstellen, dass die beiden Brüder es auch nur vierundzwanzig Stunden lang miteinander aushalten können, ohne sich gegenseitig zu zerfleischen. Aber Not lässt einen zusammenhalten. Wer weiß schon, wie Ramírez Thomas aufs Kreuz gelegt hat.”
Und hoffentlich kommt nicht Ramírez auf die Idee, mir bzw. uns einen kleinen Besuch abzustatten, unkte Philip, der Drogenbaron ahnt was, keine Ahnung, warum und woher. Aber er weiß nicht genug, deshalb hat er Thomas gelinkt und will ihn jetzt ganz geschickt einkassieren. Sonst hätte die Polizei Thomas doch nicht so schnell auf frischer Tat ertappt. Oh weh, das wird eine heiße Sache. Aber vielleicht habe ich noch die Hoffnung, dass Ramírez wirklich nichts von dem Beweismaterial weiß. Das bedeutet nämlich, dass wir hier in New York nicht so extrem in Gefahr sind. Wenn Ramírez seine Handlanger hierher schickt, um uns zu liquidieren, ist das nicht mehr logisch, dass Thomas sein Freund ist. Tja, da kann ich nur hoffen, dass Thomas von dem Kolumbianer nicht einkassiert wird, sonst können alle, die enger mit dem Herrn Richter zu tun hatten, sich bald die Radieschen von unten ansehen.
“Weißt du was?!”, meinte er dann zu seiner Frau, “wir sollten uns ein bisschen entspannen nach dem Schrecken.
Als er das sagte, sah er seine Frau scharf an. Die hatte verstanden.
Philip machte Musik an und drehte die Lautstärke ziemlich hoch. Dann setzte er sich mit Zoe aufs Sofa und turtelte mit ihr. Dabei biss er ihr zärtlich ins Ohrläppchen, um ihr dann aber vorsichtig zuzuflüstern: “Wenn sie schon denken, ich könnte mit drinhängen, wäre es möglich, dass sie unser Haus verwanzt haben. Und unser Telefon auch. Also, führ keine Gespräche mit Martha. Wir dürfen ferner auf keinen Fall mit ihr Kontakt aufnehmen, sonst bestätigt das noch die Vermutung der Ermittler, dass wir alle zusammenarbeiten. Es tut mir zwar leid, dass wir ihr unser Mitgefühl nicht aussprechen können, aber es ist besser für uns alle.”
“Okay, ich verstehe”, befand Zoe, “aber eine Frage habe ich noch. Meinst du, dass die Drogenbosse als nächstes bei uns auftauchen?”
“Nein, das denke ich nicht”, beruhigte Philip seine Frau, “es würde Ramírez’ Behauptung, dass er und Thomas Freunde waren und sehr vorsichtig agierten, abschwächen.”
“Hm, das tut gut zu wissen.”
Philip nahm sie in den Arm. Sie strich ihm über den Rücken und drückte ihn an sich. Philip spürte, wie ihn eine warme Welle durchströmte. Die Loyalität und Liebe seiner Frau taten ihm sehr gut. Wie gut, dass ich dich habe, Zoe.
In der Nacht konnte Philip nicht schlafen. Seine Frau hatte sich eine Schlaftablette genommen, aber er wollte das irgendwie nicht. Nachdem er sich stundenlang hin und her gewälzt hatte, stand er schließlich auf und zog sich T-Shirt und Jeanshose an. Anschließend ging er an den Kühlschrank, holte sich ein Bier und setzte sich auf die Veranda. Die Nacht war sehr mild und der Himmel sternenklar.
Thomas hat niemals ein Doppelleben geführt, dafür würde ich sogar meine Hand ins Feuer legen, dachte Philip, mal abgesehen von dem Beweismaterial, das er zusammengetragen hat. Ist schon eine paradoxe Sache mit der Gerechtigkeit. Ein Unschuldiger wird für Dinge verantwortlich gemacht, die er gar nicht begangen hat. Komischerweise werden es die meisten Leute aber trotzdem als gerecht empfinden, weil es gar nicht wichtig ist, ob er schuldig ist oder nicht. Denn schuldig ist Thomas schon, wenn auch nicht in Bezug auf die Gesetze unseres Landes. Aber er hat sich gegenüber den Menschen in seiner Umgebung schuldig gemacht, indem er sie verächtlich, beleidigend und unfair behandelt hat. Allerdings gibt es dafür keine Gesetze, die das ahnden können. Und nun muss Thomas sozusagen für Dinge büßen, die er nicht getan hat, weil er nicht für Dinge büßen kann, die er getan hat. Was für ein Paradoxon. Das verstehe, wer will.
Als die Ermittler am Freitagabend endlich verschwunden waren, fühlte sich Sophie elend. Sie ging auf ihr Zimmer und ließ sich erschöpft auf’s Bett fallen. In was war der Vater da nur hineingeraten! Sophie tat ihre Mutter leid. Die war völlig aufgelöst gewesen. Kein Wunder, die Ermittler hatten die Mutter ja fast wie eine Terroristin behandelt.
Als wenn Mama was dafür könnte, was Paps da angestellt hat, dachte Sophie. Ein bisschen zurückhaltender hätten diese Leute schon sein können.
Und zur absoluten Krönung hatte Justin noch angerufen und gemeint, dass es seinem Image schade, wenn sein Vater negativ in die Schlagzeilen geriete.
Die Mutter ist doch schon fertig genug gewesen, und da muss Justin auch noch mit seinen Imageproblemen kommen, ärgerte sich Sophie. Der hat Nerven. Sonst hat Papas Image ihm doch immer weitergeholfen. Der Sohnemann vom Herrn Dr. McNamara. Alle haben ihm auf die Schulter geklopft. Viele Türen haben sich für Justin leichter geöffnet, weil er der Sohn des berühmt berüchtigten Richters von New York ist. Und jetzt kommt er so daher.
Im Grunde ist er eine noch viel größere Ratte als sein Vater, dachte Sophie, wenn Paps denn wirklich schuldig ist. Wie gut, dass du jetzt außerhalb wohnst, Justin, und mich nicht zwei McNamaras mit ihrer Besserwisserei nerven. Deinen Vornamen hast du jedenfalls zu Unrecht. Von wegen der Gerechte. Ein Speichellecker bist du und ein Opportunist. Hängst dein Mäntelchen nach dem Wind.
Sophie hatte ihre Mutter danach erst mal getröstet und ihr gesagt, dass Justin es nicht so gemeint habe - obwohl Sophie ganz sicher war, dass er es so gemeint hatte - und dass der Bruder bestimmt auch ganz durcheinander sei. Das hatte Martha gut getan. Sie nahm sich anschließend etwas zur Beruhigung und meinte, sie wolle sich ein wenig ausruhen.
“Mach das”, meinte Sophie.
“Bist du auch in Ordnung, Kleines?!”, fragte Mutter.
“Klar”, erwiderte Sophie, “hinter mir ist der CIA ja nicht her.”
Martha lächelte, strich ihrer Tochter über den Kopf und legte sich ins Bett.
Nun war Sophie mit sich und ihren Gedanken allein. Am liebsten hätte sie Großtante Laetitia angerufen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass die Ermittler in einem unbeobachteten Moment Abhörgeräte ins Telefon eingebaut hatten.
Keine Lust, mein Innerstes dem CIA auf Band zu sprechen, dachte Sophie. Was für eine Woche! Am Montag einen total ungenießbaren Vater freundlicherweise über ein paar Sachen aufgeklärt, von denen er keine Ahnung hat und dafür Stubenarrest gekriegt - mit siebzehn! - und am Freitag steht der CIA vor der Tür und behauptet, mein Vater sei ein langjährig gesuchter Drogenhändler. Der ist doch nicht wegen Onkel Jeremiah da runter gefahren. Oh Papa, du hättest wirklich besser mal öfter ins Kino gehen sollen, dann wäre dir sofort klar geworden, dass es einen Sieg gegen die Drogenmafia nur im Film gibt. Und ich dachte schon, du würdest Onkel Jeremiah mitbringen. Oder ich dürfte ihn vielleicht mal besuchen, wenn ich achtzehn geworden bin. Aber so fährst du nach Venezuela, um dich mit den südamerikanischen Drogenkartellen anzulegen. Paps, du bist einfach nur ein absoluter Idiot!
Und sie war böse auf ihren Vater, weil er die Familie unvernünftigerweise in solch ein Chaos gestürzt hatte. Im nächsten Augenblick tat es Sophie aber schon wieder leid. Erstens stand in der Bibel, man solle Vater und Mutter ehren (Die Bibel, AT, 2. Mose 20, Vers 12 - Das sollte man aber nicht als Freifahrtschein sehen, um die Kinder zu unterdrücken und mit ihnen zu verfahren, wie man es gerade will. s. die Vergleichsstelle im NT, Brief des Apostels Paulus an die Epheser, Kap. 6, Verse 1 - 4.), was Sophie unendlich schwer fiel in Bezug auf ihren Vater.
Trotzdem, dachte sie, Strafe muss sein. Paps hat sich so oft unchristlich verhalten und anderen das Leben zur Hölle gemacht, irgendwann musste Gott ja mal der Kragen platzen. Auch wenn Gott alle Menschen lieb hat, duldet er nicht unbesehen unseren miesen Lebenswandel. Ist schon ein schwieriges Thema. Ich meine, wir machen doch alle Fehler. Gut zu wissen, dass Gott nicht auf Äußerlichkeiten guckt, sondern unsere Beweggründe kennt. Paps hatte bestimmt gute Beweggründe für diese Wahnsinnsaktion und hat es gut gemeint. Aber wie heißt es noch so schön: Gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Und wenn ich mir überlege, dass dieses Gebot, wo es darum geht, dass man Vater und Mutter ehren soll, einen sehr interessanten Nachsatz hat, kommt mir das fast wie Ironie vor, denn der Nachsatz ist eine Verheißung und lautet: ... dann wirst du lange in dem Land leben, dass ich, der Herr, dein Gott, dir gebe. Oh weh, das sieht im Moment gar nicht danach aus.
Sophie nahm ihre Bibel zur Hand und schlug eine Lieblingsstelle von ihr auf. Da ging es darum, dass Gott sogar die Beweggründe der Menschen kennt, wenn deren Gewissen sie anklagt, und dass er sie trotzdem nicht verurteilt (Die Bibel, NT, 1. Johannesbrief, Kap. 3, Verse 20 + 21: Doch auch, wenn unser Gewissen uns anklagt und schuldig spricht, dürfen wir darauf vertrauen, dass Gott größer ist als unser Gewissen. Er kennt uns ganz genau. Kann uns also unser Gewissen nicht mehr verurteilen, meine Lieben, dann dürfen wir voller Freude und Zuversicht zu Gott kommen.)
Wie gut, dass das da steht, dachte Sophie und klappte die Bibel mit einem Seufzer wieder zu. Gott weiß, dass ich eigentlich nichts gegen meinen Paps habe, aber dass er mich ohne Ende annervt. Vielleicht ist sogar Gott von ihm genervt. Aber zumindest ist Gott nicht so ein humorloser Knochen wie mein Vater. Apropos Humor, Cedric hat mir doch ein Buch geschenkt. Mit Cartoons. Der Titel lautet Gott ist... kleine Theologie für Katzen und andere Zeitgenossen. Woher weiß der eigentlich, dass ich vorhabe, Theologie zu studieren?
Sie stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Dort lag es. Der Einband sah schon verheißungsvoll aus. Irgendwie lustig. Eine kleine gelbe Katze, die einen Freudensprung machte, war auf dem Deckel zu sehen.
Ich wollte die ganze Zeit schon da reingucken, dachte sie, aber immer kam was dazwischen. Na, vielleicht heitert es mich jetzt ein bisschen auf.
Damit legte sie sich auf ihr Bett. Sophie war höchst erstaunt, dass das ganze Buch nur aus Cartoons bestand. Allerdings waren es geniale Cartoons. Besser und vielsagender als so manch eine Predigt.
Der hier passt gut auf Papas derzeitige Situation, dachte sie. Und dieser hier. Und der auch.
Sophie lachte sich schief. Die Bilder waren einfach zu gut.
Du bist schon ein Schatz, Cedric, dachte sie. Ich wünschte, du wärst auch schon mein Schatz. Aber wir wollen mal nichts überstürzen. Ich bin mal gespannt, wie Cedric auf die Sache mit Paps reagiert. Wenn er auf meiner Seite steht, taugt er was. Wenn nicht, kann man ihn vergessen. Ein Mann sollte der Frau, die er liebt, immer den Rücken stärken und sich vor sie stellen. Besonders dann, wenn’s brenzlig wird.
Sophie war so froh, dass die Cartoons sie aufmunterten. Das hatte sie jetzt dringend gebraucht. Und es waren nicht diese superchristlichen blöden Sprüche in einer Sprache, die man nur verstand, wenn man Historiker war oder eine Leidenschaft für Etymologie hatte. Diese Cartoons hier taten ihr im Moment richtig gut.
Das baut mich ja total auf, dachte sie. Aber der hier ist der beste... Gott ist nicht der allerletzte Notnagel. Wie oft sagen wir das: Jetzt hilft nur noch beten. Die Katze hat völlig Recht, wenn sie sagt: Warum hast du das nicht als erstes getan? Ja, warum eigentlich nicht?! Ob schon mal jemand auf die Idee gekommen ist, für Papa zu beten? Außer Tante Laetitia bestimmt keiner, und Mama war viel zu fertig. Vielleicht sollte ich mal für Paps beten. Und für Onkel Jeremiah. Ich habe nämlich das komische Gefühl, dass die beiden gemeinsam auf der Flucht sind. Hm, ich werde mir eine CD auflegen, das ist eine gute Einstimmung.
Sie kramte in ihren CDs und fand schließlich eine, die sie für geeignet hielt.
“Die ist gut”, murmelte sie vor sich hin, “‘My utmost for His highest’. Ruhige Anbetungslieder. Sehr schöne Texte. Und sehr schöne Musik. Hab ich außerdem schon länger nicht gehört und passt zu der Situation.”
Sophie schloss ihre Zimmertür zu, um nicht gestört zu werden, legte die CD auf und zündete eine Kerze an.
Dann kann ich mich besser konzentrieren, wenn ich auf die Kerzenflamme gucke, dachte sie.
Zuerst saß sie einfach nur so da, während die Musik spielte. Irgendwie kam wieder alles in ihr hoch, was sich an diesem Tag ereignet hatte. Dann aber wurde sie etwas ruhiger. Schließlich stand sie auf, kniete sich in der Mitte ihres Zimmers auf den Boden und breitete die Arme aus. Sophie kniete sich normalerweise nie zum Beten hin, aber heute war es ihr ein Bedürfnis. Sie versprach sich davon nicht eine größere Wirksamkeit ihres Gebets, es war ihr einfach wichtig. Irgendwie. Sie wusste nicht genau, warum. Das mit den ausgebreiteten Händen hatte sie einmal in Cedrics Gemeinde gesehen. Es gefiel ihr gut. Eine schöne Haltung. Nicht so in sich zusammengekauert, sondern wie ein Kind, das in Erwartungshaltung ist.
Und ich erwarte etwas von dir, Vater im Himmel, dachte sie. Nicht dass du verpflichtet wärst, etwas für uns zu tun, aber du hast uns lieb, und deshalb bin ich sicher, dass du uns helfen möchtest. Keine Ahnung, warum alles so gekommen ist, aber es wird sicher irgendeinen Sinn haben.
“Vater im Himmel”, begann sie im Stillen, “du hast dieses ganze Chaos heute gesehen. Du weißt auch, dass ich oft Streit mit meinem Paps hatte und dass ich ihn nicht besonders gut leiden kann, weil er so ein Besserwisser ist und immer alles kontrollieren muss. Aber jetzt ist er in echten Schwierigkeiten. Deshalb bitte ich dich, dass du ihm hilfst. Und Onkel Jeremiah auch, wenn er bei ihm ist. Und bitte gib, dass die beiden sich vertragen. Ich meine, es wäre doch wunderbar, wenn sich die beiden überhaupt wieder vertragen würden. Vielleicht hast du ja auch alles so kommen lassen, damit sich die beiden wieder vertragen. Und um Paps eine Lehre zu erteilen, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Er ist kein schlechter Mensch, aber er ist einfach unerträglich. Und ich finde es nicht okay, dass einer, der sich Christ nennt, so lange mit seinem Bruder in Streit lebt. Das ist nicht in Ordnung. Bitte mach da was dran, Vater im Himmel, weil keiner von uns was dran machen kann. Aber du. Und hilf auch Mama, mit der Situation fertig zu werden. Und auch mir. Ich meine, Papa ist zwar nicht da, aber erträglicher wird es dadurch nicht. Es war einfach fürchterlich... der CIA, die Presse und dann noch Justin. Und ich habe auch ein bisschen Schiss, wenn ich am Montag wieder ins College gehe. Die werden mich bestimmt schief von der Seite angucken. Hoffentlich ist Cedric auf meiner Seite. Vater im Himmel, du weißt, dass ich ganz schön verliebt bin in Cedric. Es wäre genial, wenn es was mit uns geben würde. Aber auch darin möchte ich dir vertrauen, dass du alles gut machen wirst. Amen.”
Als Sophie geendet hatte, fühlte sie sich wohler.
Das war eine gute Idee, die ganze Sache vor Gott zu bringen, dachte sie. Jetzt ist er am Zug. Mal sehen, was er daraus macht.