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Kapitel 12

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Ohne Chris aufzuwecken, schleiche ich mich aus dem Schlafzimmer und begebe mich nach draußen. Wie fast jeden Morgen, seitdem meine Macht aktiviert wurde, stelle ich mich mit den Füßen im Gras auf und verbinde mich mit den Elementen. Ich rufe sie nicht an, weil ich etwas von ihnen will, sondern muss es einfach tun, so wie man atmen, trinken, essen und schlafen muss. Es gehört einfach zu meinem allmorgendlichem Ritual dazu.

Queenie sitzt in einer der hohen Kiefern vor dem Haus und blickt neugierig zu mir herunter. Gedanklich schicke ich ihr einen Gruß und wie zur Erwiderung umkreist sie dreimal spiralförmig den dicken Stamm.

Sobald ich fertig bin und mein Verlangen nach der Natur für den Moment gestillt ist, gehe ich zurück ins Haus, stelle die Kaffeemaschine an und verschwinde im Büro. In dem Bücherregal, welches die gesamte hintere Wand des Raumes einnimmt, suche ich nach einem Atlas und werde kurz darauf auch fündig. Ich klemme ihn mir unter den Arm und kehre in die Küche zurück, wo ich mich mit meinem Kaffee und dem Buch an die Kücheninsel setze. Nach kurzem Durchblättern habe ich eine Weltkarte gefunden und blicke gedankenverloren darauf.

So viele Orte, an denen das Schloss des schwarzen Königs sein könnte. Ich kann den Ortungszauber auf das Schloss nur anwenden, weil ich schon einmal drin war. Hätte mein Vater das geahnt, hätte er mich sicherlich nicht zu sich eingeladen. Zwar kann ich ihn selbst nicht orten, da ich nichts von ihm persönlich habe, aber bei seinem Schloss wird es klappen, das weiß ich jetzt.

Vielleicht ist er auch schon längst über alle Berge, hat sich ein neues Zuhause herbeigezaubert und Mario und die restlichen Gefangenen zurückgelassen. Oder aber er hat alles mitgenommen und ich riskiere unser aller Leben bei der Suche nach einem leeren verlassenen Schloss! Womöglich ahnt mein Vater bereits, was ich vorhabe und stellt uns eine Falle!

So furchtbar das auch wäre, ich werde es nicht herausfinden, wenn ich nicht endlich etwas unternehme! Mario und all die gefangenen Geistwesen warten schon viel zu lange darauf, dass ihre weiße Königin sich endlich in Bewegung setzt und sie befreit!

Ich kippe meinen Kaffee hinunter und gehe erneut nach draußen, wo ich das tue, was ich in den Büchern aus Robertas Bibliothek gelernt habe. Ein weiteres Mal stelle ich mich barfuß ins feuchte Gras, schließe die Augen und rufe das Element Erde an. Schon bald vernehme ich ein Knacken und Krachen unter meinen Füßen. Es fühlt sich fast wie ein kleines Erdbeben an und je mehr ich mich konzentriere, umso stärker wird es.

Ich bitte die Erde um einen ungeschliffenen rohen Rubin, der weit unter meinen Füßen in den tiefen Gesteinsschichten der Erde verborgen liegt. In meinem Kopf lasse ich das Bild eines tropfenförmigen blutroten Steines entstehen, der sich seinen Weg durch die Erdschichten bahnt und zu mir emporkriecht.

Das Beben wird stärker und mit ein wenig Bedenken öffne ich die Augen. Die Bäume um mich herum zittern von der Vibration, doch ich habe keine andere Wahl: Ich brauche diesen Rubin, um das dunkle Schloss zu orten.

Kurz bevor ich mein Vorhaben abbrechen möchte, da ich mir Sorgen um die Substanz von Chris´ Haus mache, spaltet sich die Erde zwischen meinen Füßen und das Beben erstirbt. Vor mir liegt ein länglicher dunkelroter Stein, so groß wie mein kleiner Finger. Erstaunt über das Gelingen meines Zaubers bücke ich mich und hebe ihn auf. Er liegt schwer und beinahe heiß in meiner Hand. In ihm funkelt rötliches Feuer, das einen pinken Schatten auf meine Handfläche wirft. Siegessicher schließe ich die Finger um den noch warmen Kristall und bedanke mich bei dem Element Erde, bevor ich zurück ins Haus gehe.

„Scarlett!“, höre ich Chris rufen, sobald ich die Haustür öffne. Er klingt ein wenig erschrocken, beinahe panisch.

„Ich bin hier unten!“

„Ist alles in Ordnung?“, fragt er, als er nur mit einer Boxershorts bekleidet die Treppe hinunterspringt. „Es gab ein Erdbeben!“

Ich kann mir ein stolzes Grinsen nicht verkneifen, als ich den Rubin zwischen meinen Fingern hochhalte. „Das war kein Erdbeben, das war ich!“

Chris streicht sich mit der Hand durch sein vom Schlaf zerzaustes Haar und kommt auf mich zu, ohne den Blick von dem Kristall zu nehmen. „Wie meinst du das?“

Ich reiche ihm den noch warmen Rubin und er nimmt ihn mir neugierig ab. „Für den Ortungszauber brauche ich einen rohen Rubin in der Form eines Tropfens. Er muss unbearbeitet, frisch und von der Hexe selbst herbeigezaubert worden sein.“

Chris dreht den Stein in seinen Händen und hält ihn dann gegen das Licht. „Und dafür musstest du ein Erdbeben auslösen?“

„Dass die Erde so stark rumpelt, hatte ich nicht geahnt. Aber nun habe ich wenigstens, was ich brauche.“

„Ich dachte, du brauchst DNA für einen Ortungszauber?“, hakt Chris nach.

Ich nicke und stemme kokett die Hände in die Hüfte. „Wenn ich nach einem königlichen Hexenblut suche, brauche ich ihre DNA, das ist richtig. Aber nicht, wenn ich nach einem Gebäude suche, in dem ich schon einmal war. Dafür braucht man einen Rubin.“

Mit einem schiefen Grinsen drückt Chris mir den Stein zurück in die Hand. „Nicht schlecht. Und was jetzt?“

Aufgeregt sauge ich bei dem Gedanken an den bevorstehenden Zauber die Luft ein. „Jetzt kann ich den Ortungszauber ausführen“, sage ich und merke, wie mein Herz vor Anspannung heftig zu klopfen beginnt. Obwohl ich gerade eben noch so stolz auf mein neugewonnenes Wissen war, kriecht jetzt die Angst an mir empor und droht mir die Luft abzuschnüren.

Es hängt so vieles daran, dass der Zauber funktioniert. Geht er schief, werden wir nicht erfahren, wo das Schloss ist, können Mario und die Geistwesen nicht befreien, erfahren nicht, ob mein Vater noch lebt und Roberta meine Mutter erwecken kann, und können Bianca nicht beweisen, dass Arturo freiwillig in der Wildnis zurückgeblieben ist. Vielleicht hatte Chris recht, Erfahrung bekommt man nicht aus Büchern.

Chris bemerkt meine aufgewühlte Verfassung, so sehr ich es auch vor ihm zu verbergen versuche. Er nimmt mich in den Arm und streicht beruhigend über meinen Rücken. „Wann willst du den Zauber anwenden?“, fragt er und wickelt sich eine von meinen weißen Haarsträhnen um seinen Finger.

„Am liebsten jetzt. Dann habe ich es hinter mir und weiß, woran ich bin.“

Chris nickt und streichelt sanft meine Wange. „Es wird sicherlich funktionieren“, ermutigt er mich. „Schließlich bist du die mächtigste weiße Hexe der Welt! Du kannst Urdämonen töten und deinen Gefährten mit morgendlichen Erdbeben wecken.“

Wir beide lachen und gehen Arm in Arm in die Küche. Sobald ich mich vor den aufgeschlagenen Atlas gesetzt habe, beginnt der Rubin in meiner Hand zu vibrieren. Chris und ich sehen gebannt auf den Kristall, als er sich auf meiner Handfläche zu drehen beginnt. Panisch, dass er mir herunterfallen und auf den Fliesen in Stücke zerbrechen könnte, schließe ich meine Hand wieder. Der Kristall ist so stark, dass er nur durch meine volle Konzentration wieder zur Ruhe gebracht werden kann.

Ein zitternder Seufzer durchfährt mich und ich stelle mich hin. „Ich mache es jetzt“, warne ich Chris vor und er nickt, wobei er einen Schritt zurückgeht.

Ich falte die Hände, halte den Rubin fest dazwischen und schließe die Augen. Gedanklich visualisiere ich das Schloss meines Vaters, denke an den blutigen Graben, die Brücke aus verzerrten Schädeln und die silbernen Birken mit den schwarzen Blättern. Die dunklen Mauern, die Bilder der Dämonen an den Wänden, die schwarze Einrichtung und die dunkle Marmortreppe. Je mehr ich mir die Einzelheiten des Schlosses ins Gedächtnis rufe, umso wärmer wird der Kristall. Ich weiß, dass ich so lange an das gesuchte Objekt denken muss, bis die Temperatur beinahe unerträglich wird, erst dann kann ich ihn auf der aufgeschlagenen Weltkarte absetzen. Deswegen denke ich an mein Zimmer im Schloss, vor und nach meinem Zauber, an den Fahrstuhl, den Kerker, die an Ketten hängenden Käfige über der Lavagrube und die langen, endlos wirkenden Räume voll mit Gefängnissen, Kisten und Zellen.

Der Rubin in meinen Händen wird unerträglich heiß und ich muss mich zusammenreißen, ihn nicht wie eine heiße Kartoffel wegzuschmeißen. Stattdessen setze ich ihn schnell aber dennoch bedacht auf der Weltkarte ab, wo er sich wild zu drehen beginnt.

Chris kommt näher, stemmt die Hände auf die Tischplatte und verfolgt mit mir gespannt die Drehung des Kristalls. Mit zischendem Geräusch huscht er über die Seite, saust hoch in Richtung Asien, nach Russland, Sibirien und sengt seine Spitze auf einen Fleck am äußeren rechten Rand davon. Nachdem er ein kleines Brandloch auf der Seite hinterlassen hat, rutscht er vom Atlas und bohrt seine Spitze erneut zwischen die Seiten. So schlägt er eine gesonderte Karte von Sibirien und der Umgebung auf, wo er erneut kreist und ein weiteres Brandloch in der Nähe der eingezeichneten Stadt Oimjakon hinterlässt. Eine winzige schwarze Rauchwolke zieht über die Seite und der Kristall rollt leblos vom Buch.

Chris und ich stoßen beinahe mit den Köpfen zusammen, als wir den Brandfleck genauer betrachten wollen. Er liegt schräg unter diesem Ort mit dem schwierigen Namen Oimjakon, im fernen Osten Russlands.

„Oimjakon!“, sagt Chris und zieht die Augenbrauen hoch. „War ja klar! Warum sollte es auch anders sein?“

„Wie meinst du das?“, hake ich ahnungslos nach.

„Oimjakon! Das ist der kälteste Ort der Welt! Natürlich musste er sich an einem Ort niederlassen, wo es zuweilen bis zu minus siebzig Grad kalt ist!“

Scarlett Taylor

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